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4.2 Grundzüge einer modernen Erlebnispädagogik

4.2.7 Aktion und Reflexion in unterschiedlichen Lernmodellen

Während Kurt Hahn in seiner Erlebnistherapie davon ausging, dass das Erlebnis an sich wirkt, wird heute ein dynamisches Gleichgewicht zwischen dem Eindruck als subjektive Verarbei-tung des äußeren Reizes auf der einen Seite und dem Ausdruck des Erlebten in Form von Re-flexionen angestrebt (vgl. Abbildung 12 auf S.124). Heckmair & Michl sprechen dabei von der erlebnispädagogischen Waagschale (vgl. 2008; S. 114, auch Michl 2009, S. 9). Neigt sich die Waage zu sehr in Richtung Aktivität und Erleben als Eindruck des Erlebten, werden also Reflexionsprozesse vernachlässigt oder wird ganz darauf verzichtet, handelt es sich eher um Freizeitangebote, wie sie z.B. in Form von Klettergärten oder Erlebnisparks zunehmend zu finden sind. Neigt sich die Waagschale stark in Richtung Ausdruck des Erlebten, werden also reflexive Prozesse fokussiert, geraten wir in den Bereich der Introspektion, welcher häufig im psychotherapeutischen Bereich angesiedelt ist.

Abbildung 12: Die erlebnispädagogische Waagschale

Die Aufgaben von Pädagoginnen und Pädagogen im erlebnispädagogischen Prozess sind klar umrissen. Sie unterstützen und begleiten den Lernprozess, indem sie einerseits zu einer ver-tieften Verarbeitung anregen, wobei für den Ausdruck des Erlebten in Form verbaler oder nonverbaler Reflexionen Zeit und Raum gegeben wird. Dies wird durch Reflexionsimpulse in Form nicht wertender Widerspiegelungen von Beobachtungen angeregt und thematisch struk-turiert. „Erlebnispädagogik tariert also das Gleichgewicht von Eindruck und Ausdruck aus"

(Heckmaier & Michl 2008, S. 114).

Der Stellenwert der Reflexion innerhalb des Erkenntnisprozesses wurde bereits in Ka-pitel 3 unter Bezugnahme auf die Grundpostulate einer systemisch-konstruktivistischen Di-daktik theoretisch fundiert (vgl. S. 73ff.). Neben der Aktion, die zu konkreten Erfahrungen führt, ist dieser Aspekt nach Ansicht der Autorin maßgeblich dafür verantwortlich, die ge-machten Erfahrungen auch für zukünftige Handlungen nutzbar zu machen. Die im erlebnispä-dagogischen Kontext zugrunde gelegten Annahmen zur Rolle von Reflexion und Transfer verliefen nicht geradlinig. Historisch gesehen, kann man von vier unterschiedlichen Modellen ausgehen, innerhalb derer die Reflexion sehr different betrachtet wurde.

Im historisch gesehen ersten Wirkmodell der Erlebnispädagogik, „The Mountains speak for themselves“, ging man davon aus, dass das Erlebnis an sich wirkt und nicht über eine von außen angeleitete Bearbeitung vertieft werden muss. Der Transfer der gemachten Erfahrungen in den Lebensalltag wurde als automatisch gegeben angenommen. Eine Weiter-entwicklung stellt das Modell „Outward-Bound-Plus“ dar, in welchem die Reflexion als ein entscheidender Bestandteil des Lern- und Transferprozesses angesehen wird. Nach der Aktion wird das Erlebte in der Reflexion kognitiv verarbeitet, indem es bewusst gemacht wird und der Bezug zum Alltag herausgearbeitet wird. Bei diesem Modell muss kritisch angemerkt werden, dass durch die Überbetonung der Reflexion die Aktion als Mittel zum Zweck in den Hintergrund rückt und das eigentliche Erleben stark instrumentalisiert wird.

Im „metaphorischen Modell“, welches Bacon Anfang der 80er Jahre erstmals publi-zierte, wird der Akzent wiederum auf die Aktion und die dabei ablaufenden Prozesse gelegt.

Unter Metapher wird hier eine Anekdote, Geschichte oder ein Erfahrungsschatz verstanden,

„der irgendwie eine Situation im wirklichen Leben klären half“ (Bacon 1998, S. 26). Im er-lebnispädagogischen Kontext müssen demnach Situationen geschaffen werden, die eine mög-lichst hohe Strukturgleichheit (Isomorphie) zu Alltagssituationen aufweisen. Bacon integriert tiefenpsychologische Einflüsse und will Lernerfolge durch isomorphe Strukturen und Erfolgs-erlebnisse bei der Meisterung von Aufgaben schaffen, wobei er auf archetypische Situationen zurückgreift. Bacon setzt darauf, dass auf der Ebene des kollektiven Unterbewussten in der

Tiefenschicht Prozesse ausgelöst werden (vgl. Michl 2009, S. 71). Das metaphorische Modell wurde von Priest & Gass modifiziert und weiterentwickelt und damit verändert und vertieft.

Auch hier wird der Schwerpunkt darauf gelegt, dass die erlebnispädagogische Anforderungs-situation möglichst genau der beruflichen, schulischen oder privaten Situation der Teilnehme-rinnen und Teilnehmer entspricht und gleichzeitig ein neues Verhalten zur Problemlösung notwendig wird. Wenn es beispielsweise darum geht, Ablösungsprozesse, verbunden mit dem Einlassen auf neue, ungewohnte Situationen zu thematisieren, böte sich die schwingende Holzbrücke im Hochseilgarten an, auf der balanciert werden soll. In ca. zehn Meter Höhe muss eine sichere Plattform verlassen werden, um auf beweglichen Holzbohlen die nächste Plattform zu erreichen. Meist ist der erste Schritt ins Ungewisse der schwerste und man begibt sich auf einen unsicheren Weg, bei dem ein neues Verhalten angewandt werden muss, um ihn zu meistern. Durch die Strukturähnlichkeit können die Teilnehmerinnen und Teilnehmer das Erlebte mit Alltagssituationen vergleichen und die gewonnenen Erfahrungen somit im Alltag nutzbar machen. Lernen vollzieht sich hierbei sowohl auf der kognitiven (Erkennen der Iso-morphie), als auch auf der emotionalen (Überwinden von neuen, eventuell angstbesetzten Situationen) und der physischen Ebene (Überwinden eines „Hindernisses“ durch körperliche Aktivität).

Eine angeleitete Reflexion wird nach diesem Modell überflüssig. Es unterscheidet sich vom Modell „The Mountains speak for themselves“ lediglich dadurch, dass die individuellen Bedürfnislagen der Adressatinnen und Adressaten bei der Planung und Durchführung erleb-nispädagogischer Aktionen berücksichtigt werden. Besonders kritisch muss die minutiöse Planung des Lernprozesses bewertet werden, bei dem nichts dem Zufall überlassen bleiben darf. Die Prozessbegleitung seitens der Anleiterinnen und Anleiter bedeutet hier, den Prozess so zu beeinflussen, dass die vorab geplanten Ziele eingehalten werden. Für Eigenkonstruktio-nen der Teilnehmenden bleibt hierbei kaum Raum, alles ist von außen vorkonstruiert und soll in der geplanten Art und Weise nacherlebt werden. Diese mechanistische Wirksamkeitsan-nahme ist mit konstruktivistischen Auffassungen, die die Selbstorganisation des Lernens in den Mittelpunkt rückt, wenig vereinbar.

Johann Hovelnyck (1999), der oben schon bezüglich der Formulierung von Lernzielen zitiert wurde, rückte folgerichtig die Metaphern der Teilnehmenden in den Mittelpunkt. Wäh-rend in den bisher dargelegten Modellen die Betonung darauf lag, wie Erlebnispädagoginnen und Erlebnispädagogen Lernprozesse metaphorisch anleiten, betrachtet Hovelnyck die Meta-pher eher als „Denkfigur“ (S. 192) der Schülerinnen und Schüler. Damit stellt er die Schüle-rinnen und Schüler als Subjekte des Lernprozesses, die eigene Metaphern entwickeln, in den

Mittelpunkt der Betrachtung. Nicht die vorab geplanten Metaphern der Kursleiterinnen und Kursleiter werden als zentral angesehen, sondern die Metaphern der Teilnehmenden führen zum Lernerfolg. Damit kann „das Erfahrungslernen als ein Prozess angesehen werden, in dem eine Veränderung der Metaphern stattfindet“ (S. 193). Die Aufgabe von Pädagoginnen und Pädagogen besteht nun darin, die Entwicklung von Metaphern zu unterstützen, die neue Handlungsmöglichkeiten begünstigen. Dabei steht nicht der Inhalt der Metapher, sondern der Prozess ihrer Veränderung im Mittelpunkt. Diese Auffassung von Metaphern als „Denkfigu-ren“ korrespondiert stark mit dem Begriff der subjektiven Theorien als innere Repräsentatio-nen des Lerngegenstandes, welche z.B.: Schuck und Schlee im Kontext der Sonderpädagogik verwenden (vgl. S. 73ff. in dieser Arbeit), und erscheint dadurch besonders anschlussfähig an moderne Erkenntnisse der Lehr-Lernforschung. Ohne sich das Vorwegnehmen der Metaphern von Menschen mit geistiger Behinderung anzumaßen und damit wieder einer mechanistischen Sichtweise zu verfallen, könnte erlebnispädagogische Arbeit demzufolge bedeuten, bisherige Erfahrungen von Passivität in Richtung Aktivität, von Nicht-Können in Richtung Können, von Resignation in Richtung Nutzen gemeinsamer Kräfte zu verändern.

Die von außen gesetzten Impulse zur Reflexion werden in diesem Modell keineswegs überflüssig, sondern unterstützen den Lernprozess zusätzlich, indem die Kursleitung diese ernst nimmt, sie er- und hinterfragt und sie als Arbeitswerkzeug reflexiv einsetzt. Die im vo-rigen Modell so hoch eingeschätzte Bedeutung der Isomorphie tritt hier zugunsten einer grö-ßeren Prozessoffenheit in den Köpfen der Leitung in den Hintergrund. Der Anspruch an die Kursleitung steigt, denn sie hat nun „situativ, individuell und prozessorientiert zu reagieren und zu arbeiten“ (Michl 2009, S. 7). Neben den fachsportlichen Kompetenzen ist hierfür ein reichhaltiges methodisches Repertoire zur Anregung reflexiver Prozesse notwendig. In die-sem Modell sind Handeln, Nachdenken und Metaphern eine Einheit. Die Reflexion ist dabei nicht die alleinige Voraussetzung für die Übertragung der gemachten Erfahrungen in den All-tag, kann diese jedoch prozessual unterstützen. Der Wert des Erlebens bleibt zentral und wird durch eigene Konstruktionen im Sinne handlungsleitender Erkenntnisse reflexiv verarbeitet.

Gegenüber den bisher dargestellten Modellen erscheint dieses Modell am anschlussfä-higsten an konstruktivistische und systemische Ansätze. Die dargestellten Leitlinien Offen-heit, Prozessorientierung und Wachstum können nach Ansicht der Autorin nur innerhalb eines solchen Bezugsrahmens konsequent umgesetzt werden. Es erscheint jedoch notwendig, die Auffassung zur Reflexion weiter zu präzisieren. Interessant ist dabei die Frage, was genau unter Reflexion innerhalb dieses Modells zu verstehen sein könnte und welche konzeptuellen Auswirkungen dies auf die Gestaltung erlebnispädagogischer Lernsituationen hat.

Lakemann (2004) geht diesen Fragen aus einer konsequent systemischen Perspektive nach. Für ihn ist Reflexion zunächst Selbstbeobachtung. Neben der Modifizierung der Rah-menbedingungen in Form einer herausfordernden Aufgabe für die Gruppe wird auch die Re-flexion als Element einer kontextuellen Steuerung innerhalb des erlebnispädagogischen Pro-zesses aufgefasst. Unter Bezugnahme auf Luhmann bezeichnet er reflexive Prozesse als Re-entry: „Dabei wird die Differenz zwischen System und Umwelt in das System als eine spezi-fische Form der Beobachtung, nämlich eine Beobachtung zweiter Ordnung integriert“ (a.a.O., S. 57). Die Beobachtungen zweiter Ordnung als Fremdbeobachtung durch die nicht in die Aufgabenlösung involvierten Anleiterinnen und Anleiter kann der Gruppe oder dem Indivi-duum entweder direkt angeboten werden, oder durch gezielte Impulse deren Eigenbeobach-tung in Bezug auf bestimmte Phänomene erfragt werden. BeobachEigenbeobach-tungen als Selbstbeschrei-bungen der verschiedenen Systeme aufeinander zu beziehen oder deren Parallelen herauszu-arbeiten bleibt jedoch auch hier in der Verantwortung der Gruppe oder der Person.

Als problematisch erachtet Lakemann (2004) die Tatsache, dass diese Beobachtungen

„immer durch die selektive Ein- und Ausblendung von Informationen sowie systemspezifi-sche Interpretationen geprägt ist“ (S. 58). Deren Rekursivität könnte dazu führen, dass das System stets nur die Erkenntnisse hervorbringt, die zu vorangegangenen Erkenntnisprozessen passen. Die zirkuläre Kommunikationsstruktur zwischen Pädagoginnen und Pädagogen und Teilnehmerinnen und Teilnehmern birgt die Gefahr einer zu großen Harmonisierung, bei der bestehende Kommunikationsstrukturen und etablierte Rollenmuster weiter verfestigt werden.

An dieser Stelle wird deutlich, dass Prozessorientierung von Pädagoginnen und Pädagogen beinhaltet, dass „durch kontextuelle Steuerung auch für eine Gruppe oder ein Team unpassen-de und damit unbequeme Lernprozesse initiiert“ (a.a.O.) werunpassen-den müssen, um eingefahrene Gruppenprozesse produktiv zu verstören.

Die Ausführungen von Lakemann machen die Bedeutung von kommunikativen Kom-petenzen und von KomKom-petenzen zur Selbstreflexion bei Pädagoginnen und Pädagogen deut-lich. Die kritische Reflexion und die Revision eigener, etablierter Wahrnehmungsmuster er-fordert hierbei eine stetige Selbstaufmerksamkeit der Pädagoginnen und Pädagogen in Bezug auf die Bewertung und das Einbringen eigener Beobachtungen. Lakemann beschreibt die nö-tige Prozessoffenheit und -aufmerksamkeit eindrucksvoll, indem er zusammenfasst: „Gruppe, Situation und Ziel […] immer wieder als einzigartig zu betrachten, darin liegt die Kunst“

(a.a.O., S. 59).

4.2.8 Zum Stellenwert der Gruppe im erlebnispädagogischen Kontext