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3.2 Soziale Kompetenz

3.2.4 Ausgewählte Theorien zur Entwicklung sozialer Kompetenzen

Es existieren verschiedene, historisch gewachsene Theoriestränge, die einen Beitrag dazu leisten, die Entwicklung sozialer Kompetenzen zu erklären. Dabei ist es nicht möglich, von einer allgemeinen Theorie sozialer Kompetenzentwicklung zu sprechen. Die verschiedenen psychologischen Theorien sind jeweils vor dem Hintergrund ihrer spezifischen Menschen-bildannahmen und Vorstellungen vom Werden des Menschen zu verstehen. Im Folgenden werden aus der Fülle der Theorien zur menschlichen Entwicklung die für diese Arbeit rele-vanten Theorien skizziert.

3.2.4.1 Die Individualpsychologie Alfred Adlers

Die Individualpsychologie Alfred Adlers ist neben der Psychoanalyse, welche von Sigmund Freud begründet wurde, und der Analytischen Psychologie C.G. Jungs die dritte tiefenpsycho-logische Schulrichtung. Alle genannten Richtungen gehen von der Annahme aus, dass dem bewussten Erleben und Verhalten Prozesse der Triebregulation und Konfliktverarbeitung zugrunde liegen, die in der Tiefe des Unbewussten ablaufen. Triebe und motivationale Pro-zesse werden dabei als die Kräfte angesehen, die das menschliche Seelenleben mit spezifi-schen Energien ausstatten. Bei Freud war der Sexualtrieb von wesentlicher Bedeutung. Jung

und Adler sprachen sich gegen diese einseitige Betonung aus und entwickelten eigene, z.T.

konträre Ansichten.

Während die Analytische Psychologie Jungs heute eher einen randständigen Platz ein-nimmt, hat die Individualpsychologie Adlers aktuell nicht an Bedeutung verloren und auch innerhalb der Sonderpädagogik einige bedeutsame Beiträge hervorgebracht (vgl. Ahrbeck 2000a). Innerhalb seiner Theorie setzt er sich explizit mit der Interdependenz von individuel-lem Machtstreben und dem Bedürfnis nach Zugehörigkeit als sozial veranlagtem Gemein-schaftsgefühl auseinander. Schon hier wird deutlich, dass es Parallelen zur Auffassung von sozialer Kompetenz als Balance zwischen der Durchsetzung individueller Interessen (Kompe-tenzen zur Selbstbehauptung) und der Integration in die Gemeinschaft (Kompe(Kompe-tenzen zur so-zialen Anpassung) innerhalb dieser Arbeit gibt.

Adler geht davon aus, dass der Mensch als soziales Wesen, welches in ständiger Be-zogenheit zu seinen Mitmenschen lebt, von den gegebenen Umwelteinflüssen maßgeblich geprägt wird. Mit dem Begriff „Individualpsychologie“ bezieht er sich auf das unteilbare Ganze eines Menschen. Damit soll nicht der Gegensatz zu einer Sozialpsychologie betont werden, „der einzelne wird nicht der Gesamtheit gegenübergestellt“ (Dreikurs-Ferguson 2006, S. 13). Vielmehr betont Adler damit die wechselseitige Abhängigkeit des Individuums von der Gesellschaft und stellt in Abgrenzung zur Lehre Freuds, der von der Aufspaltung der Per-sönlichkeit ausging, die Ganzheit des Menschen in den Vordergrund. Diese Ganzheit manifes-tiert sich im persönlichen „Lebensstil“, welcher eine Grundausrichtung über die ganze Le-bensspanne hinweg darstellt. In den „Lebensstil“ fließen Vorstellungen davon ein, wie der Mensch zu sich selbst und zu seinen Mitmenschen steht und welche Ziele er sich setzt. Die selbst gesetzten Ziele bestimmen dabei maßgeblich die Richtung des Handelns. Mit der Fina-lität menschlichen Handelns erkennt Adler eine eigene Entscheidungs- und Wahlmöglichkeit des Individuums an und betont damit den Gedanken der Selbstbestimmung. Außerdem eröff-net er damit die Perspektive der Veränderung, indem an Zielen und Absichten für die Zukunft gearbeitet werden kann und diese grundsätzlich veränderbar erscheinen. (vgl. Dreikurs-Ferguson 2006, S. 13ff.)

Neben der Ganzheit der Persönlichkeit und der Zielgerichtetheit menschlichen Han-delns stellt Adler als drittes Grundprinzip das Streben nach Gemeinschaft heraus und prägt damit den Begriff des Gemeinschaftsgefühls, welches als soziale Anlage die Richtung einer gesunden Entwicklung weist und das Erleben von Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe beinhaltet (vgl. Ahrbeck 2000b). Dem Gemeinschaftsgefühl setzt er die Annahme eines basa-len Minderwertigkeitsgefühls entgegen. Anfangs ging Adler davon aus, dass der Mensch,

welcher als Mängelwesen geboren wird, aufgrund seines unreifen Organismus in gewissem Maße von Geburt an als minderwertig zu bezeichnen ist: „Bedenkt man, dass eigentlich jedes Kind dem Leben gegenüber minderwertig ist und ohne ein erhebliches Maß an Gemein-schaftsgefühl der ihm nahestehenden Menschen gar nicht bestehen könnte, […] dann muß man annehmen, daß am Beginn jedes seelischen Lebens ein mehr oder weniger tiefes Min-derwertigkeitsgefühl steht“ (Adler 1927, 2008, Auslassung T. K., Hervorhebung im Original).

Das Erleben von Minderwertigkeit und das daraus resultierende Streben nach Kom-pensation werden als konstituierendes Element der psychischen Entwicklung angesehen. Es kommt zu einer Grundspannung zwischen Minderwertigkeit und Gemeinschaftsgefühl, wobei der oben angesprochene Lebensstil als dynamisches Gebilde als „Stil der Überwindung von subjektiv erlebten Mangellagen“ erscheint (Antoch 1999, S. 312). Die Art und der Umfang der Kompensation dieser Mangellagen haben entscheidenden Einfluss auf die gesamte Per-sönlichkeitsentwicklung. Der persönliche Lebensstil gibt an, in welcher Form sich das Indivi-duum mit seiner Minderwertigkeit auseinander setzt. Das als „soziale Anlage vorgegebene Gemeinschaftsgefühl“ (Ahrbeck 2000b, S. 871) gibt die gesunde Entwicklungsrichtung an.

Adler begründet seine Theorie auf der Annahme, dass Minderwertigkeit durch die Entwicklung des Gemeinschaftsgefühls ausgeglichen werden kann. Vorraussetzung dafür wäre ein adäquates Erleben von Zugehörigkeit durch Akzeptanz und Annahme durch die so-ziale Umwelt. Ist das Gemeinschaftsgefühl genügend ausgeprägt, muss der Mensch zu der Erkenntnis kommen, dass nur in gegenseitiger Bezogenheit die „Aufgaben des Lebens“ (Ad-ler 1927, 2008, S. 23) durch Kooperation mit anderen gelöst werden können. Diese Lebens-aufgaben sind nach Adlers Ansicht die Herausforderungen der Umwelt, denen sich jedes In-dividuum im Laufe seiner Entwicklung zu stellen hat. Hier ist eine gewisse Nähe zu Eriksons Entwicklungsaufgaben zu verzeichnen.

Zu einer Fehlentwicklung im Sinne eines Minderwertigkeitskomplexes kommt es dann, wenn der Betreffende aufgrund seiner körperlichen Ausstattung oder durch nichtadä-quate Reaktionen seiner Bezugspersonen bei der Meisterung der Lebensaufgaben behindert wird (vgl. Antoch 1999, S. 312). In seinen späteren Schriften kommt Adler zu der Erkenntnis, dass das Erleben von Minderwertigkeit dann nicht zu einer Fehlentwicklung führen muss, wenn ein Zeitgeist, der von Anerkennung, Kooperation und Gleichwertigkeit geprägt wäre, dem Kind das Gefühl der Nicht-Zugehörigkeit durch entmutigende Erfahrungen erspart. Ver-wöhnung und Überbehütung und die damit einhergehenden Gefühle, nichts selbst tun zu kön-nen, verbunden mit dem Gefühl, dass andere für sie sorgen müssen, führen dabei genauso zum Erleben von Minderwertigkeit, wie Vernachlässigung, welche mit Entmutigung aufgrund

von Zurückweisung und Nicht-Anerkennung einhergeht. (vgl. Dreikurs-Ferguson 2006, S.

24f.) Der Zustand der Entmutigung kann zu generellen Zweifeln am eigenen Wert und an eigenen Fähigkeiten führen, und führt zu einer Fixierung auf die Auseinandersetzung mit die-ser generalisierten Mangellage und fordert ständige Gegenbeweise heraus, die ihrerseits die Mangellage jedoch nicht beheben können, da die mangelnde Unterstützung der Bezugsperso-nen als generalisierende Einstellung gegen sich und gegen seine Umwelt gewendet wird. Dies führt dazu, dass die Lebensaufgaben (Gemeinschaftsleben, Arbeit und Liebe), die Kommuni-kation und soziale Interaktion voraussetzen, verfehlt werden. Bei dieser Sichtweise erscheinen Fehlentwicklungen nicht allein in der Person der Betroffenen zu liegen, sondern werden eher als psycho-soziale Störungen angesehen, wobei die Umwelt einen entscheidenden Einfluss auf deren Entwicklung hat. Ein Mangel an Gemeinschaftsgefühl meint somit nicht einen Mangel an sozialer Anpassung, Gemeinschaftsgefühl ist vielmehr ein Grundbestandteil der Gesetzmäßigkeiten des menschlichen Zusammenlebens, „zu der die aktive Selbstbehauptung und Einflussnahme auf die Umwelt genauso gehört wie die Fähigkeit, sich bestimmen zu las-sen“ (Antoch 1999, S. 312).

Damit vereint Adlers Dynamik des menschlichen Zusammenlebens, ähnlich wie in der im Kontext dieser Arbeit explizierten Begrifflichkeit der sozialen Kompetenz, die Elemente Gemeinschaft und Individuum, ohne eine hierarchische Ordnung herzustellen. Vielmehr wird deren gegenseitige Bezogenheit betont. Adler spricht noch nicht von sozialer Kompetenz, es können jedoch, wie bereits eingangs angedeutet, gewisse Parallelen zur Verortung des Kom-petenzbegriffs innerhalb seiner individualpsychologischen Ausrichtung gefunden werden.

Folgt man der Theorie Adlers, gehört die Förderung des Gemeinschaftsgefühls somit auch zu den erzieherischen und therapeutischen Aufgaben: „Gerade die Schule ist der richtige Ort, um mit kluger Einsicht das Gemeinschaftsgefühl des Kindes zu heben“ (Adler 1927, 2008, S. 36).

Gleichzeitig hebt er die Rolle des Gemeinschaftsgefühls für das Lernen im Allgemeinen her-aus:

„Keine Frage, daß auch die Erfolge in den Schulgegenständen in erster Linie vom Gemeinschafts-gefühl des Kindes abhängen, das ja den Ausblick in die zukünftige Gestaltung seines Lebens in der Gemeinschaft in sich birgt. Fragen der Freundschaft, so wichtig für späteres Zusammenleben, der Kameradschaft samt aller notwendigen Charakterzüge der Treue, der Verläßlichkeit der Nei-gung zur Zusammenarbeit, des Interesses für Staat, Volk und Menschheit sind dem Schulleben einverleibt und bedürfen der sachkundigen Pflege. Die Schule hat es in der Hand, die Mitmensch-lichkeit zu erwecken und zu fördern.“ (a.a.O., S. 36f.)

In gewisser Weise plädiert Adler schon hier für eine Gleichgewichtung von Sozial- und Sach-kompetenz im schulischen Kontext, eine Auffassung, die sich bis heute zwar im theoretischen Kontext mehr und mehr durchsetzt, in der pädagogischen Praxis jedoch noch oft stiefmütter-lich behandelt wird (vgl. dazu 3.3.3 Zur Relevanz sozialer Kompetenzentwicklung in der Schule, S.83ff. in dieser Arbeit). Die Art und Weise, wie dies geschehen soll, nämlich „[i]n allgemeinen Aussprachen mit den Kindern“ (a.a.O.), um ihnen ihren „Mangel an Gemein-schaftsgefühl, dessen Ursachen und deren Behebung vor Augen zu führen“ (a.a.O.), erscheint aus heutiger Sicht jedoch stark normativ und belehrend und korrespondiert wenig mit der in dieser Arbeit vertretenen Sicht, dass v.a. das unmittelbare Erleben und die Reflexion sozialer Interaktionen die Entwicklung sozialer Kompetenzen unterstützen kann.

Entgegen dieser belehrenden Worte des Lehrers versteht Adler die Psychotherapie als

„eine Übung in Kooperation und eine Prüfung der Kooperation“ (Ansbacher & Ansbacher, 1972, S. 317) und der Begriff der Ermutigung erhält einen zentralen Stellenwert. Ermutigung bedeutet dabei nicht das unreflektierte Loben jeglicher Verhaltens- und Handlungsweisen, sondern eher eine Einstellung, die davon geprägt ist, das gegenwärtige Verhalten als für das Individuum einstmals sinnvoll zu betrachten und dieses als aktuell nicht mehr zweckmäßige Sicherungsmaßnahme erkennbar werden zu lassen. Das Erkennen soll dabei dem Patienten selbst überlassen bleiben, der zur Selbstreflexion angeregt wird und somit seine Selbsthei-lungskräfte aktiviert, indem er selbstverantwortet (vgl. Antoch 1999, S. 313). An dieser Stelle wird der Wert einer angeleiteten Selbstreflexion besonders deutlich, wobei Anleitung nach Sicht der Autorin bedeuten würde, Raum und Rahmen dafür zu schaffen. Außerdem verweist Adler im therapeutischen Kontext explizit darauf, dass es nicht ausreicht, die Wahrheit nur intellektuell zu erfassen. Vielmehr müsse der Patient „Wahrheit lebendig machen“ (Adler zitiert nach Antoch 1999, S. 314) und die individualpsychologische Therapie erhält in Ab-grenzung zur Gesprächspsychotherapie deutliche erlebnisaktivierende und körperbezogene Impulse.

Insgesamt kann resümiert werden, dass Adlers Individualpsychologie als die tiefen-psychologische Schulrichtung gelten kann, die im erzieherischen Kontext am anschlussfähigs-ten ist und demzufolge auch am meisanschlussfähigs-ten Beachtung erfährt. Zentral ist dabei die Betrachtung der Dynamik des menschlichen Lebens als These und Synthese von individuellem Höherstre-ben zur Überwindung subjektiver Mangellagen und dem Zugehörigkeitsgefühl zur Gemein-schaft. Die Synthese besteht dabei stets im Aushalten und Ausbalancieren von Spannungen und Konflikten zwischen den genannten Polen, was auf die Bedeutsamkeit selbstreflektori-scher Kompetenzen für alle Individuen hinweist. Aus pädagogiselbstreflektori-scher Sicht erhalten die

Stär-kung des Gemeinschaftsgefühls und die Ermutigung als „[h]ervorragendes Erziehungs- und Unterrichtsmittel“ (Bleidick, 1993, S. 832) eine zentrale Bedeutung.

Fraglich bleibt, ob die starke Orientierung am Einfluss der Außenwelt bei der Ent-wicklung des eigenen Lebensstils die eigenen Kräfte einer Person zur Überwindung hinderli-cher Lebensumstände nicht allzu sehr außer Acht lässt. Lingg & Theunissen (2008) machen außerdem darauf aufmerksam, dass Adler mit seiner Auffassung von Menschen mit geistiger Behinderung als Menschen, die über keinen Lebensstil verfügen und deren Handeln nicht von Vernunft geprägt ist, sich der Meinung der traditionellen deutschen Psychiatrie „mit ihrem nihilistisch-biologistischen Menschenbild“ (S. 157) anschließt. Lingg & Theunissen zeigen, dass sich heute auch Vertreter der Individualtherapie gegen diese Auffassung wenden und individualpsychologische Psychotherapie für Menschen mit geistiger Behinderung nutzbar machen. Aus Sicht der Autorin birgt die Lehre Adlers für Menschen mit geistiger Behinde-rung ein großes Potential, indem die Dynamik von Autonomie und Gemeinsinn als grundle-gendes Spannungsfeld sozialer Kompetenzentwicklung betrachtet wird und eine entsprechen-de Auffassung von geistiger Behinentsprechen-derung als sozialer Tatbestand zugrunentsprechen-de gelegt wird (vgl.

dazu S. 13ff. in dieser Arbeit).

3.2.4.2 Lernen am Modell

Innerhalb sozialer Lerntheorien wurde das Lernen am Modell (Bandura 1976) herangezogen, um frühe soziale Entwicklung zu beschreiben. Banduras Lerntheorie geht davon aus, dass Menschen nicht ausschließlich über eigene Erfahrungen, sondern auch durch das Verhaltens-modell anderer Personen lernen. Der Modellbegriff ist dabei nicht auf eine reale Person be-schränkt, sondern umfasst ebenso das Lernen über Medien oder über symbolische Verhal-tensmuster (vgl. Fischer & Wiswede 2009, S. 67). Lernen am Modell beruht auf der Annah-me, dass ein Verhalten, welches bei einer anderen Person beobachtet wurde, nachgeahmt wird. Dies geschieht dann, wenn das Modell für das gezeigte Verhalten belohnt wird, das Verhalten selbst als lustvolle Betätigung wahrgenommen wird oder eine starke Identifikation mit der Modellperson besteht. Das so erworbene Verhalten wird dann in das Verhaltensreper-toire integriert, wenn es sich als erfolgreich in Bezug auf das Erreichen eines Ziels erweist, bzw. positiv bekräftigt wird. Hierbei wird die Bedeutung der Erwartung betont. Neben den äußeren Einflussquellen wird dem Menschen damit die Möglichkeit der Schaffung selbster-zeugter Anreize und selbsterselbster-zeugter Konsequenzen unterstellt und soziale Lernprozesse nicht auf ein bloßes Reiz-Reaktions-Lernen verkürzt (vgl. a.a.O.).

Es wird davon ausgegangen, dass v.a. jüngere Kinder prosoziales Verhalten auf diese Weise erwerben. Auch bei dem Erwerb komplexer Verhaltensmuster, wie z.B. der Übernah-me einer sozialen Rolle, wird dem Modell-Lernen eine hohe Bedeutung zugeschrieben. Ge-genüber der klassischen Konditionierung wird hierbei verstärkt in Betracht gezogen, dass Menschen vernunftbegabte Wesen sind und im Laufe ihrer Entwicklung immer besser ent-scheiden können, welche der beobachteten Verhaltensweisen sie aktiv in ihr Verhaltensreper-toire integrieren. Dies geschieht dann, wenn das Verhalten vor dem Hintergrund ihrer indivi-duellen Erfahrungen sinnvoll erscheint (vgl. Kasten 2008, S.26).

Im Zusammenhang mit sozialen Lernprozessen innerhalb einer Gruppe hat das Lernen am Modell ebenfalls Bedeutung, wenn Lernangebote zur Verfügung gestellt werden, die nur durch kooperatives Verhalten zum Erfolg führen. Vorausgesetzt, der Erfolg bei der Meiste-rung der Aufgabe wird individuell als positive Konsequenz bewertet, wäre eine kooperativ handelnde Person ein entsprechendes Modell für die Gruppe.

3.2.4.3 Sozial-kognitive Entwicklungstheorien

Sozial-kognitive Entwicklungstheorien entstanden in den 1960er Jahren und richten ihre Aufmerksamkeit v.a. auf kognitive Prozesse zum Erwerb sozial relevanten Wissens und zum Verstehen sozialer Kognitionen. Selbstregulation und selbstbestimmtes Denken und Handeln sind dabei Ziel der Entwicklung. Empathie als Fähigkeit, sich in andere Menschen gefühls-mäßig hineinversetzen zu können und Rollenübernahme als Fähigkeit, sich ein Bild von der inneren Befindlichkeit und äußeren Verfassung eines Menschen zu machen, werden als Teil-bereiche sozialer Kognitionen genannt. Die genannten Fähigkeiten werden im Laufe der Ent-wicklung immer weiter differenziert.

Selman entwickelte ein Stufenmodell sozialen Verstehens, welches stark von der kog-nitiven Entwicklungstheorie Piagets geprägt ist (vgl. Abbildung 8 auf S. 70). Dieses Modell eignet sich zur Beschreibung sozialkognitiver Fähigkeiten unter entwicklungspsychologischer Perspektive. In Stufe 1 werden die Fähigkeiten zur Perspektivendifferenzierung und in Stufe 2 die Fähigkeiten zur Perspektivenkoordinierung erworben. Dies geschieht im Allgemeinen in der Zeit bis zum Grundschulalter. Die Beziehungsperspektive als Stufe 3 entwickelt sich meist im frühen Jugendalter, während sich die Systemperspektive als Stufe 4 erst im späten Jugend- und frühen Erwachsenenalter ausbildet.

Abbildung 8: Stufen des sozialen Verstehens nach Selmann (1984)

3.2.4.4. Die emotionale Entwicklung in den ersten sechs Lebensjahren

Die Rolle der Gefühle im Prozess der sozialen Kompetenzentwicklung wurde unter Punkt 3.2.3 Dimensionen sozialer Kompetenz (vgl. S. 57f.) herausgearbeitet. Deshalb erscheint es sinnvoll, auch der emotionalen Entwicklung ein besonderes Augenmerk zu widmen. Peter-mann & Wiedebusch (2003) fassen die emotionale Entwicklung aus entwicklungspsychologi-scher Sicht zusammen. Dabei werden wichtige Entwicklungsschritte während der ersten sechs Lebensjahre dargestellt (vgl. Abbildung 9 auf S. 71.)

Abbildung 9: Emotionale Entwicklung in den ersten sechs Lebensjahren nach Petermann &

Wiedebusch (2003, S. 56)

3.2.4.5 Ökologische Theorien

Ökologische Theorien der sozialen Entwicklung messen der Umwelt eine besondere Bedeu-tung bei der Erklärung sozialer Entwicklungsprozesse zu. Ein Hauptvertreter ist dabei Bron-fenbrenner, der zwischen verschiedenen, miteinander vernetzten Umwelten im Sinne vonein-ander abgrenzbarer Ökosysteme unterscheidet. Dazu zählen:

• das Mikrosystem: welches im Wesentlichen aus der Familie besteht und im Laufe der ersten Entwicklung durch Kindertagesstätte, Kindergarten, Spielplatz und Freundes-kreis erweitert wird

• das Mesosystem: wozu Nachbarn und Bekannte, Freundeskreis der Eltern aber auch öffentliche Einrichtungen, wie Schulsystem oder elterlicher Arbeitsplatz zählen

• das Exosystem und das Makrosystem: in denen die Einflussfaktoren von Subkulturen, sozialen Schichten, Sitten und Gebräuchen, Normen und Regeln, die kulturellen und gesellschaftlichen Ideologien ihre Wirkung entfalten

Das sich entwickelnde Wesen wird jedoch nicht als gänzlich außendeterminiert betrachtet. Im Gegenteil steht es im Zentrum der genannten Systeme und wird als eigenes, sich selbst regu-lierendes System aufgefasst, welches in ständiger Interaktion mit den es umschließenden Sys-temen steht (vgl. Kasten 2008, S. 31f.).

3.2.4.6 Interaktionistisch-konstruktivistische Entwicklungstheorien

Interaktionistisch-konstruktivistische Entwicklungstheorien weisen eine deutliche Nähe zu den ökologischen Theorien auf, fokussieren jedoch stärker die Sicht auf das Subjekt als Kon-strukteur sozialen Wissens. Ihre historischen Wurzeln haben entsprechende Theorien im sym-bolischen Interaktionismus von Georg Herbert Mead.

Ihm liegt die Annahme zugrunde, dass nur innerhalb und durch soziale Beziehungen Identität und die Fähigkeit zum Denken ausgebildet werden können. Individuum und Gesell-schaft sind dabei Teile eines Ganzen, die sich wechselseitig bedingen. Das Kind erwirbt dem-nach Wissen über seine soziale Welt, indem es in Interaktion mit ihr tritt. Dabei werden die soziale Bedeutung der Situation und die Qualität der Beziehung zueinander in der wechselsei-tigen Interaktion gestaltet und individuell in identitätsbildenden Prozessen integriert. Dies geschieht bei Kindern v.a. im Kontakt mit Gleichaltrigen. Im gemeinsamen Handeln werden soziale Interaktionen gestaltet, denen eine Bedeutung zugewiesen wird, die geteilt oder nicht geteilt sein kann. Voraussetzung für eine geglückte Interaktion ist die wechselseitige Perspek-tivübernahme, da nur dann gegenseitige Bezogenheit erlebt werden kann (vgl. 2008, S. 39f.).

3.2.4.7 Zur Relevanz allgemeiner Theorien zur sozialen Kompetenzentwicklung

Es kann zusammengefasst werden, dass es im Laufe der Entwicklung eines Menschen ver-schiedene Wege geben wird, die zur Ausbildung sozialer Kompetenz beitragen. Das Lernen am Modell wird dabei schwerpunktmäßig in frühen Lebensjahren eine Rolle spielen, während eher kognitiv orientierte Theorien, die das soziale Verstehen fokussieren, über die gesamte Lebensspanne in qualitativ unterschiedlichen Ausprägungen Anwendung finden. Gemeinsam ist allen Theorien, dass die soziale Kompetenzentwicklung immer eine Konstruktionsleistung des Subjekts ist. Ein bloßes Reiz-Reaktions-Lernen (z.B. Verhaltensmodifikation) führt nicht zu sozialer Kompetenz, sondern bestenfalls zu sozialer Anpassung in trainierten und fremdge-steuerten Situationen.

An dieser Stelle drängt sich die Frage auf, inwieweit allgemeine Entwicklungsmodelle auf die Entwicklung von Menschen mit geistiger Behinderung übertragbar sind. Wie in Kapi-tel 2 herausgesKapi-tellt wurde, haben diese Modelle eine grundsätzliche Relevanz, da davon aus-gegangen werden kann, dass die Entwicklung von Menschen mit geistiger Behinderung prin-zipiell ähnlich verläuft. Es wäre jedoch zu kurz gegriffen, die Entwicklung von Menschen mit geistiger Behinderung lediglich als verzögerte Normalentwicklung aufzufassen. Vielmehr kann es sowohl zu inter- als auch zu intraindividuellen Spezifika kommen. Allgemeine Mo-delle der Entwicklung sozialer Kompetenzen können helfen, den individuellen Stand als Zone

der aktuellen Entwicklung näher zu bestimmen und adäquate Förderziele abzuleiten. Sie die-nen damit als grobe Orientierung im Prozess der Unterstützung sozialer Kompetenzentwick-lung, sollten jedoch nicht als starre Schemata zu vollziehender Entwicklungsschritte gesehen werden, sondern den Blick für individuelle Verläufe schärfen. Im Kontext einer ganzheitlich ausgeglichenen Persönlichkeitsentwicklung können intraindividuelle Abweichungen sowohl als Ressourcen als auch als besondere Schwerpunkte innerhalb des Förderprozesses näher bestimmt werden.

Die damit mögliche Formulierung einer pädagogischen Zielperspektive sagt jedoch noch nichts darüber aus, wie die Weiterentwicklung der als individuell relevant angesehenen Kompetenzbereiche konkret unterstützt werden kann. Dazu ist es notwendig, den individuel-len Lehr-Lernprozess unter pädagogisch-didaktischer Perspektive zu reflektieren. Dies soll im nächsten Abschnitt vor dem Hintergrund anschlussfähiger erziehungswissenschaftlicher Posi-tionen erfolgen.