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6.4 Darstellung des Forschungsprozesses im Projektteil „Rose“

6.4.4 Ergebnisdarstellung, -interpretation und -diskussion

6.4.4.3 Fall 3

darin ausdrückt, dass sich die Pädagogik an sich mit der wachsenden Autonomie der Schülerinnen und Schüler, welche als Lernziel verbrieft ist, schrittweise überflüssig macht.

Dazu kommt eine tief in unserer Gesellschaft verwurzelte Leistungsorientierung, die sich meist durch positive Konnotation von Aktivität auszeichnet. Die Auseinandersetzung mit dem Kompetenzbegriff und den daraus resultierenden Konsequenzen in Bezug auf die Gestaltung von Lehr-Lernprozessen in Kapitel 3 (vgl. S. 73ff.) zeigt eindeutig die Notwendigkeit von Freiräumen für eigenaktive Lernprozesse und damit auch die Erfordernis pädagogischer Zurücknahme. In der Praxis wird jedoch Leistung oft mit Aktivität und Initiative gleichgesetzt, wobei die Rolle der abwartenden, den Lernprozess der Schülerinnen und Schüler begleitenden Lehrerin, diesem Bild möglicherweise auch in der Eigenwahrnehmung der Akteure widerspricht. Die Aussage der Studentin, dass sie sich dann ausgegrenzt vorkomme, könnte auf letzteren Sachverhalt hinweisen.

Anschließend wurde anhand des übergeordneten Ziels überlegt, welche Teilerfahrun-gen und HandlunTeilerfahrun-gen auf das Ziel hinführen. Dieser Prozess kann als Handlungsstrukturanaly-se bezeichnet werden. Es wurde festgestellt, dass es notwendig ist, zunächst Situationen zu schaffen, in denen eigene Befindlichkeiten und Grenzen bewusst wahrgenommen werden können. Im nächsten Schritt wäre es notwendig, diese zu kommunizieren. Dazu wären selbst-behauptende Kompetenzen gefordert. Solcherart Handlungen müssten als subjektiv sinnvoll erlebt werden und könnten dann ins Verhaltensrepertoire übernommen werden, was den Transfer auf andere Situationen einschließt.

In Bezug auf die Gestaltung der Anforderungssituation sollten v.a. Situationen ange-boten werden, in denen den Schülerinnen und Schülern die eigenen Gefühle bewusst werden.

Hierbei wurde den Reflexionsphasen eine besondere Relevanz zugeschrieben. Sie dienten einerseits der reflexiven Verarbeitung des Erlebten, können aber auch unter diagnostischer Perspektive zur Bestimmung des entsprechenden Entwicklungsniveaus genutzt werden, was wiederum zur Optimierung der nächsten Anforderungssituation führen würde. Gleichzeitig wurde die Notwendigkeit realistischer Erwartungen in Bezug auf die Reflexionsfähigkeit der Schülerinnen und Schüler betont, da diese Anforderung für die Schülerinnen und Schüler vermutlich neu und ungewohnt ist. Damit wurde bereits eine inhaltliche Perspektive eröffnet, die die Gestaltung der erlebnispädagogischen Lernlandschaft fokussiert. Hierbei sollten unter prozessorientierter Perspektive Kompetenzen, die in einer spezifischen Situation nicht gezeigt wurden – obwohl angenommen wird, dass sie prinzipiell vorhanden sind – bei der Planung der neuen Einheit besondere Berücksichtigung finden, indem sie gezielt angesprochen wer-den. Mit dieser Aussage wird darauf aufmerksam gemacht, dass nicht nur Situationen geplant werden sollen, bei denen man davon ausgeht, dass sie von den Schülerinnen und Schülern ohne Probleme bewältigt werden können. Ein entsprechendes Handeln der Pädagoginnen und Pädagogen könnte als Harmonisierungstendenz bezeichnet werden, welche bereits bei der Diskussion zum Projektteil „Linde“ eine Rolle spielte („Es ist ja so ein ganz typisches Prob-lem wenn man mit Kindern arbeitet, dass man irgendwann halt so, so ne Linie bekommt und denen Fähigkeiten zuschreibt oder eben auch aberkennt, wie auch immer. Ich glaube, grade der T., der kann ja reden. Ist ja wirklich jemand, der da (…) Das ist so krass, warum die Situ-ation so weit kommt, dass er sich nicht annimmt, und der kann so schnell reden, das wenn er zwei Worte sagt „Hier geht’s hoch.“ Also ich glaub, so vom verbalen wär’ da viel mehr drin (…) und das nicht so hinzunehmen“ 130). Hingegen wird hier gefordert, die Schülerinnen und Schüler in Situationen zu führen, in denen entsprechende Kompetenzen zur Zielerreichung zwingend notwendig sind und diese damit gezielt zu provozieren. Diese Aussage muss aus

Sicht der Autorin im Kontext der Diskussion um das Phänomen des Scheiterns und den Wert des Fehlers innerhalb der Diskussion zu Fall 1 (vgl. S. 219ff.) gesehen werden und wird letzt-lich von den motivationalen Grundbedingungen der Schülerinnen und Schüler bestimmt.

Unter methodischer Perspektive wurde wiederum das Leitprinzip der Selbstorganisati-on diskutiert. Es wurde in diesem Fall v.a. im Rahmen vSelbstorganisati-on pädagogischer Zurücknahme und objektiver Sicherheit im Kontext von Verantwortungsübernahme bzw. -abgabe diskutiert. Es wurde festgestellt, dass der Grad der pädagogischen Zurücknahme, welche Selbststeuerung der Gruppe direkt bedingt, abhängig ist von den objektiven Gefahren durch die Art der An-forderungssituation („Mir ist heute aufgefallen, im Gegensatz grade zum letzten Mal, dass diese Gruppenselbststeuerung viel weniger war beziehungsweise auch nicht ging, weil, es war ne ganz andre Situation, es war gefährlicher“ Position 134). Dabei bestimmt die Fähigkeit zur Verantwortungsübernahme der Schülerinnen und Schüler die Notwendigkeit des Eingrei-fens der Pädagoginnen und Pädagogen zur Risikominimierung. Hier kann pädagogisches Ein-greifen zur Risikominimierung auch den Erfahrungsprozess der Schülerinnen und Schüler durchaus unterstützen, da im Falle einer ernsthaften Verletzung auch negative Erfahrungen möglich wären. Einflussnahme zur Unterstützung der Bewältigung der Anforderungssituation in Form von Reflexionsimpulsen wurde auch hier als legitim angesehen. Als Impuls zur Be-wusstmachung und Verbalisierung von Gefühlen könnte sie ebenfalls die Bewältigung der Anforderungssituation unterstützen.

Pädagogische Einflussnahme zur Minimierung objektiver Risiken kann bei Schülerin-nen und Schülern jedoch auch dazu führen, dass sie die Verantwortung für die Gruppe abge-ben bzw. sie senkt die Motivation zur Übernahme von Verantwortung für sich und die Gruppe („Also ich denk auf jeden Fall, es wär’ vielleicht besser gewesen, wenn wir sie auch mal hät-ten 8…) Also wir können das letzhät-tendlich wahrscheinlich nicht machen, die gegen den Balken rennen lassen, aber vielleicht (unverständlich) die uns zu sehr, die greifen sowieso ein, wir brauchen gar nicht so vorsichtig zu sein. Dass das vielleicht demotiviert“ Position 135).

Letztlich konnte an dieser Stelle keine Einigung erreicht werden. Es wurde jedoch die Über-zeugung geäußert, dass das Prinzip der Unmittelbarkeit des Erlebens vorrangig sein sollte und nur objektive Risiken pädagogische Einflussnahme legitimieren („Ja, weil es ne Frage der Risikoabwägung ist. Ich glaube, das ist aber auch der einzige Punkt, wo man darüber nach-denken sollte. Aber ansonsten ist ja das unmittelbare Erleben eines der großen, der Momente der Erlebnispädagogik“ Position 172). An späterer Stelle wird deutlich, dass diese Überzeu-gung nicht von allen geteilt bzw. in unterschiedlichen Situationen different betrachtet wurde,

da auch das Festhalten am vorab gesetzten Ziel als hinreichende Begründung für eine den Ablauf korrigierende Einflussnahme diskutiert wurde.

Anhand der Beschreibung einer konkreten Situation innerhalb der Durchführung der Einheit soll noch einmal die Diskussion um das Prinzip der Selbstorganisation verdeutlicht werden, welches innerhalb erlebnispädagogischer Zusammenhänge als zentral angesehen wird (vgl. Kapitel 4, S. 132ff.). In dem hier diskutierten Fall sollte bei der Aufgabe „Blinde Raupe“

jedes Gruppenmitglied einmal die Rolle der führenden Person inne haben und die Erfahrung machen, für die Gruppe verantwortlich zu handeln. Im Vorfeld wurde die Regel aufgestellt, dass die Aufgabe nur dann erfüllt wurde, wenn wirklich alle Personen einmal geführt hätten.

Das Anforderungsniveau der Aufgabe wurde im hier diskutierten Fall nach Ansicht eines Diskussionsteilnehmers in Bezug auf deren selbstständige Bewältigung falsch eingeschätzt.

Dies führte dazu, dass während der Aufgabe ein Schüler diese Regel ignorierte, woraufhin er von der anleitenden Person darauf hingewiesen wurde. Nun wurde diskutiert, ob diese Form der Einflussnahme legitim war. Hierbei wurde die Vermutung geäußert, dass alle Schülerin-nen und Schüler motiviert waren, selbst zu führen. Die pädagogische Einflussnahme in Form der Wiederholung der Regel hätte den Schülerinnen und Schülern, die noch nicht geführt hat-ten, die Möglichkeit zur Entwicklung selbstbehauptender Fähigkeiten genommen.

Hiermit wird zunächst die Aussage zu Fall 2 bestätigt, wonach die Passung zwischen der Anforderungsstruktur und den Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler das Maß an pädagogischer Einflussnahme bedingt. Mit der Feststellung, dass pädagogische Zurücknahme an dieser Stelle zu einer Modifizierung der Zielstellung geführt hätte, nämlich die Unterstüt-zung selbstbehauptender Fähigkeiten, wird jedoch ebenfalls die Bewusstheit der Interdepen-denz von Ziel-Inhalts-Methodenentscheidungen deutlich. Zunächst wurde festgestellt, dass die Struktur der Aufgabe deren Ziele stark beeinflusst. Im Umkehrschluss wäre festzuhalten, dass abhängig von den gestellten Zielen die Aufgabe spezifisch ausgewählt werden muss.

Gleichzeitig wurde mit Verweis auf das oben geschilderte Beispiel geäußert, dass eine be-stimmte Aufgabenstruktur je nach zugelassener Gruppenselbstorganisation mit unterschiedli-chen Zielstellungen verbunden werden kann. Gleichzeitig wurde noch einmal darauf verwie-sen, dass das Maß an zugelassener Gruppenselbstorganisation stark von der Struktur der Auf-gabe und der damit verbundenen Zielsetzung bestimmt wird („Also wir wollten (…)Ich hatte auch so gedacht, es ist cool, wenn man wirklich nur die Aufgabe stellt und die Aufgabe ist wirklich klar und eindeutig. Die gehen los und bewältigen das alles alleine. Sie werden vor Probleme gestellt, die sie irgendwie lösen müssen. Aber, also ich muss sagen, dass ich, also ich finde, dass ich nicht wusste, dass das so schwierig ist. Und dass es, denk ich, dass es, so

wies gelaufen ist, sehr gut gelaufen ist, auch so mit diesem, mit diesem Helfen und mit diesem, überhaupt Erfahrungen sammeln. Und ich glaube, dass es nicht die beste Aufgabe ist, um so ne Gruppenselbststeuerung so zu, zu, na ja (…)“ Position 141).

Das theoretisch herausgearbeitet und auch in den Überzeugungen der Studierenden verwurzelte Moment der Selbstorganisation wurde hier zugunsten des Bietens von Erfah-rungsmöglichkeiten für alle zurückgestellt. Die pädagogische Einflussnahme hatte in diesem Fall dazu geführt, dass das geplante Ziel verfolgt wurde und zeigt, dass das genannte Leit-prinzip nicht dogmatisch verfolgt werden sollte, sondern situative Modifikationen möglich und sinnvoll sind. Gleichzeitig wurde festgehalten, dass Gruppenselbststeuerung und pädago-gische Zurücknahme durch das Festhalten am geplanten Ablauf und die konsequente Verfol-gung des geplanten Ziels verhindert werden, was in diesem Fall jedoch als legitim erachtet wurde. Außerdem spielten bei diesen Überlegungen organisatorische Gegebenheiten, hier der zeitliche Rahmen, eine Rolle. Wäre dies nicht gegeben, hätte man ebenso prozessorientierter vorgehen können, indem man die Aktion laufen lässt und sich entwickelnde Themen bearbei-tet.

Man war sich einig, dass ohne pädagogische Einflussnahme die Folgen in objektiven Risikosituationen unmittelbar spürbar geworden wären. Die Diskussion zu den daraus resul-tierenden Lernerfahrungen gestaltete sich jedoch kontrovers. Eventuell hätten die Geführten gelernt, dass das Vertrauen in andere Personen (Führungsperson) schmerzhafte Erfahrungen nach sich ziehen kann und der Lernprozess wäre somit den pädagogischen Intentionen zuwi-der gelaufen. Anzuwi-dererseits hätte es auch zu zuwi-der Erkenntnis kommen können, dass man sich nicht jeder Person anvertrauen darf und sich gegen Übergriffe zur Wehr setzen muss. Eventu-ell hätten die Führenden beim nächsten Versuch mehr Verantwortung übernommen. Es ent-spann sich eine Diskussion darüber, ob pädagogische Zurückhaltung an dieser Stelle selbstbe-hauptende Fähigkeiten in Form von Widerspruch provoziert hätte. Andere äußerten die Ver-mutung, dass dies nicht der Fall gewesen wäre, da der entsprechende Schüler an Fremdsteue-rung gewöhnt war. Letztlich wurde zusammengefasst, dass die Vorhersagen in Bezug auf den speziellen Lernprozess der Schülerinnen und Schüler stets hypothetischen Charakter haben.

Es wurde festgestellt, dass die konkrete Erfahrung der Einzelnen sehr different sein kann und das pädagogische Handeln diesbezüglich stets von Ungewissheiten begleitet sein wird („Manch einer hätte es vielleicht geschafft: „Okay wenn man hier nischt sagt, fällt man hin“, nimmt das dann positiv auf und setzt das selber um. Und der andere denkt halt: „Okay, wenn ich hier die Augen zu mache, fall ich auf die Knie also mach ich die Augen halt nicht zu“.

Aber ne Vorhersage zu machen, an welcher Stelle (…) weiss ich nicht“ Position 166).

Gleichzeitig kann aus der Gesamtdiskussion geschlossen werden, dass die Reflexion über Art und Maß des pädagogischen Eingreifens im unmittelbaren Unterrichtsprozess inner-halb der Gruppe der Studierenden sehr präsent ist, was auf einen hohen Grad an Selbstreflexi-vität schließen lässt. Wie bereits in Fall 2 angemerkt, könnte neben der Präsenz der entspre-chenden Leitorientierungen innerhalb des erlebnispädagogischen Konzepts die Organisations-struktur der gruppendynamischen Prozessreflexion selbst als geeignetes Mittel zur Unterstüt-zung selbstreflexiver Prozesse herausgestellt werden.