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Soziale Beeinträchtigungen durch lange Arbeitszeiten

Aus arbeitswissenschaftlicher Sicht würden die oben dargestellten Ergebnisse bereits ausreichen, um eine mögliche Gefährdung der Beschäftigten durch lange Arbeitszeiten zu vermuten. Dennoch sollte auch die Möglichkeit der Einhaltung des positiven Gestaltungsmerkmals, der Persönlichkeitsförderlichkeit, bei langen Arbeits-zeiten geprüft werden. Dabei stellt sich zunächst die Frage, wie sich Persönlichkeits-förderlichkeit messen lässt, um überhaupt einer Untersuchung zugänglich zu sein.

Zur Annäherung an das Kriterium der Persönlichkeitsförderlichkeit – hier im Sinne der sozialen Teilhabe – könnte die Ausübung sozialer Aktivitäten und damit die Möglichkeit der persönlichen Entwicklung der Beschäftigten durch aktive oder passive Sozialisation erfasst werden (siehe Abschnitt 1.3). Eine objektive Erhebung dieser Daten kann in Form von Zeitbudgetstudien erfolgen. Besteht diese Möglichkeit nicht, so kann retrospektiv erfragt werden, wie häufig (pro Woche oder Monat) bestimmten Aktivitäten, etwa Treffen mit Freunden, Besuch von kulturellen Veranstaltungen usw., durchschnittlich oder in einem bestimmten Zeitraum nach-gegangen wird. Eine Einschränkung der Zeit für außerberufliche Aktivitäten durch die Arbeitszeit könnte wiederum darauf hinweisen, dass das Kriterium der Persön-lichkeitsförderlichkeit durch die Arbeitszeitgestaltung nicht erfüllt werden kann. Ein weiterer möglicher Ansatzpunkt wäre die Erfassung der Vereinbarkeit von Beruf und Freizeit, die allerdings immer nur subjektiv erfassbar sein kann.

In der gesellschaftlichen Diskussion werden seit längerer Zeit zunehmend Forderungen nach einer verbesserten Vereinbarkeit von Beruf und Familie bzw.

Freizeit (sog. Work-Life-Balance) genannt. Der Begriff „Doppelbelastung“ ist für die gleichzeitige Ausübung von Beruf und Haushaltsführung, Kinderbetreuung oder Pflege von Angehörigen geprägt. Die zusätzlich zur Arbeitszeit für private Tätigkeiten verwendete Zeit (z. B. für familiäre oder Haushaltsaktivitäten, aber auch für ehrenamtliches Engagement oder die eigene Weiterbildung) führt zur weiteren Reduktion der Regenerationszeit, die zwischen zwei Arbeitszeiträumen liegt und erhöht damit die Wahrscheinlichkeit, dass die durch die Arbeit resultierende Beanspruchung unter Umständen nicht völlig abgebaut werden kann. Darüber hinaus führen Tätigkeiten in der Freizeit zu einer Mehrfachbelastung der Beschäftigten.

Somit kommt es zu einer Beanspruchungskumulation. Wie NACHREINER &

GRZECH-ŠUKALO (1997) bereits bemerkten, handelt es sich bei der Aufteilung der Zeit auf Arbeit, Schlaf und Freizeit um ein Nullsummenspiel, in dem eine Vergrößerung des einen Anteils eine Reduktion eines oder beider anderer Anteile mit sich bringt. Daher stellen lange Arbeitszeiten in jedem Fall einen gravierenden Eingriff in die Lebensgestaltung dar, der im schlechten Fall den Beschäftigten von vornherein Einschränkungen im privaten Bereich oder der Schlafzeit diktiert. Dass dies nicht ohne Folgen sowohl für das soziale Wohlbefinden als auch in Folge dessen für die Gesundheit der Beschäftigten bleiben kann, ist nahe liegend. Dass soziale Beeinträchtigungen durch Schichtarbeit entstehen können ist bereits bekannt (vgl. COLQUOUN et al., 1996; VOLGER et al., 1988; NEULOH, 1964). Dagegen wurde der Frage des Ausmaßes der sozialen Beeinträchtigung durch lange Arbeitszeiten bisher auf empirischer Ebene nur unzureichend nachgegangen. Die im Folgenden berichteten Ergebnisse konzentrierten sich größtenteils auf eine Beeinträchtigung des Familienlebens oder der Work-Life-Balance der Beschäftigten (z. B. WORALL & COOPER, 1999; GEURTS & DEMEROUTI, 2003; JANSEN et al., 2004; GROSCH et al., 2006; KLENNER & SCHMIDT, 2007; GEURTS et al., 2009).

Die Untersuchung der Einschränkung anderer, für die Sozialisation der Beschäftigten ebenfalls bedeutsamer Bereiche, wie etwa gesellschaftliches Engagement oder kulturelle Aktivitäten, wurden dabei eher vernachlässigt.

In Deutschland herrscht das Modell der 1 ½ Arbeitsstellen pro Familie vor. So arbeiten abhängig beschäftigte Väter im Durchschnitt 39,7 Stunden pro Woche, wohingegen Mütter mit durchschnittlich 24,4 Wochenstunden deutlich kürzer arbeiten (KLENNER & PFAHL, 2008). Dieses Modell entspricht jedoch durchaus nicht dem europäischen Durchschnitt (vgl. LEWIS et al., 2008). Vor allem in den skandinavischen Ländern, aber auch in Portugal und Spanien arbeiten häufig beide Elternteile in Vollzeit. Die Gründe dafür sind verschieden, denn in Südeuropa gibt es kein ausreichendes Angebot an Teilzeitstellen, wodurch die Nachfrage natürlich eingeschränkt wird, wohingegen in Skandinavien oft aufgrund der guten Kinderbetreuung ermöglicht wird, dass beide Elternteile in Vollzeit arbeiten können.

Trotz der hohen Teilzeitquote der Mütter in Deutschland arbeiten viele der Eltern in relativ langen Arbeitszeiten. So leisten 17 % der abhängig beschäftigten Mütter und knapp 57 % der Väter mehr als 40 Stunden pro Woche (KLENNER & PFAHL, 2008).

Dagegen ist der Teilzeitanteil der Väter in Deutschland marginal (<3 %). Bei LEWIS et al. (2008) wird der Anteil der Mütter mit über 46 Stunden Arbeitszeit pro Woche mit 4,6 % beziffert, die Väter arbeiten zu 35,1 % über 46 Stunden pro Woche. Untersucht wurden Beschäftigte aus Westeuropa; leider ist die Einteilung der Arbeitszeit nicht äquivalent zu der von KLENNER & PFAHL (2008) in Deutschland. In letztgenannter

Stichprobe arbeiten besonders die hochqualifizierten Beschäftigten lange – jede vierte hochqualifizierte Mutter arbeitet mehr als 40 Stunden pro Woche, bei den hochqualifizierten Vätern sind es sogar ca. 73 %.

KLENNER & SCHMIDT (2007) untersuchten die Vereinbarkeit von Beruf und Familie in Deutschland und berichten, dass die wahrgenommene Vereinbarkeit von Beruf und Familie u. a. sowohl von der Dauer als auch von der Flexibilität der Arbeitszeit abhängt. Dabei wirkt eine hohe Arbeitsdauer erwartungsgemäß negativ auf die Vereinbarkeit, wohingegen für die Arbeitszeitflexibilität eine differentielle Wirkung beobachtet wurde. Nur wenn die Arbeitszeit auf die Familie angepasst flexibel ist, besteht ein positiver Zusammenhang zur Vereinbarkeit. Ist dies nicht der Fall, wird eine hohe Flexibilität als negativ für die Vereinbarkeit empfunden. Über die genaue Wirkung von langen Arbeitszeiten im Sinne einer Dosis-Wirkungs-Beziehung wurde hier allerdings leider nichts berichtet, sodass die Zusammenhänge zwar plausibel aber dennoch eher vage erscheinen. Mögliche Vereinbarkeitskonflikte zwischen dem Beruf und der Familie können dabei durch soziale Unterstützung sowohl am Arbeitsplatz als auch in der Familie abgemildert werden (vgl. CARLSON &

PERREWÉ, 1999; NIELSON et al., 2001).

In einer Untersuchung einer Stichprobe aus der U.S.-Bevölkerung setzten GROSCH et al. (2006) die Dauer der wöchentlichen Arbeitszeit in Verbindung mit der berichteten Beeinträchtigung des Familienlebens durch den Job. Im Vergleich zur Gruppe der Personen mit 35-40 Std. pro Woche stieg das Risiko für eine Beeinträchtigung des Familienlebens bei 41-48 Wochenstunden um 55 %, bei 49-69 Std. um 228 % und bei 70 und mehr Wochenstunden um 375 % an. Die untersuchte Stichprobe enthielt sowohl abhängig als auch selbstständig Beschäftigte. Für abhängig Beschäftigte in Europa und Deutschland konnte von RÄDIKER (2005) gezeigt werden, dass die Häufigkeit der Ausübung von Tätigkeiten im Haushalt und der Familie mit zunehmender Arbeitsdauer abnimmt. Auf die Ausübung von anderen Freizeitaktivitäten, wie Sport oder Weiterbildung sowie ehrenamtlichen / politischen Tätigkeiten, hatte die Anzahl wöchentlicher Arbeitsstunden dagegen nur einen schwachen Einfluss. Dabei wurde allerdings noch nicht differenziert geprüft, ob sich die letztgenannten Tätigkeiten möglicherweise gegenseitig kompensieren und welche moderierenden Einflüsse durch weitere arbeits- und personenbezogene Merkmale bestehen, sodass dieses Ergebnis nur eine allgemeine Tendenz darstellt.

Insgesamt kann festgestellt werden, dass die Auswirkungen langer Arbeitszeiten auf die Familie bisher noch nicht ausreichend untersucht wurden, und der Bereich der außerfamiliären und sozialen Aktivitäten sehr stark vernachlässigt wurde. Dabei besitzt diese Thematik in der Öffentlichkeit durchaus eine große Bedeutung. Die oben dargestellten wenigen bisherigen Ergebnisse deuten an, dass eine bedeutsame Einschränkung der familiären Aktivitäten der Beschäftigten bei langen Arbeitszeiten erfolgt. Dennoch fehlt sowohl eine ausreichende empirische Absicherung dieser Ergebnisse als auch eine Ausdehnung der Untersuchungen auf die Einschränkung auch anderer Bereiche des privaten Lebens bei langen Arbeitszeiten.

Für die weitere Untersuchung stellen sich insbesondere Fragen darüber, welche Freizeitaktivitäten in welchem Ausmaß eingeschränkt werden, ob sich bestimmte Aktivitäten zeitlich kompensieren und welche Unterschiede zwischen Männern und Frauen sowie zwischen Personen mit und ohne Betreuungspflichten bestehen. Wie

KOHN & SCHOOLER (1983) berichten, besitzt auch die Art der Tätigkeit einen Einfluss auf die Freizeitaktivitäten, sodass die Tätigkeit möglicherweise eine moderierende Wirkung auf die Zusammenhänge zwischen langen Arbeitszeiten und der sozialen Teilhabe ausübt.