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Auswirkungen der Arbeitszeit auf die Gesundheit

Nach der Ausführbarkeit und Schädigungslosigkeit wird von HACKER & RICHTER (1984) das Gestaltungskriterium der Beeinträchtigungsfreiheit genannt. Als beein-trächtigungsfrei werden Arbeitsbedingungen dann bezeichnet, wenn keine kurz- oder langfristigen Beeinträchtigungen des gesundheitlichen Wohlbefindens durch die Tätigkeit verursacht werden. Diese negativen und in der Regel längerfristigen Beanspruchungsfolgen können, wie im Modell beschrieben, durch die Intensität als auch die Extensität der Belastung hervorgerufen werden.

Sowohl in älteren wie auch in neueren Reviews und Untersuchungen (vgl. SPARKS

& COOPER, 1997; SPURGEON et al., 1997; WORRALL & COOPER, 1999;

ETTNER & GRZYWACZ, 2001; VAN DER HULST, 2003; CARUSO et al., 2004a;

DEMBE et al., 2005; KECKLUND, 2005; CARUSO, 2006; RÄDIKER et al., 2006;

RÜTERS et al., 2008) werden negative Effekte langer Arbeitszeiten auf die Gesund-heit berichtet. In den Untersuchungen von NACHREINER et al. (2005) sowie RÄDIKER et al. (2006) wurden die berichteten gesundheitlichen Beeinträchtigungen in psychovegetative, muskulo-skelettale (Muskel-Skelett-), und allgemeine Be-schwerden klassifiziert und in Zusammenhang mit der berichteten Anzahl der

(tatsächlichen) wöchentlichen Arbeitsstunden gebracht. Wie in Abb. 1.6 zu erkennen ist, steigen die gesundheitlichen Beeinträchtigungen mit zunehmender wöchentlicher Arbeitszeit deutlich an (die Faktorwerte sind aufgrund ihrer z-Standardisierung normalverteilt mit einem Mittelwert von Null und einer Standardabweichung von Eins). Der Anstieg der psychovegetativen Beeinträchtigungen ist dabei insbesondere bei den Beschäftigten oberhalb des Vollzeitbereiches (≥ 40 Wochenstunden) wesentlich steiler als der Anstieg der muskulo-skelettalen und allgemeinen Beschwerden in diesem Arbeitszeitbereich.

Abb. 1.6 Psychovegetative, muskulo-skelettale und andere gesundheitliche Beeinträchtigungen in Abhängigkeit von der wöchentlichen Arbeitszeit in Deutschland

(Quelle: NACHREINER et al., 2005, S. 28)

Neben allgemeinen Beeinträchtigungen der Gesundheit wird an anderer Stelle berichtet, dass Überstunden sogar mit erhöhter Mortalität in Zusammenhang stehen können (NYLEN et al., 2001).

Die Zusammenhänge von langen Arbeitszeiten mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen können nicht nur auf allgemeiner Ebene gezeigt werden, sondern deuten sich ebenfalls für einzelne Symptome an.

1.4.3.1 Kardiovaskuläre Erkrankungen

Lange Arbeitszeiten können sich auf das Risiko von Herz-Kreislauf-Erkrankungen auswirken. So berichteten z. B. LIU & TANAKA (2002), dass sich bei Arbeitszeiten über 61 Stunden pro Woche das Risiko für einen Myokardinfarkt verdoppelt, verglichen mit Arbeitszeiten von unter 40 Wochenstunden. Ergebnisse aus anderen Studien weisen ebenfalls darauf hin, dass lange Arbeitszeiten das Risiko für

Herz-Kreislauf-Erkrankungen deutlich erhöhen (HAYASHI et al., 1996; UEHATA, 1991). In Japan kam der plötzliche Tod durch Überarbeitung derart häufig vor, dass er mit dem Begriff Karoshi bezeichnet wurde. Häufig gehen dem Karoshi, der i. d. R. durch einen Herzinfarkt oder Schlaganfall ausgelöst wird, viele Überstunden bzw. lange Arbeitszeiten ohne Pause und weitere arbeitsbedingte Stressoren voraus. Da Karoshi in Japan als berufsbedingte Erkrankung anerkannt ist, besteht sogar das Anrecht auf Entschädigung für die Hinterbliebenen.

Es lassen sich allerdings auch gegenteilige Ergebnisse finden, wie etwa die von NAKANISHI et al. (2001). Dort wird ein positiver Effekt langer Arbeitszeiten auf die Entwicklung von Bluthochdruck berichtet. Da sich die meisten Studien zum Zusammenhang von Arbeitszeit und kardiovaskulären Symptomen allerdings auf Stichproben japanischer Männer beschränken, ist ihre Generalisierbarkeit eingeschränkt (vgl. CARUSO et al., 2004a). SPURGEON (2003) und BEERMANN (2004) kommen dennoch zu dem Schluss, dass die negativen Auswirkungen langer Arbeitszeiten auf kardiovaskuläre Symptome als gesichert betrachtet werden können.

1.4.3.2 Muskel-Skelett-Erkrankungen

Bezüglich der Auswirkungen von langen Arbeitszeiten auf Muskel-Skelett-Erkrankungen herrscht kein ganz einheitliches Bild vor. So ermittelten LIPSCOMB et al. (2002) und TRINKOFF et al. (2006) eine Erhöhung des Risikos muskulo-skelettaler Beeinträchtigungen mit zunehmender Dauer der Arbeitszeit, insbesondere bei Arbeitszeiten von mehr als 12 Stunden pro Tag oder 40 Stunden pro Woche, wobei in den beiden erwähnten Studien ausschließlich Krankenschwestern, teilweise mit Schichtarbeit, untersucht wurden. Dabei wurde bzgl. der Schicht nur abgefragt, ob die TeilnehmerInnen in einer anderen als der Tagschicht arbeiteten, sodass die potenzielle Konfundierung zwischen Schichtarbeit und der Anzahl wöchentlicher Arbeitsstunden nicht kontrolliert werden konnte. Auch in der bereits oben beschriebenen Untersuchung von NACHREINER et al. (2005) wurden deutliche, fast lineare Zusammenhänge zwischen Muskel-Skelett-Beschwerden und der Arbeits-dauer berichtet (vgl. Abb. 1.6). GROSCH et al. (2006) hingegen fanden in einer für die U.S. Bevölkerung repräsentativen Stichprobe im Vergleich zur Gruppe der Vollzeitbeschäftigten (35-40 Std. pro Woche) erst bei über 70 Std. pro Woche eine gegenüber kürzeren Arbeitszeiten erhöhte Anzahl von Muskel-Skelett-Erkrankungen.

Es scheint demnach einen negativen Effekt der Arbeitsdauer auf Muskel-Skelett-Erkrankungen zu geben, der jedoch hinsichtlich seiner Ausprägung eher schwach zu sein scheint und darüber hinaus auch wesentlich von weiteren Merkmalen der Arbeitszeit und der Arbeitsbedingungen abhängt.

1.4.3.3 Gastrointestinale Erkrankungen

CARUSO et al. (2004b) berichten deutliche Zusammenhänge zwischen gastro-intestinalen Erkrankungen und Schichtarbeit, jedoch nur schwache Zusammenhänge dieser Erkrankungen mit langen Arbeitszeiten. In der untersuchten Stichprobe der Beschäftigten in der Automobilfertigung erhöhte sich mit 10 Stunden zusätzlicher Arbeitszeit pro Woche das Risiko für die Verwendung von Medikamenten gegen gastrointestinale Krankheiten um 23 %. Wie bereits VAN DER HULST (2003)

konstatiert, fehlen jedoch bislang weitere gesicherte Ergebnisse zum Zusammen-hang zwischen gastrointestinalen Beschwerden und langen Arbeitszeiten.

1.4.3.4 Weitere Symptome

KROENKE et al. (2006) berichten, dass das Diabetesrisiko bei Frauen durch lange Arbeitszeiten erhöht wird. Dabei steigern Arbeitszeiten von mehr als 40 Stunden pro Woche das Diabetesrisiko gegenüber einer wöchentlichen Arbeitszeit von 20-40 Stunden um etwa 20 %. In einer Studie an japanischen Männern konnte weiterhin gezeigt werden, dass das Diabetesrisiko bei mehr als 50 Überstunden pro Monat gegenüber weniger als 25 monatlichen Überstunden um den Faktor 3,7 erhöht ist (KAWAKAMI et al., 1999). Weitere, abgesicherte Ergebnisse zum Diabetesrisiko ließen sich jedoch bisher in der Literatur nicht finden.

Aufgrund der umfangreichen Ergebnisse zu den negativen Auswirkungen von Schichtarbeit auf Schlafstörungen und psychovegetative Symptome (RUTENFRANZ

& KNAUTH, 1982; KNAUTH & COSTA, 1996) stellt sich die Frage, ob lange Arbeitszeiten ähnliche negative Effekte auch auf diese Symptome ausüben. Da die Dauer der Arbeitszeit einen direkten Einfluss auf die Lage der Arbeitszeit sowie auch auf das Ausmaß der Ruhezeiten der Beschäftigten ausübt, erscheinen Schlaf-störungen in Folge langer Arbeitszeiten als durchaus plausibel. Je länger die tägliche und wöchentliche Arbeitszeit ist, desto kürzer ist zudem die Schlafdauer (z. B. VAN DER HULST, 2003; KRUEGER & FRIEDMAN, 2009). Eine verkürzte Schlafdauer kann wiederum mit einer Verminderung der Performanz, einem erhöhten Unfallrisiko sowie mit einem gesteigerten Risiko für verschiedene gesundheitliche Beein-trächtigungen zusammenhängen, wie etwa kardiovaskuläre Erkrankungen, Über-gewicht oder eine Schwächung des Immunsystems (vgl. DAWSON & REID, 1997;

DINGES et al., 1997; VAN DER HULST, 2003; CARUSO, 2006; HÄRMÄ, 2006;

LOMBARDI et al., in Vorbereitung). NACHREINER et al. (2005) sowie RÜTERS (2008) berichten darüber hinaus eine Zunahme von Schlafstörungen sowie von psychovegetativen Beschwerden bei steigenden Wochenarbeitszeiten.

1.4.3.5 Maladaptive Verhaltensweisen

Neben diagnostizierten oder berichteten Erkrankungen sind ungesunde (sog.

maladaptive) Verhaltensweisen, wie etwa ein erhöhter Konsum von Genussmitteln wie Alkohol oder Zigaretten, Gewichtszunahme oder Mangel an Bewegung, ein weiteres Indiz für eine Gesundheitsgefährdung. SHIELDS (1999) berichtet als Folge der Verlängerung der Arbeitszeit von 35-40 Std. auf über 41 Std. pro Woche eine ungesunde Gewichtszunahme bei Männern, eine gesteigerte Anzahl konsumierter Zigaretten bei beiden Geschlechtern und eine Zunahme des Alkoholkonsums bei Frauen. Untersucht wurden dabei ca. 3800 kanadische Erwerbstätige in einer dreijährigen Längsschnittstudie. Eine Steigerung des Alkoholkonsums und eine ungesunde Gewichtszunahme in Zusammenhang mit der Arbeitsdauer wurde ebenfalls von TRINKOFF & STORR (1998) und NAKAMURA et al. (1998) gezeigt.

Auch auf die Gesundheit der Kinder von Erwerbstätigen haben lange Arbeitszeiten möglicherweise negative Folgen. Wie PHIPPS et al. (2006) berichten, hängt das Risiko für Übergewicht bei Kindern mit der Anzahl der Arbeitsstunden der Mütter zusammen.

Im Hinblick auf Karoshi (s. o.) besteht die Vermutung, dass lange Arbeitszeiten nicht nur auf dem direkten Weg das Eintreten des plötzlichen Herztodes begünstigen.

Vielmehr können gesundheitsschädliche Verhaltensweisen, die in Folge langer Arbeitszeiten auftreten, ebenfalls zum Entstehen von Karoshi beitragen (UEHATA, 1991). Lange Arbeitszeiten begünstigen folglich sowohl direkt als auch indirekt über die maladaptiven Verhaltensweisen das Eintreten des plötzlichen Herztodes.

1.4.3.6 Langfristige gesundheitliche Effekte langer Arbeitszeiten

Zu den langfristigen gesundheitlichen Auswirkungen langer Arbeitszeiten gibt es nur wenige Befunde. KRAUSE et al. (1997) konnten in einer finnischen Längs-schnittstudie feststellen, dass Personen, die mehr als 60 Wochenstunden gearbeitet hatten, im Vergleich zur Gruppe der Beschäftigten mit unter 40 Stunden ein stark erhöhtes Risiko (OR: 2.75, CI: 1.11 – 6.81) hatten, in den nächsten vier Jahren erwerbsunfähig zu werden, also eine Rente wegen Erwerbsminderung zu erhalten (disability retirement). Untersuchungen zu den langfristigen Effekten der Arbeitszeit auf die Gesundheit und Erwerbsfähigkeit über das gesamte Erwerbsleben hinweg gibt es hingegen leider bislang nicht (vgl. SEIFERT, 2008), obwohl solche Studien sehr wünschenswert wären um auch langfristige Perspektiven einbeziehen zu können.

Auch wenn die Ergebnisse zu den Auswirkungen langer Arbeitszeiten auf die Gesundheit der Beschäftigten häufig auf spezifischen Stichproben beruhen und teilweise uneindeutig sind, lässt sich doch als Gesamtergebnis festhalten, dass die Effekte langer Arbeitszeiten auf die Gesundheit als negativ einzuschätzen sind.

Damit ist neben der Ausführbarkeit und Schädigungslosigkeit auch das Kriterium der Beeinträchtigungsfreiheit bei langen Arbeitszeiten voraussichtlich nicht mehr gewähr-leistet.