• Keine Ergebnisse gefunden

Schlussfolgerungen aus den bisherigen Ergebnissen

Die Erhöhung des Unfallrisikos durch lange tägliche und wöchentliche Arbeitszeiten ist mittlerweile gut belegt. Es deutet sich darüber hinaus aus den oben zusammengestellten Ergebnissen an, dass lange Arbeitszeiten die Leistung der Beschäftigten verschlechtern und das Risiko für gesundheitliche Beeinträchtigungen wie Herzerkrankungen, gastrointestinale sowie muskulo-skelettale Beein-trächtigungen erhöhen können. Weiterhin begünstigen lange Arbeitszeiten wahrscheinlich gesundheitsschädliche Verhaltensweisen wie den Konsum von Genussmitteln (Alkohol, Zigaretten) sowie eine ungesunde Gewichtszunahme durch falsche Ernährung und mangelnde Bewegung. Einschränkungen durch hohe Wochenarbeitszeiten im sozialen Bereich sind zu vermuten, wurden allerdings bislang nur unzureichend untersucht. Tendenziell verschlechtert sich die berichtete Work-Life-Balance bei langen Arbeitszeiten. Es deutet sich daher an, dass die arbeitswissenschaftlichen Kriterien der Ausführbarkeit, Schädigungslosigkeit und Beeinträchtigungsfreiheit bei langen Arbeitszeiten nicht mehr gewährleistet sind.

Weiterhin erscheint auch die Persönlichkeitsförderlichkeit langer Arbeitszeiten sowohl anhand der vorliegenden Untersuchungen als auch aufgrund theoretischer Annahmen äußerst fraglich.

Eine umfangreiche Absicherung der Validität und Generalisierbarkeit insbesondere der Ergebnisse zur Beeinträchtigung der Gesundheit und des sozialen Wohl-befindens durch lange Arbeitszeiten hat jedoch bislang noch nicht stattgefunden.

Auch liegen zu einzelnen Symptomen, wie etwa psychovegetativen und gastro-intestinalen Beeinträchtigungen, sehr wenige Studien vor. Darüber hinaus wurden – wenn auch in geringem Umfang – ebenfalls gegensätzliche Ergebnisse berichtet, wie etwa eine Verringerung gesundheitlicher Beschwerden bei langen Arbeitszeiten (z. B. VOSS et al., 2001). Es ist dabei unklar, ob solch uneindeutige Befunde die Realität widerspiegeln, oder ob sie auf andere Gründe zurückzuführen sind.

Eine mögliche Ursache für die Uneindeutigkeit und eingeschränkte Generalisier-barkeit der Ergebnisse ist etwa die uneinheitliche Definition der unabhängigen Variable „lange Arbeitszeiten“: In einigen Untersuchungen werden die Unterschiede zwischen geplanten „normalen“ 8- und „langen“ 12-Stunden-Schichten bezüglich ihrer Auswirkungen auf die Beanspruchungsfolgen analysiert, andere hingegen untersuchen den Einfluss von Überstunden (unabhängig von der geplanten Arbeitszeitdauer). Wieder andere definieren „lange“ Arbeitszeiten (mal als „über 48 Stunden pro Woche liegend“, mal als „über 60 Wochenstunden“) und vergleichen die Beanspruchungsfolgen von Personen in „langen“ Arbeitszeiten mit denen in „kurzen“

Arbeitszeiten von weniger als 48 oder 60 Stunden. Der Kreativität bei der Definition

„langer“ Arbeitszeiten sind dabei keine Grenzen gesetzt, und dies führt dazu, dass die einzelnen Studien kaum vergleichbare Ergebnisse erzielen. Darüber hinaus birgt jeder Ansatz seine methodischen Probleme: Bei der Untersuchung von 8- und 12-Stunden-Wechselschichten besteht in der Regel eine Konfundierung zwischen der Dauer der Arbeitszeit und der Arbeit in Schichtarbeit, also mit einer veränderten Lage

der Arbeitszeit (vgl. SPURGEON et al., 1997; WHITE & BESWICK, 2003). Eine geplante 12-Stunden-Schicht mit entsprechend ausreichendem Ruhezeitraum kann dabei ohne weiteres zu weniger negativen Beanspruchungsfolgen führen als eine geplante 8-Stunden-Schicht, an die kurzfristig noch 4 Überstunden gehängt werden müssen. Wird hingegen nur gemessen, ob die Beschäftigten Überstunden geleistet haben oder nicht, ohne dabei die geplante Arbeitsdauer und damit die insgesamt geleisteten Arbeitsstunden zu erfassen, so ist dies wenig aussagekräftig. Soll beispielsweise eine Risikoerhöhung gesundheitlicher Beschwerden zwischen zwei Stufen der Arbeitszeit berechnet werden, sind präzise Definitionen der unabhängigen Variable unumgänglich, um vergleichbare und generalisierbare Ergebnisse zu erhalten. Dabei ist allerdings die nur ungenaue Erfassung der wöchentlichen Arbeitszeit bei Befragungen problematisch, in denen z. B. die durchschnittliche Wochenarbeitszeit der Beschäftigten erhoben wird. Sofern die Befragten keinen genauen Arbeitszeitplan vorliegen haben, kann die Angabe einer durchschnittlichen Arbeitszeit (oder der Arbeitszeit in der letzten Woche) nur unpräzise erfolgen. Die Repräsentativität dieser Angaben über die tatsächliche Arbeitszeit der Beschäftigten ist durchaus fraglich, da diese sich auf ihre Erinnerung berufen müssen oder einen grob geschätzten Wert angeben. Pausenzeiten oder Ruhezeiten zwischen zwei Arbeitsperioden werden i. d. R. nicht erfasst, obwohl diese einen großen Einfluss auf die Verteilung der (langen oder kurzen) Arbeitszeiten ausüben und bestimmen, inwieweit sich die Auslenkung des Systems durch die Belastung wieder dem Ausgangswert nähern kann. Zur präzisen Erfassung der Arbeitszeit reicht es demnach eigentlich nicht aus, erinnerte und dadurch ggf. verzerrte Durch-schnittswerte zu erheben. Vielmehr sollten die Arbeits- und Ruhezeiten über einen größeren Zeitraum hinweg tagebuchähnlich aufgeschrieben werden, wenn man zu einer validen Erfassung der Arbeitszeitsysteme gelangen möchte. Einen derartigen Ansatz verfolgten z. B. JANßEN & NACHREINER (2004) in einer Untersuchung zu flexiblen Arbeitszeiten sowie aktuell die GAWO e.V. in einer laufenden Umfrage zu den Zusammenhängen von Arbeitszeit und Gesundheit (www.gawo-ev.de).

Verfügt man nicht über derartige präzise Arbeitszeitaufschreibungen, sondern nur über die häufig verwendeten Durchschnittswerte der wöchentlichen Arbeitszeit, so verhindert dies jedoch nicht die Untersuchung der Zusammenhänge zwischen langen Arbeitszeiten und gesundheitlichen sowie sozialen Beeinträchtigungen. Vielmehr muss dabei von genauen Punktschätzungen der Effekte der Arbeitszeit abgesehen werden, da aufgrund der durchschnittlichen Erfassung der Arbeitszeit große Ungenauigkeiten zu vermuten sind. Es sollten also keine Aussagen über das absolute Niveau von gesundheitlich Beeinträchtigten bei einer bestimmten Arbeits-zeitdauer getroffen werden. Möglich sind hingegen Untersuchungen der strukturellen Zusammenhänge zwischen der Arbeitszeit und der Gesundheit der Beschäftigten.

Die Höhe der gesundheitlichen Beeinträchtigungen kann in verschiedenen Untersuchungen durchaus auf einem unterschiedlichen Niveau liegen, da dieses ohnehin abhängig von der jeweiligen Fragemethode sowie der Belastungsart und -intensität ist. Die Art der Fragestellung sollte sich daher auf den Nachweis gleicher relationaler Strukturen in Form eines Anstiegs der gesundheitlichen und sozialen Beeinträchtigungen der Beschäftigten mit steigender Dauer der Arbeitszeit fokussieren und somit Schätzungen der Struktur dieser Beziehungen ermöglichen.

Eine weitere Einschränkung der oben aufgeführten Studien liegt darin, dass die Dauer der Arbeitszeit nicht unabhängig von der Tätigkeit bzw. der

Belastungs-situation der Beschäftigen zu sehen sein kann. Die Ergebnisse sind daher, insbesondere in Bezug auf Punktschätzungen, von den untersuchten Stichproben und Arten der Tätigkeit abhängig (JOHNSON & LIPSCOMB, 2006). Die Erfassung der Belastungssituation der Beschäftigten und die Kontrolle des Einflusses der Belastung auf die Zusammenhänge von Arbeitsdauer und Beanspruchungsfolgen ist ein leider häufig vernachlässigter Aspekt.

Aufgrund der stichproben- und belastungsbezogenen Effekte ist die Generalisier-barkeit vieler berichteter Ergebnisse eingeschränkt. Allein die Befragung von Erwerbstätigen stellt bereits eine Selektion dar, da alle erwerbsunfähigen oder wegen Erwerbsminderung frühzeitig ausgeschiedenen Personen sowie deren frühere Arbeitsbedingungen nicht berücksichtigt werden können. Dies lässt sich bei der Verwendung von Befragungsdaten nicht ändern, jedoch kann vermutet werden, dass mögliche negative Effekte der Arbeitsdauer auf die Gesundheit durch die Selektion der Beschäftigten tendenziell eher unterschätzt werden. Der Umstand, dass Ältere und/oder Personen in sehr ungünstigen Arbeitsbedingungen oft verhältnismäßig wenig gesundheitliche Beschwerden aufweisen, wird als „Healthy-Worker-Effekt“

bezeichnet. Die Erklärung dafür ist die Bildung von Überlebenspopulationen, welche aus Personen bestehen, die derartige Arbeitsbedingungen ertragen können, wohin-gegen die gesundheitlich beeinträchtigten Personen bereits aus der Erwerbstätigkeit ausgeschieden bzw. in andere Arbeitsbedingungen gewechselt sind. Dies führt dazu, dass gesundheitliche Beeinträchtigungen in den hoch belasteten Gruppen häufig geringer sind als in den mittleren und wenig belasteten Gruppen. Diese Effekte finden meist zu wenig Berücksichtigung bei der Interpretation der Ergebnisse und können zu irreführenden Schlussfolgerungen verleiten, wie etwa der, dass lange Arbeitszeiten eher gesundheitsförderlich seien.

Es wird deutlich, dass zwar negative Auswirkungen langer Arbeitszeiten auf die Gesundheit und das soziale Wohlbefinden der Beschäftigten vermutet werden können, dass aber aufgrund methodischer und anderer beschriebener Ein-schränkungen die bisherigen Ergebnisse nicht als umfassend gesichert gelten können. Aufgrund der zunehmenden Forderung nach einer Ausdehnung der Arbeitszeiten in allen Bezugszeiträumen (tägliche, wöchentliche, monatliche, jährliche, Lebensarbeitszeit) erscheint eine Absicherung der sich andeutenden negativen Effekte langer Arbeitszeiten auf das gesundheitliche und soziale Wohlbefinden der Beschäftigten jedoch als wesentlich. Die Gewinnung gesicherter Erkenntnisse zur Arbeits(zeit)gestaltung ist von großer Bedeutung sowohl für die Gesundheit der Erwerbstätigen, für die Betriebe, die hohe Folgekosten im Fall erhöhter Krankenstände oder Unfallzahlen tragen müssen, als auch für die Gesell-schaft, die wiederum weitgehend die Kosten der Erkrankungen und frühzeitigen Erwerbsminderung trägt und unter einer Minderung des sozialen Engagements leidet.