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Die Neutralität der Schweiz definiert sich über ihren Rechtsstatus, welcher die militärische Nicht-Beteiligung an bewaffneten Konflikten zwischen Drittstaaten beinhaltet. Dieser Verzicht kann immerwährend oder zeitlich begrenzt sein (Schweizerische Eidgenossen-schaft 2009, 25). Der Kerngedanke der Neutralität bezieht sich somit auf die Haltung der Schweiz gegenüber militärischen Konflikten zwischen Drittstaaten (Goetschel 2007).

Die schweizerische Neutralität zeichnet sich durch drei Merkmale aus: Sie ist selbstge-wählt, immerwährend (mit der Option des freien Verzichtes) und bewaffnet (Schweizerische Eidgenossenschaft 2004, 2).

Die Schöpfer der Bundesverfassung von 1848 betrachteten die Neutralität als ein Ins-trument zur Wahrung der Unabhängigkeit, weshalb sie nicht in den Zweckartikel der Bundesverfassung aufgenommen wurde. Vielmehr sind der Bundesrat und die Bundesver-sammlung dafür zuständig, dass die Neutralität von der Schweiz international eingehalten und respektiert wird (Schweizerische Eidgenossenschaft 2004, 11). Bei der Anerkennung der Schweizer Neutralität durch den Wiener Kongress 1815 wurde die Neutralität auch als Dienst an der Völkergemeinschaft begriffen. Die Neutralität und Unabhängigkeit der Schweiz sollten auch zur Stabilisierung Europas beitragen. Damit hat die Neutralität, neben der innenpolitisch relevanten Funktion als kritisches Element für die Ausgestaltung der nationalen Sicherheitspolitik im internationalen Rahmen, auch eine friedens- und sicherheitspolitische Funktion für Europa (Fanzun & Lehmann 2000).

Die Haager Übereinkommen von 1907 regeln bis heute die Rechte und Pflichten eines neutralen Staates, wobei deren Anwendung in Bezug auf die zunehmend häufiger vorkommenden innerstaatlichen Konflikte nicht bedacht wurde (Schweizerische Eidgenos-senschaft 2004, 11). Das wichtigste Recht eines neutralen Staates ist die Unverletzbarkeit des eigenen souveränen Territoriums. Die Pflichten eines neutralen Staates sind vielfältig.

Die Teilnahme an bewaffneten Konflikten zwischen Drittstaaten ist ebenso verboten wie die Unterstützung von kriegführenden Parteien mit Waffen und Truppen oder die Mit-gliedschaft in einer militärischen Allianz wie der Nato. Zudem müssen neutrale Staaten in der Lage sein, ihr Territorium militärisch selbst zu verteidigen (Schweizerische Eidge-nossenschaft 2004,11). Das Festhalten an der Schweizer Neutralität bedingt entsprechend eine langfristig kohärente Politik zur Vermeidung jeglicher Entschlüsse, welche die Rechte

und Pflichten der Haager Übereinkommen verletzen würden (Schwok 2014). Konkret bedeutet dies einerseits die Nichtbeteiligung der Schweiz an internationalen Organi-sationen mit sicherheitspolitischen Aufgaben, bei denen eine Beistandsverpflichtung besteht und andererseits ein Verzicht der Schweiz, sich an diskriminierenden Sanktionen gegenüber einer einzelnen Partei zu beteiligen (Schwok 2014). Der Nordatlantikvertrag sieht so eine Beistandsverpflichtung vor. Gemäss Artikel 5 verpflichten sich die Partei-en der Nato im Falle eines Angriffes auf ein Nato Mitglied «unverzüglich für sich und im Zusammenwirken mit den anderen Parteien die Massnahmen, einschliesslich der Anwendung von Waffengewalt […]» (Nato 1949, Art. 5) zu treffen, um der angegriffenen Nation Beistand zu leisten.

Das Neutralitätsrecht findet allerdings für Wirtschaftssanktionen der Vereinten Nati-onen (Uno) und der EU keine Anwendung. Jeder neutrale Staat entscheidet eigenständig und souverän, ob er sich an Wirtschaftssanktionen beteiligt oder nicht (Schweizerische Eidgenossenschaft 2004, 12 – 13). Rechtliche Massnahmen, welche der Sicherheitsrat der Uno im Namen der internationalen Gemeinschaft für die Wiederherstellung des Frie-dens gefasst hat, dürfen mitgetragen werden, ohne dass dadurch das Neutralitätsrecht verletzt wird (Vereinte Nationen 1945). Liegt jedoch, wie im Falle des Irak-Konfliktes 2003 keine Uno-Resolution vor, mit welcher der Uno-Sicherheitsrat ein militärisches Eingreifen autorisiert, muss die Schweiz die oben beschriebenen Rechte und Pflichten wahrnehmen, die sich aus ihrem Status als neutraler Staat ergeben und darf weder poli-tisch noch militärisch aktiv werden (Schweizerische Eidgenossenschaft 2004, 9). Durch die geografische Nähe und die wirtschaftlichen Interdependenzen2 ist es für die Schweiz allerdings kaum mehr möglich, wirtschaftliche Sanktionen der EU nicht mitzutragen.

Goetschel (2007, 86) sieht daher die (wirtschafts-) politische Relevanz der Neutralität auf dem Rückzug (siehe auch Schweizerische Eidgenossenschaft 2016a).

Da die Neutralität zu gewissen Teilen vom weltpolitischen Kontext abhängig ist, haben sich deren Auslegung und Interpretationen über die Jahre hinweg verändert. Dies, obwohl die Neutralität ein völkerrechtlich verankertes Konzept ist, dessen Handhabung von Fall zu Fall im Ermessen der politischen Handlungsträger liegt (Goetschel 2007). 1920 trat die Schweiz dem Völkerbund bei und war fortan berechtigt, die dort vereinbarten Wirtschaftssanktionen mitzutragen. Damit wurde erstmals ein differenzielles Neutrali-tätsverständnis (Möglichkeit zur Einsetzung von Friedenstruppen sowie der Beteiligung an wirtschaftlichen Sanktionen gegenüber sanktionierten Staaten) in der Schweiz ange-wandt. Nach den erfolglosen Sanktionen des Völkerbunds gegenüber Italien wechselte 1938 die Schweiz wieder von der differenziellen zur absoluten/integralen Auslegung der Neutralität (weder militärische noch wirtschaftliche Sanktionen gegenüber anderen

Staa-2 Gegenseitige Abhängigkeiten zwischen Akteur*innen bei ihrer Aufgabenerfüllung.

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ten) zurück. Das integrale/absolute Verständnis der Neutralität, welches während beiden Weltkriegen angewandt wurde, verwehrte jegliche militärische Beteiligung der Schweiz an zwischenstaatlichen Konflikten sowie an wirtschaftlichen Sanktionen.

Mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges veränderte sich das Neutralitätsverständnis erneut. Die Entsendung von militärischen Beobachter*innen zur Überprüfung der Ein-haltung der Waffenstillstandslinie (Demarkationslinie) zwischen Nord- und Südkorea führte dazu, dass seit 1953 ein aktives Neutralitätsverständnis angewandt wird. Dieses ermöglichte es der Schweiz aktiv an Friedenssicherungsmissionen teilzunehmen und mit anderen Staaten militärisch zu kooperieren (Schweizerische Eidgenossenschaft 2004, 12f.).

Die Auflösung der bipolaren Weltordnung 1989 veränderte die Bedrohungslage aber-mals und die Schweiz passte ihr Neutralitätsverständnis ein weiteres Mal an. Im Zuge der Zunahme innerstaatlicher Konflikte und terroristischer Angriffe, aber auch durch die steigende wirtschaftliche Verflechtung (Interdependenz), baute die Schweiz ihre internati-onale Kooperation in der Aussen- und Sicherheitspolitik konsequent aus (Schweizerische Eidgenossenschaft 2004, 15). So beschloss der Bundesrat während des ersten Golfkrieges 1990/1991 den autonomen Nachvollzug der Wirtschaftssanktionen der Uno. Damit wurde die Neutralität wieder auf eine «differenzielle Art und Weise» interpretiert, welche die Teilnahme an wirtschaftlichen Sanktionen und an nichtmilitärischen internationalen Organisationen grundsätzlich erlaubt (Schweizerische Eidgenossenschaft 2004, 18) – allerdings ohne den Begriff «differenziell» explizit zu benutzen.

Die Schweizer Neutralitätspolitik verunmöglicht allerdings die Mitwirkung oder eine Mitgliedschaft der Schweiz in internationalen Organisationen, wie der Uno, nicht. Im Janu-ar 2002 sprachen sich im Rahmen der Studie «Sicherheit 2002» 58% der Schweizer*innen für einen Uno-Beitritt der Schweiz aus (Haltiner et al. 2002, 93; im Abschnitt 7.4 wird detailliert auf die Einstellungen gegenüber der Uno eingegangen). Am 3. März 2002 befürworteten 54.6% der Schweizer Stimmbevölkerung die Volksinitiative zum Schweizer Beitritt zur Uno (Schweizerische Eidgenossenschaft 2009, 33; gfs.bern 2002). Mit dem Uno-Beitritt verpflichtete sich die Schweiz, die wirtschaftlichen Sanktionen der Uno mitzutragen und deren militärische Sanktionen zumindest nicht zu behindern (Schwei-zerische Eidgenossenschaft 2004).

Ist ein Beitritt der Schweiz zur EU oder zur Nato mit der Schweizer Neutralitäts-politik vereinbar? Diese Debatte beschäftigte Schweizer*innen in der Vergangenheit immer wieder. Grundsätzlich wäre ein EU-Beitritt der Schweiz mit dem Neutralitäts-recht insofern vereinbar, solange die EU keine für alle Mitglieder bindende gegenseitige militärische Beistandspflicht einführen würde (Schweizerische Eidgenossenschaft 2004, 13). Beispielsweise sind Finnland, Irland, Malta, Österreich und Schweden neutrale EU-Mitgliedsstaaten. Die fünf Genannten kooperieren mit der Nato, ohne dabei dem Bündnis beigetreten zu sein. Während die beiden skandinavischen Länder Finnland und

Schweden die Bezeichnung «neutral» durch den Begriff «Bündnisfreiheit» ersetzt haben, halten Österreich, Irland und Malta an der klassischen Neutralität fest (Lottaz 2019).

Aufgrund der Klausel der gegenseitigen militärischen Beistandspflicht im Falle eines Konflikts ist ein Nato-Beitritt der Schweiz nicht mit dem Kerngedanken der Neutralität vereinbar. Die gegenseitige militärische Beistandspflicht ist somit das kritische Element, welches über einen allfälligen Beitritt der Schweiz zu verschiedenen internationalen und supranationalen Organisationen (EU und Nato) entscheidet. Sowohl das absolute/inte-grale als auch das differenzielle Neutralitätsverständnis verbieten diese Art der gegensei-tigen militärischen Beistandspflicht. Die Neutralität hat damit auch das Potenzial, den Beitritt der Schweiz zur EU direkt oder indirekt zu verunmöglichen (Morris & White 2011). Der Rückgang an klassischen zwischenstaatlichen Konflikten und die zeitgleiche Zunahme an nichtmilitärischen Bedrohungen stellen das Festhalten an der klassischen Neutralitätspolitik aber in Frage (Goetschel 2007). Tabelle 6.1 zeigt die Entwicklung der Interpretation der Schweizer Neutralität auf.

Tabelle 6.1

Neutralitätsverständnisse und deren Implikationen für die Schweizer Politik

Neutralitätsverständnis Definition und Anwendung Aussenpolitische Bedeutung Absolute/integrale Neutralität

1815 – 1920 und 1938 – 1953

Die Schweiz bleibt sowohl bei wirtschaftlichen Sanktionen wie auch bei militärischen Massnahmen neutral.

Die Schweiz ist komplett neutral und unterlässt jegliche Teilnahme an Konflikten, Sanktionen oder Frie-denssicherungsmissionen.

Differenzielle Neutralität 1920 – 1938 und 1990 – heute*

* Wird heute jedoch nicht mehr als solche bezeichnet

Die Schweiz beteiligt sich zwar an wirt-schaftlichen Sanktionen, aber nicht an militärischen Massnahmen.

(Wobei Entschlüsse des Uno Sicher-heitsrates gemäss Kapitel XII der Charta nicht mit Kriegen gleichgesetzt sind und demnach prinzipiell zulässig wären.)

Die Schweiz verzichtet auf eine militärische Beteiligung an Konflikten, kann jedoch unbewaffne-te oder zum Selbstschutz bewaffneunbewaffne-te Friedenstruppen entsenden und sich an wirtschaftlichen Sanktionen beteiligen.

Aktive Neutralität

1953 – 1989 Die Schweiz beteiligt sich nicht an wirt-schaftlichen Sanktionen aber an friedens-fördernden Massnahmen.

Durch eine aktive und solidarische Aussenpolitik hat die Schweiz die Möglichkeit, auf diplomatischer Ebene an verschiedenen friedensfördernden Missionen teilzunehmen.

Die Schweiz verzichtet weiterhin auf eine militärische Beteiligung an Konflikten. Sie kann jedoch Staaten, welche beispielsweise die Genfer Konventionen verletzen öffentlich tadeln und Verhandlungen zur Frie-densförderung implementieren.

Die betreffend die Teilnahme an Wirtschaftssanktionen und dem Beitritt zu internatio-nalen Organisationen flexible und gleichzeitig betreffend die Nicht-Teilnahme an militä-rischen Massnahmen strikte Auslegung der Neutralität führten zu einem vielschichtigen Verständnis der Neutralität innerhalb der Schweizer Bevölkerung, dessen Verlauf im Folgenden näher betrachtet wird.

Hinter dem semantischen Begriff «Schweizer Neutralität» vereinigen sich viele ver-schiedene Auffassungen sowie unterschiedliche Verständnisse über deren Funktionen. In

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der Studienreihe «Sicherheit» werden zehn Dimensionen der Neutralität unterschieden und das Neutralitätsverständnis anhand dieser Messdimensionen mit zwölf verschiedenen Items erhoben (siehe Tabelle 6.2).

Tabelle 6.2

Erhebung der verschiedenen Auffassungen und Funktionen der Neutralität

Hauptdimension Unterdimension Item

Allgemeine Einstellung zur Neutralität

Neutralitätsprinzip «Die Schweiz sollte ihre Neutralität beibehalten.»

Differenzielle Neutralität «Die Schweiz sollte bei politischen Konflikten im Ausland klar Stellung für die eine oder andere Seite beziehen, bei militärischen Konflikten aber neutral bleiben.»

De-facto-Aufgabe der

Neutralität «Die Schweiz sollte bei militärischen Konflikten im Ausland klar Stellung für die eine oder andere Seite beziehen.»

Neutralitätsfunk-tionen

Solidaritätsfunktion,

Vermittlerrolle «Dank der Neutralität kann die Schweiz in Konflikten vermitteln und international Gute Dienste leisten.»

Identitätsfunktion «Die Neutralität ist untrennbar mit unserem Staatsgedanken verbunden.»

Sicherheits-politische Funk-tionen der Neutralität

Schutz vor Konflikten «Dank der Neutralität werden wir nicht in internationale Konflikte hineingezogen.»

Sicherheit und Stabilität «Die bewaffnete Neutralität von der Schweiz trägt zur Sicherheit und Stabilität in Europa bei»

Bewaffnete Neutralität «Die Neutralität kann heute militärisch nicht mehr glaubhaft geschützt werden.»

Schutzwirkung eines militärischen Bünd-nisses

«Die Mitgliedschaft in einem europäischen Verteidigungsbündnis würde uns mehr Sicherheit bringen als die Beibehaltung

der Neutralität.»

«Unsere enge politische und wirtschaftliche Verflechtung mit anderen Staaten verunmöglicht Neutralität.»

Neutralität als

Kooperationshindernis «Die Neutralität könnte uns künftig daran hindern, gemeinsam mit unseren europäischen Nachbarn zu handeln.»

Neutralität als finaler

Wert «Sobald die Neutralität der Schweiz keine Vorteile mehr bringt, sollten wir sie aufgeben.»

Abbildung 6.1 zeigt die verschiedenen Stufen einer möglichen Kooperationsbereitschaft der Schweiz mit Akteuren der internationalen Politik. Die Kooperationsbereitschaft hängt dabei wesentlich von der Auslegung der Neutralität ab. Die Anwendung des dif-ferenziellen Neutralitätsverständnisses (militärisch neutral bleiben, aber Wirtschafts-sanktionen mittragen) ermöglicht es der Schweiz, einen Mittelweg zwischen Öffnung und Autonomie zu wählen. Wobei die maximale Öffnungsbereitschaft der Schweiz einer de-facto-Aufgabe der Neutralität (bei militärischen Konflikten im Ausland klar Stellung beziehen) entspricht; während die maximale Autonomie auf einem absoluten/integralen Neutralitätsverständnis (politisch und militärisch neutral bleiben) basiert.

Abbildung 6.1

Kontinuum von maximaler Öffnungsbereitschaft zu maximaler Autonomie. Darstellung anhand des Fragenkatalogs der Studienreihenreihe «Sicherheit».

Beitritte (EU/Nato)

Annäherung (EU/Nato)

Öffnung ohne Beitritt (+Konfliktvermittlung, +Entwicklungshilfe)

Verzicht differenzielle

absolute

Wirtschaftlich und politisch möglichst unabhängig bleiben (Optimierung Unabhängigkeit)

Nur auf eigene Landesverteidigung verlassen

Fernhalten von jeglichen Bündnissen und Zusammenschlüssen

(Maximierung der Unabhängigkeit) Neutralität

Öffnung

Autonomie

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