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Da die Schweizer Neutralität historisch betrachtet verschiedene Ziele verfolgte (Schwei-zerische Eidgenossenschaft 2004, 21), sind im Schweizer Staatsrecht unterschiedliche Neutralitätsfunktionen definiert. Seit 1993 gilt eines der Interessen der Studienreihe

«Sicherheit» der Bevölkerungswahrnehmung dreier ausgewählter Funktionen der Neutra-lität: der Solidaritätsfunktion, der Identitätsfunktion und der sicherheitspolitischen Funktion.4 Mit der äusserst hohen Zustimmung der Schweizer Bevölkerung zur Beibehaltung der Neutralität gehen grundsätzlich auch hohe Befürwortungen der verschiedenen Neutra-litätsfunktionen einher.

4 Für eine ausführliche Beschreibung der Funktionen vgl. Haltiner & Spillmann 1994.

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Solidaritäts- und Identitätsfunktion

Die Solidaritätsfunktion – die Ansicht, dass die Schweiz dank der Neutralität in Kon-flikten vermitteln und Gute Dienste leisten kann – erhält mit 95% zwar den höchsten je erhobenen Wert, bleibt aber statistisch betrachtet unverändert (+1 Pp, siehe Abbildung 6.3, blaue Linie). Die Zustimmung zur Identitätsfunktion – die Neutralität ist untrenn-bar mit unserem Staatsgedanken verbunden – bleibt im Vergleich zum Vorjahr ebenfalls statistisch unverändert und liegt aktuell bei 86% (+1 Pp) (Abbildung 6.3, orange Linie).

Nur 2015 wurde ein höherer Wert für die Zustimmung zur Identitätsfunktion gemessen.

Mit dem aktuellen Erhebungsjahr setzt sich der Trend des parallelen Verlaufs der beiden Zustimmungslinien weiter fort. Beide Werte liegen deutlich über ihrem langjährigen Jah-resdurchschnitt von 90% Zustimmung zur Solidaritätsfunktion respektive 78% Zuspruch für die Identitätsfunktion der Neutralität.

Abbildung 6.3

Solidaritäts- und Identitätsfunktion

«Heute hört man auch Meinungen, die den Wert der Neutralität unterschiedlich beurteilen. Welchen der folgenden Aussagen würden Sie zustimmen?»

(«sehr» und «eher» einverstanden in Prozent, gerundet)

Si/1031/20

«Dank der Neutralität kann die Schweiz in Konflikten vermitteln und international Gute Dienste leisten.»

«Die Neutralität ist untrennbar mit unserem Staatsgedanken verbunden.»

´93 (1003) ´95/II (801) ´97 (1014) ´99 (1201) ´00 (1202) ´01 (1235) ´02 (1201) ´03 (1202) ´04 (1200) ´05 (1200) ´06 (1200) ´07 (1200) ´08 (1200) ´09 (1200) ´10 (1200) ´11 (1200) ´12 (1200) ´13 (1200) ´14 (1200) ´15 (1239) ´16 (1211) ´17 (1209) ´18 (1209) ´19 (1213) ´20 (1227)

85 84 85 86 86

83 85 88 90 88 90 90 91 92 93 89 93 92 94 93 93 94 94 94 95 86 87 85 84 85 85 86 83 84

81 79 81 83 80 80 75 74 71 72 69 67 70 71

73 69

Soziodemografische Einflüsse: Insgesamt sind 96% der Männer «sehr» oder «eher» ein-verstanden damit, dass die Schweiz aufgrund der Neutralität einen Beitrag zur internatio-nalen Solidarität leistet. Frauen unterscheiden sich von den Männern zwar nur geringfü-gig, aber statistisch signifikant (94%; CC=0.13). Die Geschlechterunterschiede zeigen sich deutlicher bei der Betrachtung der Zustimmungsstärke. 60% der männlichen Befragten sind «sehr» damit einverstanden, während bei den weiblichen Befragten nur 47% «sehr»

einverstanden sind. Das gegenteilige Muster zeigt sich bei der Antwortkategorie «eher»

einverstanden (Männer: 36%, Frauen: 47%). Männer polarisieren bei der Zustimmung zur Solidaritätsfunktion damit stärker als Frauen, auch wenn beide Geschlechtergruppen auf einem ähnlich hohen Niveau zustimmen.

Des Weiteren stimmen, wie bereits im letzten Jahr, Schweizer*innen mit einem tiefen Bildungsniveau der Solidaritätsfunktion der Neutralität signifikant weniger stark zu als Schweizer*innen mit hoher Bildung (tief: 91%, mittel: 94%, hoch: 96%; γ=–0.17).

Von den jeweils untersuchten soziodemografischen Einflüssen, hat nur die politische Selbsteinschätzung einen Zusammenhang auf die Zustimmung zur Identitätsfunktion der Neutralität – die Neutralität ist untrennbar mit unserem Staatsgedanken verbunden. Die tiefste Zustimmung stammt von Personen des politisch linken Spektrums, welche sich signifikant von Personen der politischen Mitte und rechts davon unterscheiden (links:

82%, Mitte: 88%, rechts: 89%; γ=–0.14).

Weitere signifikante Unterschiede: Die Zustimmung zur Neutralität korreliert stark mit der Zustimmung zu den verschiedenen Funktionen der Neutralität. Schweizer*innen, welche die Neutralität befürworten, stimmen auch der Identitätsfunktion (γ=0.54) und der Solidaritätsfunktion der Neutralität (γ=0.54) eher zu. Die starke Korrelation zwischen der Zustimmung zum Neutralitätsprinzip und der Identitätsfunktion der Neutralität lässt darauf schliessen, dass die Neutralität als ein zentraler Teil der Schweizer Identität betrach-tet wird. Befürworter*innen der Identitätsfunktion sind eher nicht bereit, die Neutralität aufzugeben, auch wenn sie keine Vorteile mehr für die Schweiz bringen sollte (γ=–0.42).

Sicherheitspolitische Funktionen der Neutralität

Im klassischen Diskurs galt die Neutralität primär als ein sicherheitspolitisches Instru-ment. Die Einstellung gegenüber den sicherheitspolitischen Funktionen der Neutralität hat sich in diesem Jahr im Vergleich zu 2019 nicht signifikant verändert (siehe Abbildung 6.4). Deren Zustimmungswerte sind über die letzten Jahre relativ stabil und deutlich tiefer als die der Identitäts- und Solidaritätsfunktion.

Sicherheit 2020

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Abbildung 6.4

Sicherheitspolitische Funktion

Si/277/20

«Dank der Neutralität werden wir nicht in internationale Konflikte hineingezogen.»

«Die bewaffnete Neutralität der Schweiz trägt zur Sicherheit und Stabilität in Europa bei.»

«Die Neutralität kann heute militärisch nicht mehr glaubhaft geschützt werden.»

«Die Mitgliedschaft in einem europäischen Verteidigungsbündnis würde uns mehr Sicherheit bringen als die Beibehaltung der Neutralität.»

«Heute hört man immer mehr auch Meinungen, die den Wert der Neutralität unterschiedlich beurteilen.

Welchen der folgenden Aussagen würden Sie zustimmen?»

(«sehr» und «eher» einverstanden in Prozent, gerundet)

´93 (1003) ´95/II (801) ´97 (1014) ´99 (1201) ´00 (1202) ´01 (1235) ´02 (1201) ´03 (1202) ´04 (1200) ´05 (1200) ´06 (1200) ´07 (1200) ´08 (1200) ´09 (1200) ´10 (1200) ´11 (1200) ´12 (1200) ´13 (1200) ´14 (1200) ´15 (1239) ´16 (1211) ´17 (1209) ´18 (1209) ´19 (1213) ´20 (1227)

Abbildung 6.4 zeigt die prozentuale Zustimmung zu den vier verschiedenen sicherheits-politischen Funktionen der Neutralität über den gesamten Erhebungszeitraum. Alle aktuellen Zustimmungswerte der verschiedenen sicherheitspolitischen Funktionen liegen statistisch unverändert, aber über denen des Vorjahres.

Über zwei Drittel (67%, +3 Pp) der Schweizer Stimmbürger*innen sind der Auffassung, dass die Schweiz dank der Neutralität nicht in internationale Konflikte hineingezogen wird (orange Linie). Diese Zustimmungsrate liegt klar über dem langjährigen Schnitt von 61% und wurde nur noch 1995, 2013 und 2017 erreicht. 60% (+2 Pp) der Befragten sehen in der Neutralität einen Beitrag der Schweiz für die Sicherheit und Stabilität Euro-pas (blaue Linie, langjähriger Schnitt: 54%). Die Zustimmungswerte zu den Ansichten, dass Neutralität als Schutz vor internationalen Konflikten wirkt respektive einen Beitrag

zur Stabilität Europas leistet, erfahren im Trend damit seit der Jahrhundertwende einen leichten, wenn auch wechselhaften Zuwachs.

Ein weiterer integraler Bestandteil des schweizerischen Neutralitätskonzepts ist die Auffassung, wonach die Schweiz im Ernstfall fähig sein muss, ihre Neutralität militä-risch glaubhaft verteidigen zu können. Über alle Erhebungswellen hinweggesehen sind sich Schweizer*innen uneins, ob die Neutralität heute militärisch nicht mehr glaubhaft geschützt werden kann (langjähriger Schnitt: 47% Zustimmung). In der aktuellen Erhe-bungswelle liegt die Zustimmung mit 51% leicht über dem langjährigen Schnitt von 47%

und bewegt sich auf ähnlichem Niveau wie in den vergangenen drei Jahren. Nichtsdesto-trotz wird die sicherheitspolitische Alternative – in der Form einer Kooperation in einem europäischen Verteidigungsbündnis – weiterhin nur von einer Minderheit bevorzugt (24%, +1 Pp). Dies entspricht dem Trend der letzten Jahre: Ein Beitritt zu einem europä-ischen Verteidigungsbündnis wird grossmehrheitlich abgelehnt (Durchschnitt 2011 bis 2020: 25% Zustimmung).

Soziodemografische Einflüsse: Für die vier gestellten Items der sicherheitspolitischen Funktion der Neutralität gilt, dass es keinen signifikanten Zusammenhang mit dem Alter, dem Bildungsniveau oder dem Einkommen der Befragten gibt und damit die Antworten unabhängig von diesen drei soziodemografischen Einflüssen variieren.

Die Ansicht, dass wir dank der Neutralität nicht in internationale Konflikte verwickelt werden, wird in den drei Sprachregionen signifikant unterschiedlich stark unterstützt (D-CH: 68%, F-CH: 60%, Tessin: 82%; CC=0.15).

Die politische Selbsteinstufung korreliert mit allen vier Ansichten der sicherheitspoliti-schen Funktion der Neutralität. Stimmbürger*innen, die sich politisch rechts einordnen, sind signifikant häufiger der Meinung, dass die Schweiz dank der Neutralität nicht in internationale Konflikte hineingezogen werden würde, als Personen, die sich links oder in der Mitte positionieren (links: 64%, Mitte: 66%, rechts: 72%; γ=0.12). Politisch links orientierte Schweizer*innen sind nur zu 49% der Ansicht, dass die bewaffnete Neutra-lität der Schweiz zur Sicherheit in Europa beiträgt. Die sich politisch in der Mitte und rechts davon Orientierten stimmen der bewaffneten Neutralität mehrheitlich zu (links:

49%, Mitte: 64%, rechts: 66%; γ=–0.24). Politisch links eingestellte Schweizer*innen (56%) sind signifikant skeptischer, wenn es um die Machbarkeit der militärischen Ver-teidigung der Neutralität geht, als politisch rechts orientierte Schweizer*innen (links:

56%, Mitte: 50%, rechts: 48%; γ=–0.16). Aber beide politischen Lager (Mitte und rechts) sind statistisch betrachtet derselben Meinung und nicht einig, ob die Schweiz diese Auf-gabe wirklich wahrnehmen kann. Die politische Mitte und politisch rechts orientierte Schweizer*innen lehnen ein europäisches Verteidigungsbündnis signifikant stärker ab als die politisch links orientierten Befragten. (links: 27%, Mitte: 26%, rechts: 19%; γ=0.19).

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Über alle soziodemografischen Merkmale hinweg ist die Zustimmung zu einem euro-päischen Verteidigungsbündnis jedoch sehr tief. Jeweils nur eine Minderheit zieht ein Verteidigungsbündnis für die Schweiz der eigenen Landesverteidigung vor.

Weitere signifikante Unterschiede: Die Aussagen, dass die Neutralität der Schweiz zur Sicherheit und Stabilität in Europa beiträgt sowie dass die Neutralität heute militärisch nicht mehr glaubhaft geschützt werden kann, stehen in Zusammenhang mit der Stär-ke der Armeebefürwortung. Schweizer*innen, welche die Armee für notwendig halten (γ=0.48), zufriedener mit der Leistung der Schweizer Armee sind (γ=0.36), der Armee stärker vertrauen (γ=0.40) sowie sich für eine «vollständig ausgerüstete» Armee ausspre-chen (γ=0.48) sind auch verstärkt mit der Aussage einverstanden, dass die Schweizer Neutralität zur Sicherheit und Stabilität in Europa beiträgt. Ein sehr ähnliches wenn auch etwas schwächeres Bild ergibt sich für die Aussage, dass die Neutralität noch immer glaubhaft geschützt werden kann. Befürworter*innen dieser Ansicht halten die Armee für notwendig (γ=0.28), sind mit der Leistung der Armee zufrieden (γ=0.21), vertrau-en der Armee stärker (γ=0.23) und unterstützvertrau-en eine «vollständig ausgerüstete» Armee (γ=0.26). Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass Armeebefürworter*innen die sicherheitspolitische Funktion der Neutralität als gegeben ansehen, wohingegen Armeegegner*innen an der sicherheitspolitischen Funktion der Neutralität zweifeln.

Allerdings kann anhand der Daten deren Kausalität nicht vollends geklärt werden.

Die Zustimmung einer Person zu einem europäischen Verteidigungsbündnis steht in engem Zusammenhang mit ihrer Befürwortung eines Beitritts der Schweiz zur EU (vgl. Abschnitt 7.2). Wer einen EU- oder Nato-Beitritt der Schweiz befürwortet, stimmt auch deutlich häufiger einem europäischen Verteidigungsbündnis zu (EU-Beitritt: γ=0.55;

Nato-Beitritt: γ=0.39). Je stärker die Neutralität abgelehnt wird, desto stärker findet ein europäisches Verteidigungsbündnis Unterstützung (γ=–0.58).

Die Solidaritäts- und Identitätsfunktion der Neutralität unterscheiden sich von der sicherheitspolitischen Dimension sowohl hinsichtlich der stärkeren Befürwortung als auch im langfristigen Trend. Seit der erstmaligen Erhebung im Jahr 1993 verlaufen die Entwicklungen der Zustimmung zur Solidaritäts- und Identitätsfunktion beinahe parallel zu jener der allgemeinen Neutralität. Die Unterstützung beider Dimensionen war in den Neunzigerjahren des 20. Jahrhunderts stabil, jedoch weniger breit abgestützt als nach 2002. Auch die Zustimmung zu den sicherheitspolitischen Funktionen der Neutralität scheint sich nach 2002 tendenziell erhöht zu haben. Es scheint, dass mit der veränderten Bedrohungswahrnehmung nach den Anschlägen vom 11. September 2001 in New York die früheren Zweifel an der schweizerischen Sicherheitspolitik abgenommen haben. Die Zunahme ist jedoch verglichen mit der Solidaritäts- und Identitätsfunktion weniger

deutlich ausgeprägt und auf einem tieferen Niveau. Die Zustimmung zur sicherheitspo-litischen Dimension der Neutralität spaltet sich hauptsächlich entlang der posicherheitspo-litischen Zugehörigkeit der Schweizer*innen. Der Trend der Vergangenheit bestätigt sich auch 2020: Schweizer Stimmbürger*innen sind sich uneins, ob die Schweiz im Ernstfall fähig wäre, ihre Neutralität militärisch glaubhaft verteidigen zu können.

6.4 Neutralität: Instrument der Aussenpolitik,