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2. Gütergewerbereform und Historismus

2.3 John Ruskin: The Stones of Venice

2.3.1 Ruskins Hauptmerkmale der Kunst der Gotik

Ruskin unternimmt im Kapitel The Nature of Gothic im zweiten Band seines Buches The Stones of Venice den Versuch, die Wesensmerkmale des gotischen Stils zu bestimmen. In einem Brief an seinen Vater vom Februar 1852 beschreibt er sein Vorhaben folgenderma-ßen: „I shall show that the greatest distinctive character of Gothic is in the workman’s heart and mind; but its outward distinctive test is the trefoiled arch, not the mere point.“92 Um den Geist einer Epoche und seine Qualitäten zu bestimmen, nimmt Ruskin eine Kategorisie-rung von Ornamentformen vor, die da lautet: Serviles Ornament, Rechtmäßiges Ornament und Revolutionäres Ornament. Im ersten Fall, dem Servilen Ornament, ist der Ausführen-de Ausführen-des Ornaments und seine Kraftanwendung völlig Ausführen-dem Intellekt Ausführen-der ihm übergeordneten Person im Bauprozess unterworfen. Im zweiten Fall, dem Rechtmäßigen Ornament, ist die ausführende Person ebenfalls untergeordnet, allerdings nur bis zu einem gewissen Punkt, aber darüber hinaus emanzipiert und unabhängig. Sie ist ausgestattet mit einem eigenen Willen, der sich aber die eigene Unterlegenheit eingesteht und dementsprechend folgsam der übergeordneten Instanz gegenüber ist. Im dritten Fall, dem Revolutionären Ornament, wird keine Untergebenheit bei der Ausführung ausgemacht. Die ausführende Person kann ihre schöpferischen Kräfte uneingeschränkt zum Zuge bringen, ohne irgendjemand Folge leisten zu müssen.

Nach dieser Einteilung ordnet Ruskin das Ornament der griechischen Epoche dem Servilen Ornament mit der Begründung zu, dass der griechische Meisterhandwerker keine Unvollkommenheit ertragen könne, weswegen er seinen Untergebenen anweist nur einfa-che geometriseinfa-che Formen auszuführen. Sie könnten mit Schnur und Lineal perfekt ausge-führt werden, genauso wie die Skulpturen des Meisters selber. Der griechische Vorarbeiter würde seinen untergebenen Handwerkern kein Motiv vorgeben, welches dieser nicht per-fekt ausführen könne.

Ruskin ordnet die ornamentalen Schmuckformen aus assyrischer und ägyptischer Zeit ebenfalls dem Servilen Ornament zu, wobei er aber eine Unterscheidung gegenüber der griechischen Epoche vornimmt. Die assyrischen und ägyptischen Meister wussten weniger über die perfekten Formen und überließen auch den untergebenen Arbeitern skulpturale Aufgaben. Dazu setzten sie den Standard in der Figurenbehandlung soweit herab, dass jeder Arbeiter diesen erreichen konnte und lehrten sie durch straffes Training soweit, dass sie auch nicht mehr unter diesen Standard fallen könnten. Der assyrische Meister stelle

92 Cook 1903–1912, Bd. 10, S. 180.

seinen Untergebenen Aufgaben, die sie nur unvollkommen ausführen konnten, doch eta-blierten sie einen festen Standard für die Unvollkommenheit. Ruskins Fazit zu diesen Epo-chen ist, dass der Arbeiter ein Sklave war, um dann mit der Darstellung des mittelalterli-chen respektive christlimittelalterli-chen Ornamentsystems fortzufahren, in dem die Sklaverei abge-schafft worden wäre. Denn hier sei die Unvollkommenheit erlaubt, man stehe zu ihr, wo-hingegen sie sich für die Griechen und Assyrer sehr schmerzhaft anfühle.

Daraufhin legt Ruskin in seinem Text die für ihn wichtigsten Charakteristika der Kunst der Gotik dar. In sechs Punkten beschreibt Ruskin, was den Geist des Handwerkers ge-nau ausmacht und wie diese Eigenschaften sich in formal-ästhetischer Hinsicht in den Ge-bäudeteilen und deren Verzierungen niederschlagen. Im Prinzip vertieft er damit seine Ausführungen über das Revolutionäre Ornament, wobei er aber die Betrachtung von der Organisation des Werksetzungsprozesses hin zur Ausführung und der KünstlerIn selbst verschiebt. Nach Ruskin sind die ersten beiden wichtigsten Merkmale zur Bestimmung der moralischen Elemente des gotischen Wesens ihre Unzivilisiertheit und ihr Abwechslungs-reichtum.

Im Sinne der Unzivilisiertheit, oder angemessener gefasst Rohheit, des gotischen Handwerkers argumentiert er, dürfe nicht auf die perfekte Ausführung eines jeden Gegen-standes im Produktionsprozess bestanden werden. Ruskin plädiert dafür die Arbeitenden mit ihren Schwächen zu akzeptieren und Fehler in der manuellen Ausführung hinzuneh-men. Wie er schreibt, müsse in den Arbeitenden nach ihrem nachdenklichen, gedanken-vollen Teil gesucht werden. Diesen gelte es zu fördern. Es sei möglich dem Menschen zu lehren eine gerade und gekrümmte Linie zu zeichnen, sie auszuschneiden und diese zu reproduzieren auch in jedweden anderen Formen und in angemessener Zeit und perfekter Ausführung. Wenn der Mensch aber aufgefordert würde, darüber nachzudenken eine bes-sere Form in seinem Kopf zu finden, seine Ausführung würde anfangen zu stocken, er würde hadern und beginnen Fehler zu machen. „But you have made a man of him for all that. He was only a machine before, an animated tool.“93 Ruskin fährt fort: „Men were not intended to work with the accuracy of tools, to be precise and perfect in all their actions. If you will have that precision out of them, and make their fingers measure degrees like cog-wheels, and their arms strike curves like compasses, you must unhumanize them.“94 Zu dem Abschnitt Rohheit ist festzuhalten, dass Ruskin hier am stärksten auf die Umstände der Herstellung, und was sie für die Arbeitenden bedeutet, eingeht.

93 Cook 1903–1912, Bd. 10, S. 192.

94 Ebd.

Das zweitwichtigste Wesensmerkmal der Gotik ist für Ruskin Abwechslungsreichtum.

Nachdem Ruskin die Wichtigkeit der unabhängigen Ausführung des Arbeitenden betont hat, sollen die Folgen betrachtet werden, die daraus resultieren: Die ständige Abwechs-lung eines jeden Merkmals des Gebäudes. In der AbwechsAbwechs-lung können die Erbauenden ihre Vorstellungskraft zum Zuge bringen.95

Ruskin hält die beiden Eigenschaften Rohheit und Abwechslungsreichtum für die wich-tigsten, um nicht nur die gotische Architektur, sondern jede Architektur als gute auszu-zeichnen. Zusammen mit den vier restlichen Eigenschaften der gotischen Handwerkenden und der Bestimmung des Revolutionären Ornaments hat Ruskin hier die wesentlichen Konstituenten bürgerlicher Kunst im gotischen Ornament Venedigs ausgemacht und knüpft daran ihre Superiorität. So sind bei Ruskin, wie auch bei Kant, die auszeichnenden Merkmale von Kunst96 folgende: selbstbestimmt, abbildend, antizipierend und schöpfe-risch. Ruskin betont die Unabhängigkeit der Ausführung, beschreibt den Vorgang der Ima-gination und dessen Ausführung, wobei er davon ausgeht, dass zwischen gedanklicher Vorstellung und Verwirklichung ein Qualitätsunterschied existiert, und er fordert die Mög-lichkeit zu schöpferischer Tätigkeit ein97.

Nachdem Ruskin die Merkmale besprochen hat, kommt er zu dem Vergleich, der seine zugrundeliegende anthropologische Bestimmung des Arbeitsprozesses, anhand dessen zuerst Kant Kunst in der bürgerlichen Gesellschaft bestimmt hat, am direktesten durch den Vergleich der Hervorbringung durch Mensch und Biene hervortreten lässt: „The building of the bird and the bee needs not express anything like this. It is perfect and unchanging. But just because we are something better than birds or bees, our building must confess that we have not reached the perfection we can imagine, and cannot rest in the condition we have attained. If we pretend to have reached either perfection or satisfaction, we have de-graded ourselves and our work.”98 Auffällig ist der Teil im Abschnitt zu Rohheit, in dem Ru-skin von Entmenschlichung spricht, wenn man von den Handwerkenden Perfektion in der Ausführung verlange. Hier zeigt sich der Umkehrschluss von der anthropologischen Be-stimmung von Arbeit. Führt der Mensch Arbeit anders aus, als sie in Abgrenzung zum Tier definiert wurde, ist er nicht mehr in der Lage Mensch zu sein: Ruskins klares Votum gegen die In-Konkurrenz-Setzung von Mensch und Maschine im Produktionsprozess.99

95 Cook 1903–1912, Bd. 10, S. 212 f. Die weiteren Eigenschaften sind: „3. Love of Nature. 4. Disturbed Imagination. 5. Obstinacy. 6. Generosity.“ (Cook 1903–1912, Bd. 10, S. 184).

96 Rudloff 1991, S. 68.

97 Cook 1903–1912, Bd. 10, S. 196.

98 Ebd., S. 214.

99 Vgl. Sussman 1968, S. 84 f. Für Sussman stellt sich The Nature of Gothic als Ausdruck von Ruskins

Ab-2.3.2 Ruskins Kunstanschauung und ihr