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2. Gütergewerbereform und Historismus

2.3 John Ruskin: The Stones of Venice

2.3.5 Form und Inhalt

Das Gotische ist schon lange als barbarisch und unzivilisiert besetzt. Davon grenzte man sich, wie oben beschrieben, im Zuge der Rechtfertigung der Einführung der kapitalisti-schen Produktionsweise mit Hilfe der Überzeugung der eigenen Entwickeltheit ab. Der Entwicklungsgedanke ist ein Teil des Geschichtsverständnisses der damaligen Zeit. Es wurde von Blütezeiten der Menschheit und von Stadien des Zerfalls ausgegangen. Ver-schiedene Punkte in der Geschichte der Menschheit wurden als Messlatte herangezogen, an dem sich der status quo bewerten lassen musste. Der Grad an Unzivilisiertheit im da-maligen Großbritannien verglichen mit jenem im savage state oder die Entfernung zum ka-tholischen Glauben im Vergleich zu früher. Dadurch sind aber keine überhistorischen Ein-sichten zu gewinnen. Ruskins didaktischer Vergleich der idealisierten Zustände, in denen der gotische Handwerkende arbeitete, mit der aktuellen Lage der Arbeiterschaft hinkt,

auf-116 Vgl. Aulinger 1992, S. 34.

117 Vgl. Kroll 1987; das Kapitel über Semper, besonders S. 49. Semper intendiert allerdings eine Verbin-dung von Kunst und Industrie, während Ruskin Kunst und Handwerk zu verschmelzen sucht. Siehe auch: Ocón Fernández 2003, S. 134–135.

118 Siegel 2000, S. 214.

119 Baeumer 1986, S. 204.

120 Ebd., S. 208.

121 Siegel 2000, S. 212.

122 Dobai 1977, Bd. 3, S. 313.

grund der unterschiedlichen Produktivkräfte der jeweiligen Gesellschaften, an denen sich unter anderem der Grad der Arbeitsteilung orientiert. Somit ist bei den historischen Be-trachtungen von einer subjektiven Beziehung zur Vergangenheit auszugehen.123

Durch diese Subjektivität und den interpretatorischen Freiraum in Hinblick auf Formen kann auch kein in Ansätzen sich materialistisch zeigender Interpretationsversuch das Ver-hältnis von Inhalt und Form festschreiben. Die äußeren Formen bleiben für Ruskin trotz-dem in jetrotz-dem Fall Resultate innerer Einstellungen und Prinzipien. Sie können aber auch ohne auf eine metaphysische Ebene angehoben zu werden, ganz gegenständlich die in-nere Struktur des Raumes auf der Fassade wiedergeben. Ruskin betrachtete auch in die-sem Sinne Architektur. Das Prädikat Gotik können nur jene Gebäude für sich beanspru-chen, die an den Fassaden den Spitzbogen und für die inneren Decken die Form eines Rippengewölbes verwenden.124 Für Ruskin ist die Beziehung zwischen Form und Inhalt bedeutend, in dem Sinne, als dass sie sich entsprechen müssen. In der Zeit des Historis-mus, in denen Gebäude von der Fassade her einfach nur gotisch verziert wurden, ist dies ein Aufruf sich nicht auf die äußere Form zu beschränken. Bei Ruskins Analyse typischer gotischer Formen erkennt er die Bedingtheit der ornamentalen Gestaltungsformen als aus der Konstruktion heraus erwachsen an. Das Kreuzrippengewölbe stellte zu gotischer Zeit eine bautechnische Neuerung dar. Es bildete den äußeren Rahmen für das Maßwerk und damit die Konstante beim Entwickeln von neuen Formen.125 Nachdem Ruskin seine ab-schließende Definition der Gotik gegeben hat, kommt er auf das Maßwerk zu sprechen und wie einfach es sei, eine Fläche mit Blattwerk und seinen Variationen zu füllen, analog zur Benutzung eines Kaleidoskops.126 Dies meint er aber abwertend und hat dabei wohl die zeitgenössischen gotisch-anmutenden Bauten wie das House of Parliament vor Augen, welche das Gotische auf oberflächliche Weise imitieren und damit auf Gefallen beim Publi-kum stoßen.127

2.3.6 Fazit

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass Ruskin, wie Kant, Kunst als unentfremdete Arbeit auffasst, indem auch er eine anthropologische Bestimmung von Arbeit mitträgt. So knüpft

123 Vgl. Bann 1995.

124 Cook 1903–1912, Bd. 10, S. 246.

125 Helten 2006, S. 235–239.

126 Cook 1903–1912, Bd. 10, S. 260-261; das Kaleidoskop findet in Zusammenhang mit der Gestaltung or-namentaler Formen immer wieder Erwähnung. Sowohl im Artikel aus dem Blackwood’s Edinburgh Ma-gazine (vgl. Abschnitt 2.2.2), als auch ca. 1859 bei Christopher Dresser (Vgl. Fn. 679).

127 Cook 1903–1912, Bd. 10, S. 260. Inwieweit Ornament generell als Code, als Symbol für politische Ein-stellungen genutzt wurde, wäre weiter zu untersuchen.

er mit seiner Bestimmung des Gotischen an die aktuelle Debatte über die Einführung des kapitalistischen Produktionssystems an. Zu Zeit der Gotik verfertigten die tätigen Hand-werkenden Kunst unter unentfremdeten Bedingungen im impliziten Gegensatz zur zeitge-nössischen Arbeiterschaft. Ebenfalls im Einklang mit der vorherrschenden Vorstellung über Kunst bringt er das Konzept von Kunst und das Konzept vom Handwerk zur Zeit der Gotik mit Hilfe des Ornaments zusammen. Zu dem Aspekt der Regelbefolgung im Werkset-zungsprozess kann nach der hier vorliegenden Exegese keine Aussage getroffen werden.

Besonders im Rahmen von architektonischen Arbeiten zeigt Ruskin mit Hilfe des Orna-ments lebenspraktische Bezüge auf. Jedoch schränkt er auch wieder herkömmlich den Kreis der zu Kunst Befähigten ein. Er geht die Argumentation vom Talent mit, aber er bringt auch Bedingungen ins Spiel, die außerhalb des Kunstschaffenden liegen. Die Mög-lichkeit für einen kunstschönen Ausdruck sieht er nur unter unentfremdeten Arbeitsbedin-gungen, sprich geringer Arbeitsteilung, realisierbar. Er projiziert einen Teil der zeitgenössi-schen Theorie von der Funktion der Kunst in das Mittelalter. Die Projizierung ist nicht will-kürlich, sondern offenbar schien ihm die Kunst der Gotik eine besonders gute Folie zu sein, vor der sich die zeitgenössische Lage der Arbeiterschaft abhebt. Doch der Zusam-menhang von Inhalt und Form ist trotz des materialistischen Herleitungsversuchs nicht kausal. So bleibt das Ornament Symbol für etwaige politische Haltungen und Einstellun-gen. Ruskins Haltung hier konnte herausgearbeitet werden. Zum Qualitätsmerkmal guter Kunst hat er alle jene Kriterien auserkoren, die ein Produkt von Arbeit unter unentfremde-ten Bedingungen darstellen.

Seine Haltung besteht aus der Ablehnung der zunehmenden Arbeitsteilung im kapita-listischen Produktionsprozess. Er wendet sich mit seinem Konzept der Unzivilisiertheit dia-metral gegen den Zeitgeist, demnach Großbritannien, aufgrund des Fabriksystems, des-sen Kern auch die Arbeitsteilung ausmacht, die Spitze der menschlichen Entwicklung dar-stellt. Außerdem wendet er sich diametral gegen die Vorstellungen über die Antike und ihren politischen Implikationen demokratischer Werte, was auch erklärt, warum er seine Forschungen in Venedig und nicht in Rom betrieb. Da er Inhalt und Form in enger Ver-knüpfung im Sinne einer Entsprechung sah, muss er die zeitgenössische Kunst und auch die zeitgenössische Angewandte Kunst mit großem Missfallen betrachtet haben. Damit war er nicht allein, wie die Reformversuche der Güterproduktion zusammen mit der Royal Academy of Arts und die negativen Beurteilungen des englischen Beitrags auf der ersten Weltausstellung 1851 zeigen. In Sachen Geschmack sah sich das Viktorianische Zeitalter

im Stadium des Verfalls, während es sich politisch und ökonomisch zu weltweiter Vorherr-schaft aufschwang. Nach der Analyse der zeitgenössischen Gegebenheiten blickte Ruskin auf die Epoche der Gotik und verband mit seiner Kunstschau nicht nur ein didaktisches Konzept, sondern er wendete die Ergebnisse seiner Analyse, den Zusammenhang zwi-schen dem Grad der Arbeitsteilung und der Qualität von Kunstäußerungen, als soziologi-sche Methode auf die Kunst der Gotik an.

Die sozialen Veränderungen im 19. Jahrhundert gingen derart schnell von statten, dass die Dynamiken erlebbar waren und als Geschichte begreifbar wurden. Darüber hin-aus zeigte die Gegenwart in Form des Crystal Palace, wie der Skelettbau mit Hilfe von Stahlträgern als technische Innovation der Struktur die Art der Verzierungen bedingen, analog des von Ruskin dargelegten Zusammenhangs zwischen dem Kreuzrippengewölbe und dem Maßwerk. Inwieweit an diese Vorstellungswelt durch Webb und den Morris-Kreis bis zur Gründung von Morris & Co. angeknüpft wurde, soll im nächsten Kapitel abgeklärt werden.