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Kapitel 2: Lebenslagen von Muslim_innen in Deutschland

2.3 Muslimische Jugendliche in Deutschland

2.3.4 Religiosität und religiöse Identitäten muslimischer Jugendlicher

sie monokulturelle Herkunftsvereine noch monokulturelle deutsche Vereine interessant. So-mit sind für diese Zielgruppe Freizeitangebote erforderlich, die transkulturell orientiert und mit der Lebensrealität deutsch-türkischer Jugendlicher kompatibel sind.290

te befolgt, erhöht. Während etwa ein Viertel der befragten jungen Muslim_innen nie oder so gut wie nie eine Moschee besuchen, geht ein gutes Drittel regelmäßig mindestens einmal pro Woche dort hin. Dabei ist zu berücksichtigen, dass Moscheen nicht nur Gebetsstätten sind, sondern dass sie auch zahlreiche kulturelle, gesellschaftliche und soziale Aktivitäten anbieten sowie als Bildungs- und Beratungszentren dienen. Solche Angebote werden von 41 % der befragten jungen Muslim_innen genutzt.295

Şen hält fest, dass religiöse Riten und Gebräuche nicht nur in religiöser Hinsicht bedeutsam sind, sondern auch eine kulturell-gesellschaftliche Bedeutung haben. Auch für die junge Ge-neration machen sie einen Teil der kulturellen Identität aus. Dies zeigt sich u. a. darin, dass insbesondere das Fasten, die Zakat, also die Armensteuer, sowie das Schweinefleischverbot unabhängig davon praktiziert werden, ob sich die jungen Muslim_innen als religiös oder nichtreligiös definieren. Zeichen für eine ausgeprägte Religiosität sind hingegen regelmäßiges Beten und häufige Moscheebesuche.296 Das Fasten im Ramadan ist, so Tietze, in einer mehr-heitlich nichtmuslimischen Gesellschaft eine kollektive Praxis, die es den jungen Mus-lim_innen in Westeuropa ermöglicht, sich von der Mehrheitsgesellschaft zu unterscheiden.

Zugleich stellt diese Tradition eine Erinnerung an die Migrationsgeschichte der Vorfahren und ihre besondere gesellschaftliche Situation dar. Mit der Teilnahme am Fasten wird die Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe signalisiert. Es ist kein Hinweis auf eine übermäßige Frömmigkeit derjenigen, die es praktizieren.297 Eine zentrale Rolle spielt im Ramadan die Familie. So schildert eine von Tietze befragte Studentin: „Die Familie, die ist beim Ramadan wichtig. Man ist mehr zu Hause. Man nimmt die Mahlzeit zusammen ein, man isst dasselbe, man liest zusammen den Koran. Das ist wirklich wichtig und außergewöhnlich, weil es im restlichen Jahr nicht so ist.“298 Zugleich öffnet sich die Familie auch nach außen. Während im Ramadan einerseits die Gemeinschaft der Gläubigen zusammenrückt, werden andererseits auch Nichtmuslim_innen, Freund_innen, Nachbar_innen, Arbeitskolleg_innen u. a. eingela-den.299

Tietze weist aber auch darauf hin, dass der Islam in bestimmten Konstellationen noch andere Funktionen für die Identitätsbildung einnimmt. So werde der Islam für viele der von ihr inter-viewten jungen muslimischen Männer, denen das Anderssein durch Diskriminierung und so-zioökonomische Probleme aufgezwungen worden sei, zu einer „Religion der Armen“:

295 Vgl. Şen, Islam in Deutschland, S. 21 ff.

296 Vgl. ebd..

297 Vgl. Tietze, Islamische Identitäten, S. 119.

298 Zitiert in: Ebd., S. 123.

299 Vgl. ebd., S. 123.

Indem die muslimische Identifikation zunächst einmal trotz prekärer sozialer Lage und drohenden ge-sellschaftlichen Ausschlusses Selbstachtung und eine lebensbejahende Haltung bietet, wird sie gleich-zeitig zu einem Differenzierungsmittel zwischen sozialen Milieus. Wie ein Arbeiter lange zwangsläufig kommunistisch wählte und Gewerkschaftsmitglied war, so wird dieser Konzeption zufolge eine Person aus einer benachteiligten Vorstadt zwangsläufig zum Muslim.“300

Die muslimische Religiosität kann jungen muslimischen Männern helfen, mit den Ambiva-lenzen ihrer Identitätsfindung umzugehen und schafft Handlungsmöglichkeiten im sozialen Raum. Dabei ist der Charakter der Religiosität rational und veränderbar. Junge Muslime kön-nen sich von der Religion abwenden, sie könkön-nen auch zwischen verschiedekön-nen Formen von Religiosität zirkulieren. Verschiedene Aspekte, beispielsweise die Reaktion des Umfelds auf die islamische Religion, die Forderung nach individueller Anerkennung oder auch persönliche Gründe können, so Tietze, dazu führen, dass sich junge Muslime der Religion verstärkt zu-wenden, um sich dann in einer anderen Lebensphase von ihr abzuzu-wenden, oder umgekehrt.

„Der Islam stellt kein Universum dar, in das die jungen Männer total eingeschlossen sind. Eine Liebe s-beziehung, eine Heirat, ein Berufsprojekt, starkes Engagement im Sport oder in der Kunst, die Identifi-zierung mit der Arbeit einer humanitären Organisation oder mit einer politischen Partei, das alles kann zur Abkehr von wie zu der Rückkehr zu der religiösen Tradition führen.“301

Der von Muslim_innen praktizierte Islam ist, wie schon zu sehen war, ausgesprochen hetero-gen. Auch ist, wie Bukow anmerkt, zu bedenken, dass bezüglich einer Reihe von Praktiken und Traditionen nicht präzise definiert werden kann, ob diese nun spezifisch islamisch sind oder ob sie lokalen Traditionen entstammen. Darüber hinaus verändert sich das Alltagsleben in der Migration, was wiederum zu Veränderungen der religiösen Praxis führt.302 Insbesonde-re im Jugendalter experimentieInsbesonde-ren Jugendliche bezüglich ihInsbesonde-rer Positionierung zu FaktoInsbesonde-ren wie Geschlecht, Familie, Ethnie wie auch Religion auf der Suche nach der eigenen Identität. Vor diesem Hintergrund gilt es, auch junge Muslime

„zunächst nicht als Muslime, sondern als Jugendliche in ihrem Alltag zu sehen, sie wie andere als ‚n a-türliche’ Mitglieder eines ganz konventionellen, alltagspraktisch eingebundenen Ensembles zu betrach-ten, das seinen Alltag wie selbstverständlich ‚hervorbringt’.“303

Weiter hält Bukow fest, dass das Muslim-Sein für muslimische Jugendliche bestenfalls eine Teilzeittätigkeit ist, oftmals noch weniger.

„Es ist eine alltagsreligiöse Praktik, die wir aus der zivilreligiösen Praxis zumal jüngerer und dann erst wieder sehr viel älterer Menschen gut kennen. Solche Praktiken sind weder problematisch, noch

300 Tietze, Islamische Identitäten, S. 211.

301 Ebd., S. 235.

302 Vgl. Bukow, Wolf-Dietrich: Junge Muslime in Schule und Bildung, in: Wensierski, Hans-Jürgen von/Lübcke, Claudia (Hg.): Junge Muslime in Deutschland. Lebenslagen, Aufwachsprozesse und Jugendkulturen, Opladen 2007, S. 214.

303 Ebd., S. 215.

lich, noch überhaupt bemerkenswert, sondern ganz einfach ein selbstverständlicher Ausdruck eines postmodernen Arrangements.“304

Angesichts der vielfältigen Positionierungen, die muslimische Jugendliche zur islamischen Religion einnehmen können, ist es in Bildungsprozessen nicht sinnvoll, auf vermeintliches oder tatsächliches Fehlverhalten muslimischer Jugendlicher oder auch auf problematische Äußerungen mit dem Hinweis darauf zu reagieren, dass ihre Religion bzw. ihr Koran solches verbiete. Schließlich ist unter Umständen davon auszugehen, dass den Jugendlichen die Inhal-te des Koran oder religiöser Regeln weniger geläufig sind, als Nichtmuslim_innen, die sich für den Islam interessieren – übrigens in völliger Entsprechung zu sich christlich nennenden Jugendlichen und deren Bibelkenntnissen.

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