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Kapitel 2: Lebenslagen von Muslim_innen in Deutschland

2.3 Muslimische Jugendliche in Deutschland

2.3.2 Muslim_innen im deutschen Bildungs- und Ausbildungssystem

2.3.2.2 Erklärungsansätze für die Schlechterstellungen im Bildungsbereich

Erziehungsstil beruht, so Karakaşoğlu und Öztürk, auf Erklärungen und weniger auf nicht hinterfragbaren Verboten. Auch etabliert sich ein Erziehungsstil, der der Schulbildung Priori-tät gegenüber der religiösen Orientierung einräumt.210

Solche Bildungsbestrebungen von Eltern mit Migrationshintergrund werden aber nicht immer anerkannt. Gomolla und Radtke berichten von Fällen, in denen ehrgeizigen Eltern unterstellt wird, sie würden die Bildungschancen ihrer Kinder unrealistisch einschätzen und gegen jede Vernunft eine Einschulung auf einer höheren Schulform verlangen.211 Auch Weber verweist auf ähnliche Beobachtungen. Sie rekurriert auf die Argumentationslinien in einem Lehrerkol-legium, wonach die Nichteignung der Kinder für das Gymnasium mit schlechten Deutsch-kenntnissen der Eltern und deren fehlenden Kenntnissen über die Erwartungen des deutschen Bildungssystems an die Kinder begründet wird. Auf die konkrete Leistungsfähigkeit der Kin-der jedoch wird in dieser Argumentation nicht eingegangen.212 Insbesondere muslimischen Familien wird darüber hinaus oftmals unterstellt, sie würden mehrheitlich die Teilnahme am gemischtgeschlechtlichen Sportunterricht, dem Sexualkundeunterricht oder auch Klassenfahr-ten verweigern.213 Hier kommen jedoch Haug et al. zum Ergebnis, dass die große Mehrheit der Schüler_innen aus muslimischen Haushalten diese Unterrichtsangebote wahrnimmt.214 So ergab eine Befragung unter denjenigen Personen, für die entsprechende Angebote zur Verfü-gung standen, dass am gemischtgeschlechtlichen Schwimmunterricht sowie an mehrtägigen Klassenfahrten 7-10 % der muslimischen Mädchen nicht teilnahmen. Am Sexualkundeunter-richt hingegen nahmen nichtmuslimische Jugendliche mit Migrationshintergrund deutlich häufiger nicht teil als muslimische Jugendliche.Die Befunde von Haug et al. machen insge-samt deutlich, dass von einer Verweigerung von Unterrichtsangeboten durch die Mehrheit der Muslim_innen nicht die Rede sein kann.215

• Institutionelle Diskriminierung

Nachdem Erklärungen, die die Ursachen für die schlechtere Positionierung von Schüler_innen nichtdeutscher Herkunft im deutschen Bildungssystem als von den Betroffenen verursachtes Defizit begreifen, nicht bzw. nur für eine Minderheit unter ihnen zutreffen, gilt es, die

210 Vgl. Karakaşoğlu /Öztürk, Erziehung und Aufwachsen, S. 162 ff.

211 Vgl. Gomolla/Radtke, Institutionelle Diskriminierung, S. 256.

212 Vgl. Weber, Martina: „Ali Gymnasium“ – Soziale Differenzen von SchülerInnen aus der Perspektive von Lehrkräften, in: Hamburger, Franz/Badawia, Tarek/Hummerich, Merle (Hg.): Migration und Bildung. Über das Verhältnis von Anerkennung und Zumutung in der Einwanderungsgesellschaft, Wiesbaden 2005, S. 72.

213 Vgl. Schneiders, Thorsten Gerald: Die Schattenseite der Islamkritik. Darlegung und Analyse der Argumenta-tionsstrategien von Henryk M. Broder, Ralph Giordano, Necla Kelek, Alice Schwarzer und anderen, in: Schnei-ders, Thorsten Gerald: Islamfeindlichkeit. Wenn die Grenzen der Kritik verschwimmen, 2. aktualisierte und erweiterte Aufl. Wiesbaden 2010, S. 424 f.

214 Vgl. Haug et al., Muslimisches Leben in Deutschland, S. 15.

215 Vgl. ebd., S. 192 f.

rellen Bedingungen in den Blick zu nehmen. Eine umfassende Studie hierzu haben Gomolla und Radtke vorgelegt, in der sie Mechanismen institutioneller Diskriminierung im deutschen Bildungssystem untersuchen.216 Sie nehmen in ihrer Untersuchung nicht die Ressourcen oder Defizite der Kinder und Jugendlichen und ihrer Familien in den Blick, sondern rücken die Interessen der Bildungsinstitutionen in den Fokus. Dabei stellen sie fest, dass es keine direkte institutionalisierte Diskriminierung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund, etwa auf der Basis von Verwaltungsvorschriften, gibt.217 Dennoch verfolgen die Bildungsin-stitutionen Interessen, die durchaus Auswirkungen auf die Positionierung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund im Bildungssystem haben. So wollen sie, insbeson-dere in Zeiten rückläufiger Schülerzahlen, den Bestand von Schulen sichern. Deshalb nimmt an den verschiedenen Schultypen die Anzahl ausländischer Schüler_innen dann zu, wenn die Zahl deutscher Schüler_innen rückläufig ist.218 Das Schulsystem ist, so Gomolla und Radtke, nicht darauf ausgerichtet, die Angebote an den Bedürfnissen der Schüler_innen auszurichten, sondern es geht umgekehrt darum, die vorhandenen Schüler_innen Jahr für Jahr auf die ver-fügbaren Plätze an den verschiedenen Schultypen zu verteilen.219 So fanden Gomolla und Radtke beispielsweise für die Stadt Bielefeld heraus, dass dort zum selben Zeitpunkt, als die Zurückstellung deutscher Kinder in den Schulkindergarten abnahm, die Anzahl ausländischer Kinder, die von der Einschulung in den Schulkindergarten zurückgestellt wurden, im selben Maße zunahm.

„Da nicht anzunehmen ist, daß die Gruppe der ausländischen Kinder an einer wachsenden kollektiven Reifeverzögerung leidet, schließt sich die Frage an, wie die Unterschiede durch die Einstufungspraxis durch die Schulärzte und die Schulleiter hergestellt werden. Die Frage ist deshalb nicht trivial, weil et-wa mangelnde Sprachkenntnisse laut Erlaß kein Grund für eine Zurückstellung sein dürfen. Auch deu-ten alle Indikatoren wie Aufenthaltsdauer, Kindergardeu-tenbesuch etc. der ausländischen Kinder eher auf eine Verbesserung der Ausgangslage als auf eine Verschlechterung hin.“220

Eine Zurückstellung in den Schulkindergarten kann zur Folge haben, dass ein entsprechender Vermerk in der Schülerakte sich auf spätere Schullaufbahnentscheidungen negativ aus-wirkt.221 Obwohl der Schulkindergarten ausdrücklich nicht für den Spracherwerb ausgelegt ist, erfolgte die Zurückstellung mit Verweis auf sprachliche oder kulturelle Defizite, aus de-nen allgemeine Entwicklungsverzögerungen, fehlende Fördermöglichkeiten durch die Eltern, unzureichende soziale und motorische Kompetenzen durch fehlende Kindergartenzeiten oder

216 Vgl. Gomolla/Radtke, Institutionelle Diskriminierung, S. 137.

217 Vgl. ebd., S. 83.

218 Vgl. ebd., S. 28.

219 Vgl. ebd., S. 125.

220 Ebd., S. 135.

221 Vgl. ebd., S. 278.

auch kulturell bedingte Verhaltensprobleme abgeleitet wurden. Auffällig ist, dass bei der Ein-schätzung der Schulfähigkeit der Kinder ihre muttersprachlichen Fähigkeiten nicht getestet bzw. berücksichtigt wurden.222

Gomolla und Radtke sehen als ein Grundproblem des deutschen Schulsystems, dass die Insti-tution Schule nicht in erster Linie um Problemlösungen bemüht ist, sondern sie ist „auf Ent-lastung von zusätzlichen Problemen und Schwierigkeiten eingerichtet und sucht jede

Möglichkeit, schwierige Schüler an andere Spezialeinrichtungen abzugeben und die Probleme zu delegieren.“223 Der Unterricht in den verschiedenen Schultypen ist in Methodik und Didak-tik darauf ausgerichtet, möglichst homogene Gruppen zu unterrichten. Dabei geht es zunächst um eine Differenzierung nach Leistungsstand, nicht um die ethnische Herkunft der Kinder.

Bei gleicher Leistung jedoch werden bei einer möglichen Zurückstufung oder Abweisung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund durchaus kulturalisierende Argumente für getroffene Entscheidungen herangezogen. 224

Ebenfalls problematisch ist die Überstellung von Kindern und Jugendlichen aufgrund von Sprachdefiziten auf eine Sonderschule mit Förderschwerpunkt Lernen. Gomolla und Radtke weisen, wie schon bei der Zurückstellungsentscheidung in den Schulkindergarten, auch hier nach, dass nur in Ausnahmefällen bei der Diagnose des Lernvermögens der Leistungsstand in der Muttersprache der Kinder analysiert wurde.Es kann als diskriminierend angesehen wer-den, wenn Widerspruch vor allem türkischer Eltern gegen eine Überstellung der Kinder an eine Sonderschule mit Förderschwerpunkt Lernen als „Hass“ auf die deutsche Gesellschaft bzw. als Kulturkonflikt abgewertet wird.Als Begründungen für eine Überstellung auf Sonder-schulen machten Gomolla und Radtke ebenfalls kulturalisierende Argumentationsstränge aus.

So wurde seitens der Schulen etwa auf fehlende Unterstützung durch die Eltern, auf den hemmend wirkenden muttersprachlichen Kontext, auf psychologische Belastungen durch die Migrationssituation, auf den Koranschulbesuch oder auf ein islamistisches Umfeld verwie-sen.225 Eine Schulleiterin führte beispielsweise als Begründung für Lernschwierigkeiten türki-scher Schüler_innen der zweiten Klasse die Tatsache an, dass diese nachmittags in die

Koranschule gingen, wo sie vom Hodscha geschlagen würden, wenn sie ihre Hausaufgaben nicht erledigten. Außerdem meinte sie, dass das dort von den bereits durch die Zweisprachig-keit überforderten Kindern abverlangte Erlernen der arabischen Sprache, die zudem von

222 Vgl. Gomolla/Radtke, Institutionelle Diskriminierung, S. 171 ff.

223 Ebd., S. 116.

224 Vgl. ebd., S. 269 ff.

225 Vgl. ebd., S. 279 ff.

rechts nach links geschrieben werde, „Verwirrung“, „Leistungsabfall“ und „Verhaltensstö-rungen“ auslösen würde.226 Gomolla und Radtke weisen hier darauf hin, dass die Entschei-dungen, die in der Institution Schule gefällt werden, von der Wahrnehmung der öffentlichen Diskussion über Kulturkonflikte und Islamismus beeinflusst werden. Allerdings äußert diese Wahrnehmung sich nicht etwa in der „Begründung unterstützender Maßnahmen für die Kin-der oKin-der zur Intensivierung Kin-der Arbeit mit den Eltern etc., sonKin-dern zur Begründung Kin-der voran-gegangenen Selektionspraxis.“227

Im Bereich des Übergangs auf die Sekundarschule werden Kinder und Jugendliche häufig trotz guter Leistungen lediglich für eine Haupt- oder Realschule empfohlen. Dabei spielt of-fenbar der sozioökonomische Status der Eltern eine Rolle. So verweist Fereidooni auf eine Untersuchung, wonach Kinder mit einem Notendurchschnitt von 2,0 eine 76-prozentige Chance auf eine Gymnasialempfehlung haben, wenn ihre Eltern der niedrigsten Bildungs- und Einkommensgruppe angehören. Gehören die Eltern hingegen der höchsten Bildungs- und Einkommensgruppe an, so liegt die Chance für eine Gymnasialempfehlung bei 97 %.228 Für Kinder und Jugendliche nichtdeutscher Herkunft haben Gomolla und Radtke ermittelt, dass die Nichterteilung einer Gymnasialempfehlung entweder mit unzureichenden Deutschkennt-nissen begründet wird oder aber, sollten die Sprachkenntnisse ausreichend sein, mit anderen zu erwartenden Schwierigkeiten.229 Als eine besondere Schwierigkeit wird beispielsweise die am Gymnasium obligatorische zweite Fremdsprache angeführt, die für die mehrsprachigen und damit vermeintlich automatisch im Deutschen defizitär ausgestatteten Schüler_innen eine zusätzliche Überforderung darstellen würde, womit ein Scheitern programmiert sei.230 Eine Nichteignung für das Gymnasium wird trotz guter Leistungen auch mit fehlenden Unterstüt-zungsmöglichkeiten durch die Eltern, unangemessenen häuslichen Bedingungen, dem mutter-sprachlichen Kontext im Elternhaus wie auch mit Kultur und Religion oder wiederum

unterstellter Integrationsunwilligkeit der Eltern oder deren fehlender oder falscher

226 Gomolla/Radtke, Institutionelle Diskriminierung, S. 214.

227 Ebd., S. 216.

228 Vgl. Fereidooni, Schule - Migration - Diskriminierung, S. 60. Diese Tatsache bestätigt auch Ditton, Der Bei-trag von Schule und Lehrern, S. 249. Er verweist zugleich auf folgende Studien: Heller, Kurt/Rosemann, Bern-hard/Steffens, Karl-Heinz: Prognose des Schulerfolgs. Eine Längsschnittstudie zur Schullaufbahnberatung, Weinheim 1978 sowie Jürgens, Eiko: Lehrer empfehlen - Eltern entscheiden! Die Bewährung empfohlener und nichtempfohlener Orientierungsstufenschüler im weiterführenden Schulsystem, in: Die Deutsche Schule 81, 1989, S. 388-400. Diese Studien ergaben, dass die Schullaufbahnempfehlungen keineswegs eine sichere Progno-se über das tatsächliche Leistungsvermögen der Kinder darstellen. Demnach waren zwischen 27 und 45 Prozent derjenigen Schüler_innen, die eine Hauptschulempfehlung erhalten hatten, auf dem Gymnasium erfolgreich. Bei Kindern mit Realschulempfehlung betrug die Erfolgsquote am Gymnasium zwischen 44 und 73 Prozent. Vgl.

Ditton, Der Beitrag von Schule und Lehrern, S. 259 f.

229 Vgl. Gomolla/Radtke, Institutionelle Diskriminierung, S. 280.

230 Vgl. ebd., S. 248.

aspiration begründet. Ein weiteres Beispiel für direkte institutionelle Diskriminierung sehen Gomolla und Radtke, wenn im Sekundarschulbereich lediglich Hauptschulen, nicht aber Re-alschulen oder Gymnasien, über eine Sprachförderung für Zweitsprachlerner verfügen. Leis-tungsfähigen Kindern, die jedoch Defizite in der deutschen Sprache haben, wird somit lediglich ein Hauptschulabschluss ermöglicht.231

Neben den Übergangsentscheidungen spielt auch die günstige oder ungünstige Ausstattung des jeweiligen Sozialraums mit weiterführenden Schulen eine Rolle für die Bildungslaufbahn von Schüler_innen.232 Für Berlin-Kreuzberg etwa konstatierte die frühere Integrationsbeauf-tragte des Bezirks, Doris Nahawandi, dass die hohe Zahl von Hauptschulen im Bezirk eine strukturelle Diskriminierung darstelle.233 Auch ein junger Interviewpartner äußerte im Rah-men der Studie Muslime in Berlin: „Ich würde verbessern, dass man hier nicht nur Hauptsch u-len baut, sondern auch Gymnasien baut und mehr für Bildung tun. Besonders für die

Jugendlichen Orte schafft, an denen sie lernen können und nicht auf der Straße hängen.“234 Aus der Sicht einer anderen Interviewpartnerin könnte dies auch zu einer besseren ethnischen Vermischung und einem Rückgang des Wegzugs ethnischer Deutscher beitragen. Andere In-terviewpartner_innen hatten den Eindruck, dass durch den Wegzug ethnischer Deutscher das öffentliche Interesse an einer Verbesserung der Bildungsqualität im Bezirk zurückgegangen sei.235

• Ausländerrechtliche Aspekte

In gravierendem Maße von Benachteiligung betroffen sind Kinder und Jugendliche aus Flüchtlingsfamilien sowie unbegleitete Flüchtlingskinder, die oder deren Familien noch im Asylverfahren sind und deren Aufenthaltsstatus somit nicht gesichert ist, wie auch Personen, deren Asylantrag abgelehnt, deren Abschiebung aber ausgesetzt wurde und die nun mit dem Status der Duldung in Deutschland leben. Damit gehen zahlreiche rechtliche Einschränkun-gen einher, die nicht nur auf die Integration im Allgemeinen, sondern auch auf die Bildung im Besonderen einschneidende Auswirkungen haben. So verdeutlicht Niedrig, dass beispielswei-se die für Asylbewerber_innen und geduldete Flüchtlinge geltende Residenzpflicht

231 Vgl. Gomolla/Radtke, Institutionelle Diskriminierung, S. 280 ff.

232 Vgl. ebd., S. 134.

233 Open Society Institute, Muslime in Berlin, S. 71 f. Mit der inzwischen erfolgten Abschaffung der Hauptschu-le in Berlin ist sicherlich ein richtiger Schritt erfolgt. Ob dieser alHauptschu-lerdings wirklich zu einer Verbesserung der Situation beiträgt, oder ob das Problem lediglich verlagert wird, bleibt abzuwarten und hängt maßgeblich von der konkreten Umsetzung der Schulreform ab.

234 Zitiert in: Open Society Institute, Muslime in Berlin, S. 72.

235 Vgl. ebd.

pische Aktivitäten, wie die Teilnahme an Klassenfahrten, Trainingscamps oder Wettkämpfen mit dem Sportverein, gemeinsamen Ausflügen u.v.m. faktisch unmöglich macht,236 mindes-tens aber deutlich erschwert, indem für jede dieser Aktivitäten eine Ausnahmegenehmigung von der Residenzpflicht beantragt werden muss. Die zeitliche Befristung des Aufenthaltstitels auf wenige Monate und die beständig drohende Abschiebung verhindern eine langfristige Zukunftsplanung und stehen Bildungsprozessen im Weg, die Zukunftsoffenheit erfordern.

Stattdessen erfordern sie in regelmäßigen Abständen lange Behördenaufenthalte, die oftmals als schikanös erlebt werden und den Jugendlichen ihren unsicheren Status regelmäßig vor Augen führen.237 Die besonderen gesetzlichen Regelungen erschweren auch den Zugang zu betrieblichen Ausbildungen sowie zu einem Hochschulstudium.238

• „Monolingualer Habitus“

Als ein zentrales Problem für Kinder und Jugendliche nichtdeutscher Herkunft im deutschen Bildungssystem erweist sich etwas, das Gogolin als „monolingualen Habitus“239 bezeichnet.

Da in der Mehrheit der staatlichen Schulendie ausschließliche Verwendung der deutschen Sprache als Normalität betrachtet wird,240 erfährt die persönliche Mehrsprachigkeit von Kin-dern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund in zahlreichen Fällen keine Anerken-nung.241 Gogolin spricht in diesem Zusammenhang sogar von „Kapitalvernichtung“242 und fordert eine Bildungspolitik, die stattdessen auf eine Förderung der sprachlichen Vielfalt der Kinder und Jugendlichen setzt.243 Fereidooni sieht in der „defizitären Sprachvermittlungs-kompetenz der Grundschulen“ sowie der „mangelnde[n] Bereitschaft, nicht-deutsche Spra-chen in den normalen Unterrichtsalltag zu integrieren“ Gründe für den Misserfolg von Kindern nichtdeutscher Herkunft im deutschen Bildungssystem.244

Oben wurde bereits dargestellt, dass die Mehrsprachigkeit von Kindern und Jugendlichen und vermeintlich daraus resultierende Defizite in der Beherrschung der deutschen Sprache an allen entscheidenden Übergängen, also bei der Einschulung und beim Übergang in die

236 Vgl. Niedrig, Der Bildungsraum junger Flüchtlinge, S. 263 ff.

237 Vgl. ebd.

238 Vgl. Möller/Adam, Jenseits des Traumas, S. 89 sowie Weiss, Karin: Lebenslagen von jungen Flüchtlingen in Deutschland, in: Krappmann, Lothar et al.: Bildung für junge Flüchtlinge - ein Menschenrecht. Erfahrungen, Grundlagen, Perspektiven, Bielefeld 2009, S. 67.

239 Gogolin, Ingrid: Sprachenvielfalt durch Zuwanderung ein verschenkter Reichtum in der (Arbeits-)Welt?

(Good Practice Center, Bonn 2001), http://www.erzwiss.uni-

hamburg.de/Personal/Gogolin/cosmea/core/corebase/mediabase/foermig/website_gogolin/dokumente/

Gogolin_2001_Sprachenvielfalt_durch_Zuwanderung.pdf, gesehen am 14.01.2013.

240 Ausnahmen sind beispielsweise Europaschulen.

241 Gogolin, Sprachenvielfalt durch Zuwanderung, S. 2.

242 Ebd., S. 11.

243 Vgl. ebd., S. 11.

244 Fereidooni, Schule - Migration - Diskriminierung, S. 56.

stufe zu einer Benachteiligung von Kindern und Jugendlichen nichtdeutscher Herkunft füh-ren. Darüber hinaus wird die Mehrsprachigkeit von Schüler_innen als Bildungshemmnis für das Gymnasium betrachtet, mit dem Hinweis darauf, dass die Jugendlichen dort eine zweite Fremdsprache erlernen müssen. Individuelle und gesellschaftliche Zwei- oder Mehrsprachig-keit ist aber historisch und international als Normalität zu betrachten und wirkt sich nicht ne-gativ auf die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen aus. Vielmehr ist davon

auszugehen, dass sich die Nutzung der Erstsprache im Unterricht positiv auf den Erwerb der Zweitsprache auswirkt.245 Gesellschaftliche Wertschätzung, Unterstützung durch Familie und Schule wirken sich ebenfalls positiv auf eine bilinguale Sprachentwicklung aus.246 PISA 2000 hat außerdem festgestellt, dass Kinder und Jugendliche, die mehrsprachig aufwachsen, enga-gierter lernen, ein stärkeres Selbstbewusstsein entwickeln und höhere Bildungsaspirationen aufweisen als herkunftsdeutsche Kinder. Aufgrund der strukturellen Diskriminierung im deut-schen Bildungssystem wird dieses Potenzial jedoch bei weitem nicht ausgeschöpft.247

• Bedrohung durch Stereotype

Diefenbach bringt ein weiteres Erklärungsmodell für die Benachteiligung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund im deutschen Bildungssystem in die Diskussion ein, nämlich den Mechanismus der „Bedrohung durch Stereotype“.248 Hierbei handelt es sich um den in den USA in den 1990er Jahren formulierten Mechanismus der sich selbst erfüllenden Prophezeiung,249 der im konkreten Fall dadurch zum Ausdruck kommt, dass Stereotype über das intellektuelle Leistungsvermögen, die bestimmten Bevölkerungsgruppen nachgesagt wer-den, deren Leistungsvermögen und Persönlichkeitsentwicklung tatsächlich beeinflussen, was für den US-amerikanischen Raum durch empirische Studien verifiziert werden konnte.250 Für den deutschen Raum verweist Diefenbach auf die Erklärungsmuster der PISA-Ergebnisse aus dem Jahr 2000, die kulturelle Defizite in das Blickfeld rückten.251 Angesichts dieser Argu-mentationslinien

245 Vgl. Reich, Hans H./Roth, Hans-Joachim: Spracherwerb zweisprachig aufwachsender Kinder und Jugendli-cher. Ein Überblick über den Stand nationaler und internationaler Forschung, Hamburg 2002, S. 41.

246 Vgl. ebd., S. 16.

247 Vgl. Fereidooni, Schule - Migration - Diskriminierung, S. 72.

248 Diefenbach, Kinder und Jugendliche, S. 124 f.

249 Diefenbach verweist hierzu auf folgende Studien: Steele, Claude M.: A Threat in the Air. How Stereotypes Shape Intellectual Identity and Performance, in: American Psychologist 52,6 1997, S. 613-629 sowie Steele, Claude M./Aronson, Joshua: Stereotype Threat and the Intellectual Test Performance of African Americans, in:

Journal of Personality and SocialPsychology 69, 5 1995, S. 797-811. Vgl. Diefenbach, Kinder und Jugendliche, S. 124.

250 Vgl. ebd., S. 126 f.

251 Wenn es auch für den deutschen Raum noch keine Studien zu diesem Erklärungsmuster gibt (vgl. Diefen-bach, Kinder und Jugendliche, S. 127), so ist doch an dieser Stelle erwähnenswert, dass Ditton darauf verweist, dass nicht nur die Schulleistungsempfehlungen, sondern auch die Leistungsbewertungen von Schüler_innen

„würde es kaum verwundern, wenn Kinder und Jugendliche aus Migrantenfamilien den Eindruck ge-wonnen hätten, dass bezüglich ihres Verhältnisses zur Schule und insbesondere bezüglich ihrer Deutschkenntnisse ein negatives Stereotyp in der Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland verbrei-tet ist. Wenn dies zuträfe, gäbe es keinen Grund, nicht mit denselben Effekten zu rechnen, die Steele feststellen konnte, und möglicherweise wären die schlechten Testleistungen, die die Schulleistungsstu-dien Migrantenkindern attestieren, insbesondere in Tests, die sich auf die Beherrschung der deutschen Sprache beziehen, zumindest zum Teil durch die Bedrohung durch Stereotype zu erklären.“252

Tatsächlich berichten im Rahmen der Studie Muslime in Berlin einige der Befragten von kon-kreten Diskriminierungserfahrungen in der Schule. Für einige der Gesprächspartner_innen bedeutete die damit einhergehende Atmosphäre der Nichtanerkennung, dass sie andauernd das Gefühl hatten, Stereotype und Vorurteile der Lehrer_innen ihnen gegenüber widerlegen zu müssen. Die Vorurteile standen teilweise in Zusammenhang mit der religiösen Akzeptanz. So wurde das Verbot für Lehrerinnen, ein Kopftuch zu tragen, als Hinweis für mangelnden Res-pekt der Schulen gegenüber anderen Religionen gesehen. Dieses Verbot wurde als Ursache für eine Zunahme von Vorbehalten gegenüber Schülerinnen mit Kopftuch wahrgenommen.

So berichtet eine junge muslimische Interviewpartnerin von einem Oberschullehrer, der Kopf-tuch tragende Schülerinnen besonders schlecht behandelt und sie aufgefordert habe, sich „wie Deutsche“ zu kleiden und sich anzupassen. Andere Interviewpartnerinnen berichteten von der Annahme von Lehrer_innen, man könne mit dem Kopftuch schlechter hören, sowie davon, ausgelacht und nicht ernst genommen zu werden. Auch wurde von Vorfällen berichtet, in de-nen Lehrer_inde-nen versuchten, religiöse Praktiken oder Ansichten von Schüler_inde-nen zu beein-flussen.253 Eine Befragte erzählt, dass Mädchen, die islamische Kleidung trugen, aufgefordert wurden, „ihre Schönheit zu zeigen“. Ein anderer Befragter äußert: „Ich sag`s mal so: Auf Klassenfahrten in der Grundschule versucht die Lehrerin noch, Dir das Salamibrötchen schmackhaft zu machen, obwohl sie weiß, dass Du das nicht darfst.“254

Als besonders gravierende Erfahrungen empfanden jedoch beinah alle Teilnehmer_innen der Fokusgruppe zum Thema Bildung, dass muslimischen Schüler_innen eine Kultur der niedri-gen Erwartunniedri-gen und Entmutigunniedri-gen durch Lehrer_innen begegnet sei. Eine Frau berichtet von ihrer Nichte, die ihre Note 3 in Deutsch verbessern wollte und vom Lehrer anstatt Ermu-tigung und Motivation die Antwort erhielt, dass eine 3 schließlich eine gute Note für ein tür-kisches Mädchen sei. Anderen Befragten wurde deutlich vermittelt, dass sie keine Chance hätten, erfolgreich durch das Bildungssystem zu gehen und dass es unwahrscheinlich sei, dass

entsprechend ihrer sozialen Zugehörigkeit differieren. So werden die tatsächlichen Leistungen von Kindern aus unterprivilegierten Schichten zu schlecht und von Kindern aus privilegierten Schichten deutlich zu gut bewertet.

Vgl. Ditton, Der Beitrag von Schule und Lehrern, S. 266.

252 Diefenbach, Kinder und Jugendliche, S. 127 f.

253 Vgl. Open Society Institute, Muslime in Berlin, S. 79 ff.

254 Zitiert in: Ebd., S. 83.

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