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3. 2 Erscheinungsformen von Antisemitismus in Deutschland

Kapitel 4: Geschichtslernen zu Nationalsozialismus und Holocaust in der Einwanderungsgesellschaft Einwanderungsgesellschaft

4.3 Historisch-politische Bildungsarbeit zu Nationalsozialismus und Holo- Holo-caust Holo-caust

4.3.3 Die Einwanderungsgesellschaft – neue Herausforderungen für das historisch- historisch-politische Lernen zu Nationalsozialismus und Holocaust? historisch-politische Lernen zu Nationalsozialismus und Holocaust?

4.3.3.2 Geschichtsbezüge Jugendlicher nichtdeutscher Herkunft

Gerade aus der heterogenen Zusammensetzung von Schulklassen in der Einwanderungsge-sellschaft ergeben sich Möglichkeiten für Perspektiverweiterungen bezüglich des Themas Nationalsozialismus, die eine Einbeziehung von Jugendlichen nichtdeutscher Herkunft in die

689 Vgl. Kap. 4.4.1.

690 Vgl. Kap. 3.3. Dort wird auch dargelegt, dass dieses Verständnis des Diskurses lediglich einen Teil des Bildes darstellt. Keineswegs steht in Frage, dass es auch unter Muslim_innen Menschen mit antisemitischen Einstel-lungsmustern gibt.

Auseinandersetzung mit dem Thema ermöglichen können. So berichten Jugendliche von Großvätern, die in der Roten Armee oder im serbischen Widerstand aktiv waren.691 Die Vor-fahren der Jugendlichen in deutschen Schulen waren möglicherweise:

„durchschnittliche Mitläufer aus dem Deutschen Reich; engagierte Antisemiten aus okkupierten Lä n-dern; Partisanen aus den Balkanstaaten; faschistische, aber zugleich judenfreundliche Italiener; Beteilig-te des Krieges in Asien oder Nordafrika; Juden aus der ehemaligen Sowjetunion.“692

Diese Aufzählung könnte um weitere Beispiele ergänzt werden, etwa türkische oder arabische Retter jüdischer Verfolgter, türkische oder arabische Kollaborateure, Opfer der Rassenideolo-gie aus ehemaligen deutschen Kolonien in Afrika u.v.m.693

Dass diese möglichen Bezugnahmen Jugendlicher nichtdeutscher Herkunft keine künstlichen Konstruktionen darstellen, sondern an tatsächlich vorhandene Bezüge anknüpfen können, zeigen Befragungen von Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Georgi sprach im Rahmen ihrer Studie auch mit Jugendlichen muslimischer Herkunft.694 Die aus diesen Gesprächen publizierten Passagen verdeutlichen die Vielfalt und Unterschiedlichkeit der Perspektiven und Bezugnahmen dieser Jugendlichen auf Nationalsozialismus und Holocaust. Konkrete fami-lienbiografische Bezüge zum Zweiten Weltkrieg kennt beispielsweise ein porträtierter Ju-gendlicher, dessen Familie aus Jugoslawien stammt. Seine Großeltern kämpften in den Reihen der Partisanen gegen die Deutschen, gerieten in deutsche Kriegsgefangenschaft und wurden zur Zwangsarbeit verschleppt. Die Mutter des Interviewpartners musste als Kind die Hinrichtung ihres Vaters durch die deutschen Besatzer mit ansehen, worüber sie bis heute nicht spricht.695

Eine Jugendliche schildert, welchen unterschiedlichen Umgang mit dem Thema Verfolgung der Jüd_innen sie zu Hause und in der Schule erlebt. Während bei der in Marokko geborenen Gymnasiastin und bekennenden Muslimin zu Hause im Zusammenhang mit dem Thema Ju-dentum vor allem der Nahostkonflikt eine Rolle spielt, sei es in der Schule eher der Opfersta-tus der Jüd_innen im Nationalsozialismus. Die Schülerin selbst distanziert sich, wie Georgi darlegt, sowohl von der deutschen Erinnerungsgemeinschaft als auch von der israelkritischen Haltung ihrer Familie. Für die Situation der Jüd_innen während des Nationalsozialismus

691 Vgl. Kühner et al., Ausgewählte Studienergebnisse im Überblick, S. 79.

692 Fechler, Einleitung, S. 10.

693 Vgl. Kap. 5.4 sowie Ehricht, Franziska/Gryglewski, Elke: GeschichteN teilen. Dokumentenkoffer für eine interkulturelle Pädagogik zum Nationalsozialismus, Berlin 2009.

694 Vgl. Georgi, Entliehene Erinnerung, S. 127 ff.

695 Vgl. ebd., S. 194 ff.

wickelt sie großes Interesse.696 Die Übersättigung vieler ihrer Mitschüler_innen, sich mit dem Nationalsozialismus zu befassen, bereitet ihr Sorge aus Angst, die Geschichte könne sich wiederholen und dann gegen sie richten:

„Aber halt, ich bin nicht so wie einige Leute in meiner Klasse. Die ham das Thema irgendwie satt, weil sie sagen: Jedesmal heißt es Juden, Juden, Vernichtung, dies und jenes. Schuldfrage und so. Aber das ist bei mir halt nicht so. Ich will darüber reden. […] Ich mein’, vielleicht ist die Angst übertrieben. Aber ich denke manchmal, daß es vielleicht wieder passieren könnte. Oder daß die Rechtsradikalen irgend-welche Anschläge machen oder so.“697

Aus diesem Grund wünscht sich die Jugendliche, dass im Geschichtsunterricht das Thema Widerstand eine größere Rolle spielen sollte, um hierüber zu vermitteln, dass man sich gegen Unrecht zur Wehr setzen kann und muss.698

Eine israelkritische Position zum Nahostkonflikt hingegen nimmt ein anderer Jugendlicher ein, der diesen mit dem Nationalsozialismus in Verbindung bringt und dabei das Motiv der Täter-Opfer-Umkehr699 bedient:

„Ich verbinde das immer noch mit / das schweift halt aus in Konflikten, die jetzt herrschen in Israel und Palästina. Darum, darum find ich’s halt interessant, was damals passiert ist, mit den Juden zum Beispiel, und was jetzt wieder dort passiert in Palästina. Damit verbinde ich das meistens. Also, so Zusammen-hänge, warum die sich jetzt ungefähr genauso zu den Palästinensern verhalten, wie sich jetzt die Natio-nalsozialisten zu denen verhalten haben.“700

Der Jugendliche wurde, wie Georgi schildert, in Iran geboren und kam mit seinen Eltern als Kleinkind nach Deutschland. Er fühlt sich in Deutschland verwurzelt. Den Islam praktiziert er nicht. Seine Eltern sind getrennt und seine Mutter lebt mit einem deutschen Mann zusammen, der als Kind die Bombardierung von Frankfurt erlebt hat. Georgi vermutet, dass über den Stiefvater das Interesse des Interviewpartners am Zweiten Weltkrieg erklärt werden kann.

Dieses Interesse fokussiert sich vor allem auf die Militärgeschichte. Die Bombardierung Dresdens ist für den Schüler das singuläre Ereignis des Zweiten Weltkriegs. Die Forderung, aus dieser Geschichte zu lernen, adressiert er in erster Linie an die Israelis. Obwohl der Ju-gendliche sich, wie Georgi darlegt, sehr stark mit dem deutschen Kollektiv identifiziert, ver-mutet sie, dass die israelkritische Haltung des Jugendlichen einer panarabischen Solidarität entspringt, obgleich er, wie Georgi konstatiert, selbst persischer Herkunft sei.701 Diese Argu-mentation scheint, zumindest auf der Basis der über den Jugendlichen publizierten Daten,

696 Vgl. ebd., S. 177 f.

697 Zitiert in: Ebd., S. 179.

698 Vgl. ebd., S. 179 f.

699 Vgl. Kap. 3.2.2.4 und 3.2.2.5.

700 Zitiert in: Georgi, Entliehene Erinnerung, S. 133.

701 Vgl. ebd., S. 135 ff..

wenig schlüssig. Die offensichtliche Täter-Opfer-Umkehr, die zentrale Stellung der Bombar-dierung Dresdens im Geschichtsbild des Jugendlichen wie auch seine starke Identifikation mit dem Stiefvater verweisen eher auf eine Übernahme von Elementen eines deutschen

Schuldabwehrantisemitismus.702

Für einen anderen Jugendlichen wiederum, der oben bereits erwähnt wurde, spielt der Nah-ostkonflikt keine Rolle. Die Auseinandersetzung mit dem Thema Nationalsozialismus bedeu-tet für ihn ein Ringen um Anerkennung als Deutscher und Türke in der deutschen

Mehrheitsgesellschaft. Dabei wird er jedoch permanent enttäuscht, indem ihm ein Interesse am Thema durch Mitschüler_innen wie auch durch andere Teilnehmer_innen an einer Ge-denkstättenfahrt nach Theresienstadt abgesprochen wird.703

In einem weiteren Fall dient die Bezugnahme auf die Verfolgung der Jüd_innen im National-sozialismus der Thematisierung der Situation der kurdischen Minderheit in der Türkei, wobei der betreffende Interviewpartner Ähnlichkeiten feststellt, jedoch festhält, dass die Situationen nicht identisch sind.704

Fragen an die Geschichte stellt ein anderer Interviewpartner. Er möchte wissen, was Hitler und was die Deutschen gegen Jüd_innen gehabt haben, nur weil sie, wie er sagt „die Deut-schen vom Einkommen und von der Schulbildung hinter sich gelassen“705 haben. Als „Neu-deutscher“, wie er selbst sich bezeichnet,706 liegt für diesen Jugendlichen die Analogie

zwischen Geschichte und Gegenwart darin, „daß muslimischen Deutschen heute wohl ebenso wie jüdischen Deutschen damals die Anerkennung als gleichwertige Bürger versagt blei-be.“707

Eine junge praktizierende Muslimin wiederum sieht ihre Gemeinsamkeit mit Jüd_innen da-rin, dass, wenn sie die deutsche Staatsbürgerschaft annimmt, sie auch eine Deutsche mit einer anderen Religion sein wird.Sie zeigt großes Interesse an jüdischer Geschichte und Empathie mit den Jüd_innen. Mit diesen Themen beschäftigt sie sich in einer Projektwoche Jüdische Spuren in Frankfurt, für die sie sich selbst entschieden hat.708

Für die im Rahmen ihrer Studie interviewten (muslimischen wie nichtmuslimischen) Jugend-lichen konstatiert Georgi, dass die Kenntnisse über die Geschichte des Nationalsozialismus

702 Vgl. Kap. 3.2.2.4.

703 Vgl. Georgi, Entliehene Erinnerung, S. 150 ff.

704 Vgl. ebd., S. 235.

705 Zitiert in: Ebd., S. 269.

706 Ebd., S. 259.

707 Ebd., S. 278.

708 Vgl. ebd., S. 281 ff.

sich bei den Jugendlichen „zu gesellschaftlich relevantem Orientierungswissen“ verfestigt haben.709 Auch hält sie als ein zentrales Ergebnis fest:

„Relevant für die Strategien der Selbstpositionierung der jungen Migranten im Kontext der Geschichte der deutschen Aufnahmegesellschaft erscheint weniger die jeweils spezifische Herkunft als die Ausei-nandersetzung mit dem Status Ausländer beziehungsweise dem Umstand, als Angehöriger einer Min-derheit in Deutschland zu leben.“710

Anhand der mit den Jugendlichen geführten Interviews arbeitet Georgi insgesamt vier Typen von Geschichtskonstruktionen heraus, die sie aus den jeweiligen Geschichtsbezügen der Ju-gendlichen herleitet:

Ein erster Typ richtet seinen Fokus auf die Opfer der NS-Verfolgung. Die damit einhergehen-den Geschichtskonstruktionen beinhalten eine intensive Beschäftigung mit Schicksalen von Verfolgten. Damit verbunden ist ein hohes Maß an persönlicher Betroffenheit, Identifikation und Empathie. Die deutsche Gesellschaft wird dabei vor allem als die Gesellschaft der ehema-ligen Zuschauer_innen, Mitläufer_innen und Täter_innen wahrgenommen. Das Wissen um die NS-Verbrechen wird mit eigenen Diskriminierungs- und Ausgrenzungserfahrungen in Verbindung gebracht. Vor dem Hintergrund rechtsextremistischer und ausländerfeindlicher Gewalt wird auch der Sorge vor Diskriminierung und Verfolgung Ausdruck verliehen und die Möglichkeit einer Wiederholung des Holocaust mit anderen Opfergruppen in Betracht gezo-gen.711

Ein zweiter Typ richtet seinen Fokus auf Zuschauer_innen, Mitläufer_innen und Täter_innen im Nationalsozialismus. Dabei stehen die Motive der Deutschen während des Nationalsozia-lismus im Mittelpunkt. Es gilt zu verstehen, warum einzelne Personen die Rollen von Zu-schauer_innen, Mitläufer_innen und Täter_innen eingenommen und das NS-Regime

unterstützt haben. Argumentationslinien von Diskursen aus der Nachkriegszeit, beispielsweise der oftmals behauptete Befehlsnotstand, die Behauptung, die Deutschen haben nichts gewusst oder auch die Betonung der vermeintlich guten Seiten des Nationalsozialismus werden dabei übernommen. Georgi erkennt diese Geschichtskonstruktionen vor allem bei Jugendlichen, die aus binationalen Familien mit einem deutschen Elternteil stammen und wertet sie als Versuch der Jugendlichen, sich eine Art "Eintrittsbillet" in die deutsche Gesellschaft zu verschaffen.712

709 Georgi, Entliehene Erinnerung, S. 299.

710 Ebd., S. 309.

711 Vgl. ebd., S. 300 f.

712 Vgl. ebd., S. 301 f.

Beim dritten Typ steht die eigene ethnische Gemeinschaft im Fokus. Bei diesem Geschichts-konstrukt wird die Geschichte des Nationalsozialismus und des Holocaust vor allem aus der Perspektive der eigenen ethnischen Gruppe wahrgenommen. Innerhalb dieses Geschichtskon-struktes kann es zu einer Instrumentalisierung des Holocaust kommen, indem die Situation der eigenen Gruppe mit dem Holocaust in Verbindung gebracht wird. Dabei geht es um ein Ringen um Anerkennung eigener Leidens- und Verfolgungserfahrungen, die in der öffentli-chen Kommunikation in Deutschland oftmals nicht wahrgenommen werden: „Es scheint, als ahnten die Betroffenen, daß sie in der deutschen Gesellschaft Gehör für ihre Geschichten und Erfahrungen nur dann finden, wenn diese in eine Nähe zu Auschwitz gerückt werden.“713

Ein vierter Typ schließlich richtet seinen Fokus auf die Menschheit insgesamt. Diese Ge-schichtskonstruktion orientiert sich nicht an ethnischen Zugehörigkeiten, sondern stellt uni-versalistische Fragestellungen an die Themen Nationalsozialismus und Holocaust in den Mittelpunkt. Dabei werden die Geschehnisse während des Zweiten Weltkrieges sowie das Wesen des NS-Regimes mit aktuellen Ereignissen verglichen. Dies führt unter Umständen zu einer Relativierung oder auch Universalisierung des Holocaust. Gleichzeitig beinhaltet diese Geschichtskonstruktion die Aufforderung an alle Menschen, aus dem Holocaust zu lernen und hieraus Handlungsmöglichkeiten für die Gegenwart abzuleiten.714

Insgesamt sieben verschiedene Typen der Repräsentation der NS-Vergangenheit bei jungen Migrant_innen leitet Kölbl aus Interviews mit Jugendlichen nichtdeutscher Herkunft ab:

1) Die NS-Vergangenheit als touristischer Hintergrund, 2) Die NS-Vergangenheit als Ge-schichte der Migrant_innen, 3) Die Vergangenheit, die nicht vergeht, 4) Die Vergangenheit als Geschichte Hitlers: Brutalität, Faszinosum, Verrücktheit, 5) Die Vergangenheit als Lieferantin von Analogien und Interpretationsfolien, 6) Die Vergangenheit als Legitimationsgrundlage aktuellen politischen Handelns, 7) Die NS-Vergangenheit als Material für widersprüchliche Geschichtsdiskurse.715

Kölbl hebt in seinem Aufsatz hervor, dass für einen Teil der aufgeführten Repräsentationen der Migrationshintergrund der interviewten Jugendlichen nicht relevant sei. Vielmehr gehe es dabei um Repräsentationen Jugendlicher. So ließe sich etwa die Reduktion der

NS-Vergangenheit auf die Person Hitlers eher bei jüngeren Jugendlichen und bei Jugendlichen mit niedrigerem Bildungsstand festmachen. Auch das Nutzen der NS-Geschichte für

713 Vgl. Georgi, Entliehene Erinnerung, S. 303 ff., Zitat auf S. 305.

714 Vgl. ebd., S. 305 f.

715Vgl. Kölbl, „Auschwitz ist eine Stadt in Polen“, S. 164 ff.

gien oder für die historisch-politische Orientierung könne man genauso bei Jugendlichen ohne Migrationshintergrund festmachen.716

Für mindestens drei Repräsentationen jedoch hält Kölbl den Migrationshintergrund der Inter-viewpartner_innen für relevant: Die unter Punkt 2) genannte Repräsentation der

NS-Geschichte als NS-Geschichte der Migrant_innen in einem Land unter deutscher Besatzung und einem möglicherweise damit verbundenen Opferkollektiv können herkunftsdeutsche Jugend-liche so nicht teilen. Eine Relevanz des Migrationshintergrundes sieht Kölbl auch für die un-ter Punkt 7) genannte Repräsentation der NS-Geschichte als Maun-terial für widersprüchliche Geschichtsdiskurse, wobei er selbst einschränkend festhält, dass auch Jugendliche ohne Mig-rationshintergrund mit unterschiedlichen Geschichtsbildern, etwa im Schulbuch und zu Hau-se, konfrontiert sein können.717

Eine Repräsentation jedoch, die Kölbl als spezifisch migrationsgebunden betrachtet, ist die unter Punkt 1) genannte „NS-Vergangenheit als touristischer Hintergrund“. Diese Repräsent a-tion entwickelte Kölbl aus einem Interview mit Schülerinnen türkischer und irakischer Her-kunft einer neunten Realschulklasse. Die Schülerinnen erzählten, dass sie Geld für eine Klassenfahrt in die Gedenkstätte Auschwitz sparen würden und sich auf diese Fahrt freuen.

Auf die Frage, was wohl Gleichaltrige im Irak und der Türkei dazu sagen würden, dass sie nach Auschwitz fahren, mutmaßen die befragten Mädchen, dass deren Interesse einerseits von ihren finanziellen Möglichkeiten abhinge, es andererseits aber im Irak und der Türkei selbst Krieg gebe und aus diesem Grunde eine Beschäftigung mit Kriegen in anderen Ländern mög-licherweise weniger interessant wäre. Im weiteren Verlauf des Interviews verbanden die Schülerinnen ihr Interesse an der Gedenkstättenfahrt nach Auschwitz mit einem Interesse am Leben der Menschen in Polen heute. In einem weiteren Gruppengespräch im Anschluss an die Reise konnten die Interviewpartnerinnen eine Reihe von Fakten über den Nationalsozialismus nennen, die sie offensichtlich während der Gedenkstättenfahrt gelernt haben. Hierzu gehören auch zahlreiche konkrete Erkenntnisse über das Lager Auschwitz. Darüber hinaus schilderten die Schülerinnen interessiert ihre Beobachtungen über das heutige Leben in Polen.718

Aus der Tatsache, dass die befragten Schülerinnen sich auf die Reise „freuen“, dass sie dafür

„Geld sparen“ und dass sie die Fahrt damit verbinden wollen, ein ihnen unbekanntes Land kennenzulernen, sowie aus den Mutmaßungen, die die befragten Schülerinnen über Gleichalt-rige im Irak und der Türkei anstellen, leitet Kölbl die Repräsentation „NS-Vergangenheit als touristischer Hintergrund“ her, wobei Auschwitz als „beliebiges touristisches Ausflugsziel“

716 Vgl. Kölbl, „Auschwitz ist eine Stadt in Polen“, S. 169 f.

717 Vgl. ebd., S. 170.

718 Vgl. ebd., S. 164 ff.

fungiert. Dieser „touristische Hintergrund“ sei zwar nach der Reise in abgeschwächter Form erkennbar, aber dennoch bleibend vorhanden.719 Eine Repräsentation, die „Auschwitz zu-nächst einmal und vor allem als ein touristisches Ausflugsziel wie andere auch“720 betrachte, sei, so Kölbl, unter Jugendlichen ohne Migrationshintergrund im Alter der befragten Schüle-rinnen, kaum zu finden. Dazu sei laut Kölbl

„die NS-Vergangenheit als eine Geschichte, mit der man sich 'als Deutscher' besonders auseinanderzu-setzen habe, im geschichtskulturellen Diskurs der Bundesrepublik, an dem natürlich auch Schülerinnen und Schüler in der einen oder anderen Weise partizipieren, zu stark verankert.“721

Dieses von Kölbl aufgestellte Konstrukt einer Repräsentation der NS-Vergangenheit „als tou-ristischer Hintergrund“ muss kritisch hinterfragt werden. Die von Kölbl angebotene Interpre-tation, die Schülerinnen würden Auschwitz vorwiegend als Ausflugsziel betrachten und dies sei eine spezifische Betrachtungsweise von Jugendlichen mit Migrationshintergrund, ist in meinen Augen nicht hinreichend belegt. Der Umstand, dass die befragten Mädchen Geld für diese Reise sparen, kann in erster Linie ein Hinweis auf ihre fehlenden Möglichkeiten sein, eine solche Reise ohne weiteres zu finanzieren. Dass sie aber die Bereitschaft aufbringen, ausgerechnet für diese Reise zu sparen, verweist auf die Bedeutung, die die Teilnahme an der Reise für die Mädchen hat. Das kann zugegebenermaßen verschiedene Gründe haben, etwa das zu erwartende gemeinsame Erlebnis einer Klassenfahrt oder das Verreisen ohne die El-tern. Es kann aber eben auch in einem konkreten Interesse am Reiseziel begründet sein, das die Jugendlichen an keiner Stelle des publizierten Materials negieren. Demnach zeigt die Be-reitschaft der Mädchen, für diese Gedenkstättenfahrt zu sparen, dass sie eine Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus und dem Holocaust nicht ablehnen. Im Gegenteil scheinen sie sowohl vor als auch nach der Reise eher großes Interesse daran zu signalisieren. Im anderen Fall hätten sie die Tatsache, nicht über die finanziellen Mittel zu verfügen, als Grund für eine Nichtteilnahme an der Reise geltend machen können. Die Bereitschaft ihrer Teilnahme an der Reise unterstreichen die Schülerinnen durch ihre Aussage, dass sie sich auf die Reise „freuen“

würden. Diese Form des Sprachgebrauchs ist nach Meinung von Kölbl auf den Migrations-hintergrund der Schülerinnen zurückzuführen, denn herkunftsdeutsche Jugendliche würden soweit am deutschen Erinnerungsdiskurs partizipieren, dass sie um die besondere Bedeutung von Auschwitz wüssten und deshalb bei ihrer Wortwahl sensibler wären. Eine solche

(Sprach)sensibilität bezüglich des Themas lassen jedoch tatsächlich sowohl Jugendliche mit und ohne Migrationshintergrund als auch zahlreiche Erwachsene vermissen. So äußerten

719 Kölbl, „Auschwitz ist eine Stadt in Polen“, S. 166 f.

720 Ebd., S. 170.

721 Ebd.

kunftsdeutsche Auszubildende und Studierende, die an einer von mir begleiteten Studienfahrt teilnahmen, zum geplanten Programmpunkt, die KZ-Gedenkstätte Sachsenhausen zu besu-chen: „Ich freu mich auf das KZ, ich war noch nie in `nem KZ.“ bzw. „Ich war immer nei-disch auf die Realschüler, die ins KZ gefahren sind.“ Das Feedback von Teilnehmer_innen aus dieser Gruppe nach dem Besuch der Gedenkstätte lautete: „Ich fand’s schön.“ „Es war ein schöner Tag.“ „Es hat Spaß gemacht, sich in die Themen reinzuarbeiten.“722 Die zu Beginn einer Führung am Denkmal für die ermordeten Juden Europas an eine Besucher_innengruppe gerichtete Frage, warum sie im Rahmen ihres Berlinaufenthalts das Denkmal besucht, wurde damit beantwortet, dass eigentlich eine Führung im Reichstag geplant gewesen sei, für die es jedoch keinen Termin mehr gegeben habe. Man habe sich dann für einen Besuch des Mahn-mals entschieden, weil das ja auch ganz in der Nähe sei.723 Angesichts dieser Beispiele, die durch Fachkräfte der historisch-politischen Bildungsarbeit um zahlreiche weitere ergänzt werden könnten, ist es schwer nachvollziehbar, inwiefern die von Kölbl angeführten Aussa-gen der Schülerinnen einer neunten Klasse auf einen spezifischen „touristischen Hinte r-grund“, wie er nur von Jugendlichen mit Migrationshintergrund geäußert werden könnte, schließen lassen können. Immerhin unterstellt die von Kölbl gewählte Formulierung einer Repräsentation von „NS-Vergangenheit als touristischer Hintergrund“ und von „Auschwitz als einem beliebigen Ausflugsziel“ eine Oberflächlichkeit, die man den interviewten Mädchen jedoch keinesfalls unterstellen kann. Im Gegenteil, sie wirken motiviert, sich mit der Ge-schichte von Auschwitz zu befassen. Dass sie darüber hinaus Interesse an der Lebenssituation der Menschen in Polen heute haben, was für Kölbl ebenfalls ein Hinweis auf eine überwie-gend touristische Perspektive auf die Reise durch die Schülerinnen ist, zeugt in meinen Augen eher von einer Aufgeschlossenheit und auch von einem politisch-gesellschaftlichen Interesse der Mädchen. Schließlich stand dieses Interesse nicht in Konkurrenz zum Interesse am Ge-denkstättenbesuch, sondern wurde von den befragten Schülerinnen lediglich als zusätzlicher Aspekt eingebracht.724

722 Diese Kommentare äußerten Teilnehmer_innen an einer Studienfahrt zur historisch-politischen Bildung in Berlin im Juli 2010, die von mir begleitet wurde. Vgl. hierzu auch die oben bereits erwähnten Ausführungen von Kühner et al. über irritierendes Verhalten von Jugendlichen bei Gedenkstättenfahrten. Kühner et al., Ausgewähl-te Studienergebnisse im Überblick, S. 79.

723 So wurde mir im April 2011 von der Referentin berichtet, die diese Führung begleitete.

724 Die Schülerinnen waren gefragt worden, ob sie auch eine Gedenkstätte in ihrer Region besuchen würden und hatten dazu geantwortet, dass sie dies auch interessieren würde, dass sie aber gern wissen möchten, wie Men-schen in Polen leben würden. Vgl. Kölbl, “Auschwitz ist eine Stadt in Polen“, S. 166.

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