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3. 2 Erscheinungsformen von Antisemitismus in Deutschland

Kapitel 4: Geschichtslernen zu Nationalsozialismus und Holocaust in der Einwanderungsgesellschaft Einwanderungsgesellschaft

4.2 Datenlage

Die Ausführungen in diesem Kapitel basieren in der Hauptsache auf empirischen und theore-tischen Arbeiten, die überwiegend in den vergangenen zwei Jahrzehnten vorgelegt wurden.

Die wichtigsten sollen hier kurz benannt werden:

Die Studie Nationalsozialismus im Geschichtsunterricht, die im Jahr 2002 am Fachbereich Erziehungswissenschaften der Goethe-Universität Frankfurt am Main publiziert wurde, beo-bachtet die unterrichtliche Kommunikation zum Thema Nationalsozialismus und Holo-caust.600 Es handelt sich hierbei um eine Pilotstudie, in deren Rahmen Beobachtungen in Geschichtsgrundkursen der gymnasialen Jahrgangsstufe 12 an zwei verschiedenen Schulen durchgeführt wurden. Eine der beiden Schulen ist eine Berufliche Schule, hier hatte etwa ein Drittel der 22 Schüler_innen einen Migrationshintergrund, die andere Schule ist eine Koope-rative Gesamtschule mit Hauptschul-, Realschul- und Gymnasialzweig. Die hier beobachteten 17 Schüler_innen schienen „in Bezug auf die nationale Herkunft weitgehend homogen“ zu sein.601 Die Untersuchung erfolgte über einen Zeitraum von vier Monaten. Insgesamt wurden 32 Unterrichtseinheiten beobachtet.602 Transkribiert wurden zehn Unterrichtseinheiten, fünf davon wurden für eine detaillierte Fallinterpretation ausgewählt. Gegenstand der Untersu-chung war die Frage nach der spezifischen Leistungsfähigkeit des Unterrichtes vor dem Hin-tergrund, dass es sich um ein moralisch hoch aufgeladenes Thema handelt, an dessen

600 Vgl. Hollstein, Oliver/Meseth, Wolfgang/Müller-Mahnkopp, Christine/Proske, Matthias/Radtke, Frank-Olaf:

Nationalsozialismus im Geschichtsunterricht. Beobachtungen unterrichtlicher Kommunikation, Frankfurt am Main 2002, S. 22.

601 Ebd., S. 26 f.

602 Vgl. Meseth, Wolfgang/Proske, Matthias/Radtke, Frank-Olaf: Nationalsozialismus und Holocaust im Ge-schichtsunterricht. Erste empirische Befunde und theoretische Schlussfolgerungen, in: Meseth, Wolfgang/ Pros-ke, Matthias/RadtPros-ke, Frank-Olaf (Hg.) : Schule und Nationalsozialismus. Anspruch und Grenzen des

Geschichtsunterrichts. Frankfurt am Main/New York 2004, S. 102 ff.

pädagogische Vermittlung weitreichende Erwartungen im Sinne einer moralischen Erziehung seitens der Gesellschaft geknüpft sind.603

In einer weiteren Studie wurde im Rahmen eines an der Goethe-Universität angesiedelten DFG-Forschungsprojektes in den Jahren 2005-2007 die Vermittlungspraxis der Geschichte des Nationalsozialismus und des Holocaust in schulischen und außerschulischen Bildungsein-richtungen sowie in Gedenkstätten untersucht. Dabei wurden Unterrichtseinheiten zum The-ma Nationalsozialismus in zwei Gymnasien, einer Hauptschule, einer Kooperativen

Gesamtschule, drei Gedenkstätten für die Opfer der nationalsozialistischen Massenvernich-tung, einer außerschulischen Bildungseinrichtung und einem politischen Jugendverband beo-bachtet. Die Jugendlichen waren zwischen 14 und 16 Jahre alt.604 Die Untersuchung zielte darauf ab, die Bedingungen der Möglichkeit politisch-moralischer Erziehung an diesen Orten empirisch zu bestimmen. Dabei ging es darum, unter dem Titel Der Umgang mit den Parado-xien politisch-moralischer Erziehung die Leistungsfähigkeit der entsprechenden Lernorte im Umgang mit spezifischen Strukturproblemen der Erziehung auszuloten.605

Eine Pilotstudie, die die gegenwärtigen Bedingungen und Möglichkeiten des Geschichtsunter-richts über den Nationalsozialismus und den Holocaust untersucht, wurde im Rahmen der Task Force for International Cooperation on Holocaust Education, Remembrance, and Rese-arch im Auftrag des Bayerischen Kultusministeriums und des Auswärtigen Amtes an bayeri-schen Schulen durchgeführt.606 Diese nichtrepräsentative Interviewstudie brachte interessante Ergebnisse in Bezug auf das Interesse von Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund sowie in Bezug auf die Wahrnehmungen von Lehrer_innen hervor.Im Rahmen der Studie wurden 48 Schüler_innen (elf Gymnasiast_innen, 19 Realschüler_innen, zwölf Hauptschü-ler_innen, sechs Fachoberschüler_innen) sowie zwölf Lehrer_innen befragt. Im Fokus der Studie stand die Frage, ob die intergenerationellen und interkulturellen Entwicklungen neue Herausforderungen für die Thematisierung von Nationalsozialismus und Holocaust in der Schule mit sich brächten.607 Die Studie verfolgt einen sozialpsychologischen Ansatz, was

603 Vgl. Meseth et al., Nationalsozialismus und Holocaust im Geschichtsunterricht, S. 95 ff.

604 Vgl. Meseth, Wolfgang: Schulisches und außerschulisches Lernen im Vergleich. Eine empirische Untersu-chung über die Vermittlung der Geschichte des Nationalsozialismus im Unterricht, in außerschulischen Bil-dungseinrichtungen und in Gedenkstätten, in: kursiv. Journal für politische Bildung, 12 (2008) 1, S. 77.

605 Vgl. ebd., S. 75 f.

606 Vgl. Bayerische Landeszentrale für politische Bildungsarbeit (Hg.): Holocaust Education. Wie Schüler und Lehrer den Unterricht zum Thema Nationalsozialismus und Holocaust erleben, in: Einsichten und Perspektiven.

Bayerische Zeitschrift für Politik und Geschichte, Themenheft 1/08, 2008.

607 Vgl. Sigl, Robert: Der internationale Kontext der Studie - die ITF, in: Bayerische Landeszentrale für politi-sche Bildungsarbeit (Hg.): Holocaust Education. Wie Schüler und Lehrer den Unterricht zum Thema

National-auch ein Alleinstellungsmerkmal dieses Projektes darstellt. Von Interesse sind dabei nicht die objektiven Ereignisse des Unterrichtsgeschehens, sondern die subjektive Art und Weise, wie Schüler_innen und Lehrer_innen den Unterricht erleben und bewerten. Zugleich betonen die Autor_innen der Studie, dass es sich nicht um eine repräsentative Studie handele, sondern dass es darum gehe, die „Erlebnisweisen der schulischen Interaktion in ihrer Komplexität möglichst breit zu erfassen und die dabei relevanten Aspekte zu benennen“.608 Die Herkunfts-länder der befragten Jugendlichen sind sehr vielfältig. Bedauern äußern die Autor_innen dar-über, dass unter den Befragten keine Jugendlichen mit türkischem bzw. muslimischem Hintergrund waren, da diese in den öffentlichen Diskursen oftmals als Problemfälle themati-siert würden, ohne dass es haltbare empirische Daten hierzu gebe. Damit sei zugleich eine weiterführende Fragestellung für eine mögliche Hauptstudie benannt.609

Zum Thema Geschichtslernen und Geschichtsbewusstsein in der Einwanderungsgesellschaft entstanden seit Ende der 1990er Jahre verschiedene Arbeiten und Publikationen, die für die Fragestellung dieser Arbeit relevant sind. Mit dem Geschichtsbewusstsein von Jugendlichen in der Einwanderungsgesellschaft befasste sich Georgi in ihrer im Jahr 2003 vorgelegten Stu-die Entliehene Erinnerung. Geschichtsbilder junger Migranten in Deutschland. In der StuStu-die ging es Georgi darum darzulegen, wie sich junge Migrant_innen in Deutschland im Span-nungsfeld ihrer unterschiedlichen nationalen Zugehörigkeiten zum Nationalsozialismus und zum Holocaust positionieren. Für diese qualitative Untersuchung hat Georgi in den Jahren 1997-1999 insgesamt 55 Jugendliche mit unterschiedlichem Migrationshintergrund sowie Jugendliche aus Ost- und Westdeutschland im Alter von 15-20 Jahren befragt. Das untersuch-te Sample setzuntersuch-te sich schließlich aus 32 Inuntersuch-terviews zusammen.610 18 Interviews wurden in die Feinanalyse einbezogen. Da im Rahmen der Studie nur Jugendliche befragt wurden, die sich schon mit dem Thema Nationalsozialismus befasst hatten und da die Teilnahme an den Inter-views freiwillig war, liegt nahe, dass die befragten Jugendlichen am Thema interessiert wa-ren. Damit gibt die Studie keinen Aufschluss über mögliche Motivationen für das

Desinteresse von Jugendlichen, die sich nicht mit dem Thema Nationalsozialismus beschäfti-gen. Unterrepräsentiert sind auch Jugendliche von Hauptschulen. Georgi erklärt dies damit,

sozialismus und Holocaust erleben, in: Einsichten und Perspektiven. Bayerische Zeitschrift für Politik und Ge-schichte, Themenheft 1/08, 2008, S. 8.

608 Langer, Phil C./Cisneros, Daphne/Kühner, Angela: Aktuelle Herausforderungen der schulischen Thematisie-rung von Nationalsozialismus und Holocaust, in: Bayerische Landeszentrale für politische Bildungsarbeit (Hg.):

Holocaust Education. Wie Schüler und Lehrer den Unterricht zum Thema Nationalsozialismus und Holocaust erleben, in: Einsichten und Perspektiven. Bayerische Zeitschrift für Politik und Geschichte, Themenheft 1/08, 2008, S. 22.

609 Vgl. ebd., S. 23 f.

610 Vgl. Georgi, Entliehene Erinnerung, S. 105 f.

dass sich die Rekrutierung von Interviewpartner_innen aus Hauptschulen problematisch ge-staltete, da die meisten von ihr angefragten Hauptschulklassen das Kriterium, dass sie sich bereits mit dem Thema beschäftigt haben sollen, nicht erfüllten.611

In seinem Aufsatz Auschwitz ist eine Stadt in Polen612 publizierte Kölbl die Ergebnisse seiner Untersuchungen zur Frage, wie das Thema Nationalsozialismus von „jungen Migrantinnen und Migranten“613 gesehen wird. Dazu führte er Gruppendiskussionen und fokussierte Ein-zelinterviews durch, in die er auch die Migrationsgeschichten der Familien einbezog. Der vorgelegte Aufsatz basiert auf Gesprächen mit insgesamt 20 Jugendlichen im Alter von 12-18 Jahren, davon neun weibliche und elf männliche Interviewpartner. Insgesamt gab es vier Gruppendiskussionen mit jeweils vier Teilnehmer_innen sowie neun Einzelinterviews. Eine Gruppe wurde zweimal befragt. Die Jugendlichen lernten an Haupt- und Realschulen sowie an Gymnasien. Kriterium für den Migrant_innenenstatus der befragten Jugendlichen ist laut Kölbl der Umstand, dass mindestens ein Elternteil im Ausland geboren wurde. Dabei ergeben sich für das Sample folgende Migrationshintergründe: türkisch, irakisch, kroatisch, grie-chisch, französisch, japanisch, russisch.614

Angesichts der Vielfältigkeit der Geschichtsbezüge in der Einwanderungsgesellschaft, wie sie vor allem von Georgi nachgewiesen wurden, bildet die Studie Geschichtsunterricht in der multiethnischen Gesellschaft. Eine fachdidaktische Studie zur Modifikation des Geschichtsun-terrichts aufgrund migrationsbedingter Veränderungen615 von Alavi eine wegweisende Grundlage für konzeptionelle Überlegungen zur interkulturellen Ausrichtung des Geschichts-lernens. Dieser Frage widmen sich auch Aufsätze und Publikationen von Körber und von Bor-ries,616 wobei sowohl in der Studie von Alavi wie auch in vielen der Aufsätze von Körber und

611 Vgl. Georgi, Entliehene Erinnerung, S. 116 ff.

612Kölbl, Carlos: „Auschwitz ist eine Stadt in Polen“. Zur Bedeutung der NS-Verbrechen im Geschichtsbe-wusstsein junger Migrantinnen und Migranten, in: Barricelli, Michele/Hornig, Julia (Hg.): Aufklärung, Bildung,

„Histotainment“? Zeitgeschichte in Unterricht und Gesellschaft heute. Frankfurt am Main 2008, S. 161-173.

613 Ebd., S. 163. Wie auch Georgi verwendet Kölbl hier den Begriff „Migrantinnen und Migranten“, wobei er sich auch auf Jugendliche bezieht, die in Deutschland geboren sind, also keine eigenen Migrationserfahrungen aufweisen können.

614 Vgl. ebd., S. 163.

615 Alavi, Bettina: Geschichtsunterricht in der multiethnischen Gesellschaft. Eine fachdidaktische Studie zur Modifikation des Geschichtsunterrichts aufgrund migrationsspezifischer Veränderungen, Frankfurt am Main 1998.

616 Vgl. u. a. Borries, Bodo von: Forschungen über Einstellungen Jugendlicher zum Holocaust. Empirische Be-funde und sozialpsychologische Bedingungen, in: Kammerer, Bernd/Prölß-Kammerer, Anja (Hg.): recht ext-rem.de. Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und Rechtsextremismus Konzepte und Projekte der politischen und historischen Bildung, Nürnberg 2002; Borries, Bodo von: Interkulturalität beim historisch-politischen Lernen – Ja sicher, aber wie?, in: Körber, Andreas et al. (Hg.): Interkulturelles Geschichtslernen.

Geschichtsunterricht unter den Bedingungen von Einwanderung und Globalisierung; Konzeptionelle

Überlegun-von Borries nicht explizit das Thema Nationalsozialismus, sondern das Geschichtslernen im Allgemeinen in den Blick genommen wird.

Der Fragestellung, wie Geschichtslernen zu Nationalsozialismus und Holocaust in der Ein-wanderungsgesellschaft gestaltet werden kann, widmete sich erstmals der Sammelband Erzie-hung nach Auschwitz in der multikulturellen Gesellschaft. Pädagogische und soziologische Annäherungen, der im Jahr 2000 von Fechler, Kößler und Liebertz-Groß herausgegeben wur-de.617 Weitere wegweisende Aufsätze hierzu publizierte Gryglewski aus der Perspektive ihrer Arbeit an der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz.618

Über die genannten Studien hinaus gibt es weitere Publikationen, die sich auf theoretischer Ebene mit Fragestellungen und Überlegungen zum historischen Lernen zu Nationalsozialis-mus und Holocaust befassen.

gen und praktische Ansätze. Münster, New York, München, Berlin 2001; Borries, Bodo von: Historisch Denken Lernen – Welterschließung statt Epochenüberblick. Geschichte als Unterrichtsfach und Bildungsaufgabe, Opla-den & Farmington Hills 2008; Borries, Bodo von: Menschenrechte im Geschichtsunterricht. Auswege aus einem Missverhältnis? Normative Überlegungen und praktische Beispiele, Schwalbach/TS 2011; Körber, Andreas:

Interkulturelles Lernen im Geschichtsunterricht eine Einleitung, in: Körber, Andreas (et al. (Hg.): Interkulturel-les Geschichtslernen. Geschichtsunterricht unter den Bedingungen von Einwanderung und Globalisierung; Kon-zeptionelle Überlegungen und praktische Ansätze. Münster, New York, München, Berlin 2001.

617 Fechler, Bernd/Kößler, Gottfried/Liebertz-Groß, Till: Einleitung, in: Fechler, Bernd/Kößler,

Gott-fried/Liebertz-Groß, Till (Hg.): „Erziehung nach Auschwitz“ in der multikulturellen Gesellschaft. Pädagogische und soziologische Annäherungen, Weinheim/München 2000.

618 Gryglewski, Elke: Neue Konzepte der Gedenkstättenpädagogik. Gruppenführungen mit Jugendlichen nicht-deutscher Herkunft in der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz, in: Fechler, Bernd et al.

(Hg. im Auftrag des Fritz-Bauer-Instituts und der Jugendbegegnungsstätte Anne Frank): Neue Judenfeindschaft?

Perspektiven für den pädagogischen Umgang mit dem globalisierten Antisemitismus, Jahrbuch zur Geschichte und Wirkung des Holocaust 2006, Frankfurt am Main 2006; Gryglewski, Elke: Diesseits und jenseits gefühlter Geschichte: Zugänge von Jugendlichen mit Migrationshintergrund zu Shoa und Nahostkonflikt, in: Georgi, Vio-la B./Ohliger, Rainer (Hg.): Crossover Geschichte. Historisches Bewusstsein Jugendlicher in der Einwande-rungsgesellschaft, Hamburg 2009; Gryglewski, Elke: Historisch-politische Bildung in der

Einwanderungsgesellschaft, in: Lange, Dirk/Polat, Ayça (Hg.): Unsere Wirklichkeit ist anders. Migration und Alltag. Perspektiven politischer Bildung, Bonn 2009.

4.3 Historisch-politische Bildungsarbeit zu Nationalsozialismus und

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