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3. 2 Erscheinungsformen von Antisemitismus in Deutschland

3.2.4 Antisemitische Einstellungen bei Jugendlichen

Studie von Scherr und Schäuble zeigt, auch für Jugendliche eine Rolle spielt. Scherr und Schäuble begegneten antisemitischen Aussagen in verschiedenen Kontexten. So kann Anti-semitismus als Bestandteil verfestigter rechtsextremer, islamistischer oder nationalistischer Ideologien sowie im Kontext von antiimperialistisch-israelkritischen Positionen auftreten.Er kann auch Bestandteil einer Haltung sein, die grundsätzlich auf alles Fremde und Unbekannte ablehnend reagiert.Eine generelle Feindseligkeit, die sich gegen alle Jüd_innen bzw. gegen das Judentum als Religion richtet, war bei den befragten Jugendlichen nur in Ausnahmefällen vorzufinden. Verbreitet sei hingegen „eine Differenzannahme ohne offenkundige Feindselig-keit im Sinne der Vorstellung, Juden seien eine irgendwie besondere Gruppe, die sich von

‚uns’ unterscheidet.“444

Grundsätzlich ist zunächst festzuhalten, dass das Vornehmen von Unterscheidungen ein ge-wöhnlicher sozialpsychologischer Vorgang ist. Werden dieser Vorgang und die daraus entste-henden Bilder jedoch nicht reflektiert und hinterfragt, besteht die Gefahr, dass Jüd_innen nicht als Individuen, sondern als homogene Gruppe wahrgenommen werden, die sich von Nichtjüd_innen stark unterscheiden.Eine solche Differenzkonstruktion tritt, so Schäuble und Scherr, durchaus in Verbindung mit bruchstückhaft verwendeten antisemitischen Stereotypen auf. Diese fügen sich jedoch in den allermeisten Fällen nicht zu einem geschlossenen antise-mitischen Weltbild zusammen.445 Veranschaulichen lässt sich dies unter anderem anhand der Verwendung des Schimpfwortes „Du Jude!“. Die Autor_innen halten fest, dass diese Ver-wendung unter einigen Jugendlichen üblich und vielen Jugendlichen bekannt sei. Sie regen an, zwischen verschiedenen Bedeutungen, die dessen Verwendung haben kann, zu unter-scheiden. Dabei verweisen sie auf das „objektive Bedeutungspotential“ des Ausdrucks, die

„Intention des Sprechers“ und die „Interpretation durch jeweilige AdressatInnen und Zuhöre-rInnen“.446 „Bei dem Schimpfwort ‚Du Jude!’ handelt es sich zweifellos um eine faktisch an-tisemitische Kommunikation, nicht aber notwendig um eine Kommunikation von

AntisemitInnen oder um eine Kommunikation in antisemitischer Absicht“.447 Entsprechend kann es sich bei der Verwendung des Schimpfwortes durchaus um ein „rhetorisches Mittel im

soviel Verbrechen an Juden begangen haben. (umgepolt)“, „Von den Verbrechen an den Juden haben die Deut-schen nichts gewusst“, „Viele Juden waren damals asozial“, „Viele Juden versuchen heute aus der Vergangen-heit einen Vorteil zu ziehen“, „Die Juden sind mitschuldig, wenn sie gehasst und verfolgt werden“, „In den Berichten über Konzentrationslager und Judenverfolgung wird viel übertrieben dargestellt.“ (Sturzbecher, Diet-mar/Holtmann, Dieter (Hg.): Werte, Familie, Politik, Gewalt – Was bewegt die Jugend? Aktuelle Ergebnisse einer Befragung, Berlin 2007, S. 282.) Leider werden die Zustimmungswerte zu den einzelnen Fragen nicht aufgeschlüsselt dargestellt.

444 Scherr/Schäuble, „Ich habe nichts gegen Juden, aber…“ (Kurzfassung), S. 8 ff.

445 Vgl. ebd., S. 10.

446 Ebd., S. 18.

447 Ebd.

Kontext einer jugendtypischen Kommunikation“ handeln. Auch Lapeyronnie hält für den französischen Kontext fest:

„Da die antisemitischen Äußerungen meist fallen, ohne dass man sie wirklich meint, oder zumindest, ohne dass man sich ihrer negativen Wirkung wirklich bewusst ist, drücken sie auch keine erklärte nega-tive Absicht aus. Die Person, die sie benutzt, sieht keinerlei Rassismus darin. Sie benutzt sie hauptsäch-lich, um eine Zugehörigkeit auszudrücken, als eine Art natürliches gemeinsames Vokabular. Wenn hier auch keine Beleidigung vorliegt, da ja niemand direkt gemeint ist, und es auch keine unmittelbare Ab-sicht gibt, wird doch durch den Gebrauch eines solchen Vokabulars ein feindliches Klima geschaf-fen.“448

In diesem von Lapeyronnie erwähnten feindlichen Klima wie auch in dem Umstand, dass die Verwendung des Schimpfwortes „Du Jude!“ eine Enttabuisierung im Sprechen über

Jüd_innen deutlich macht, sehen Scherr und Schäuble problematische Aspekte, die es im pä-dagogischen Kontext zu thematisieren gelte, auch wenn hinter der Verwendung des Schimpf-wortes möglicherweise keine antisemitische Absicht stehe.449

Auch Jugendliche, die für sich eine anti-antisemitische Haltung beanspruchen, weil sie mei-nen, aus dem Holocaust gelernt zu haben, sind nicht immer frei von antisemitischen Stereoty-pen. Diese kommen beispielsweise beim Reden über den Nahostkonflikt oder über

weltpolitische Probleme zum Vorschein, ohne dass dies den Jugendlichen bewusst wäre. Dies zeigt die Grenzen eines „Lernens aus der Geschichte“ auf.450 Auch wenn eine Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus stattgefunden hat, führt diese nicht zwangsläufig dazu, dass die Jugendlichen befähigt sind, aktuelle Formen von Antisemitismus zu erkennen und sich damit auseinandersetzen zu können. Jedoch betonen Scherr und Schäuble, dass viele der befragten Jugendlichen den nationalsozialistischen Antisemitismus für verabscheuungswürdig halten.451 Im Interview mit einer Gruppe von Schüler_innen wurde beispielsweise deutlich, dass sich die Jugendlichen einerseits eindeutig gegen Antisemitismus positionierten, andererseits je-doch Jüd_innen nicht als selbstverständliche und normale Gesellschaftsmitglieder betrachte-ten.452 Eine Auseinandersetzung mit dem Holocaust betrachteten diese Jugendlichen als unverzichtbar. Gleichwohl äußerten viele von ihnen Kritik an Erinnerungsforderungen.

448 Lapeyronnie, Didier: Antisemitismus im Alltag Frankreichs, in: Journal für Konflikt- und Gewaltforschung, Jg. 7, H. 1, S. 30.

449 Vgl. Scherr/Schäuble, „Ich habe nichts gegen Juden, aber…“ (Kurzfassung), S. 18.

450 Scherr/Schäuble, „Ich habe nichts gegen Juden, aber…“ (Langfassung), S. 6.

451 Vgl. ebd., S. 11. Dies zeigt sich auch in der Studie von Baier et al., wonach 85,8 % der Befragten der Aussa-ge, dass es nicht schrecklich sei, dass Deutsche so viele Verbrechen an Juden begangen haben, nicht zustimmten (Baier et al., Jugendliche in Deutschland als Opfer und Täter von Gewalt, S. 115). Die Zustimmungswerte zu dieser Frage sind jedoch aufgrund der doppelten Verneinung in Frage und Antwort nur bedingt zuverlässig.

452 Vgl. Scherr/Schäuble, „Ich habe nichts gegen Juden, aber…“ (Kurzfassung), S. 25.

„Die Positionen in der Gruppe schwanken zwischen einer moralischen Selbstverpflichtung, sich der Vergangenheit zu stellen, und einer Abwehr dagegen, sich darauf verpflichten zu lassen.“453

In einer anderen Gruppe kommt die Erinnerungsabwehr noch deutlicher zum Tragen. Die interviewten Jugendlichen möchten sich die NS-Vergangenheit als junge Deutsche nicht mehr vorhalten lassen. Sie identifizieren sich als politisch links und argumentieren nach ihrem Selbstverständnis nicht antisemitisch. Im Interview jedoch verwenden sie antisemitische Ste-reotype und beklagen in einer emotional aufgeladenen Debatte „die aus ihrer Sicht inakzep-tablen Verhaltensweisen jüdischer Organisationen bzw. einzelner Repräsentanten jüdischer Organisationen.“454 Für sich selbst beanspruchen sie,

„ihrer politischen und moralischen Verantwortung durch eine intensive Auseinandersetzung mit dem Holocaust gerecht geworden zu sein. […] Für sie scheint es zudem selbstverständlich, dass sie als An-gehörige einer gymnasialen Abschlussklasse aufgerufen sind, politisches Geschehen in Deutschland und in der Welt in einer quasi-objektiven Perspektive einzuschätzen und zu bewerten. Dem entspricht, dass ihre Thematisierung des Holocaust in einer sehr abgeklärten und unemotionalen Weise erfolgt, […]

Obwohl die Jugendlichen dezidiert keine Antisemiten sein wollen, erlaubt es ihnen die Differenzierung zwischen guten und schlechten Juden, die ‚schlechten Juden’ als Juden zu kritisieren, ohne dass dies als offenkundiger Widerspruch zum eigenen Selbstverständnis erlebt wird. Die Feststellung einer vermeint-lich eindeutigen israelischen Täterschaft ist zudem Ausgangspunkt für Aussagen über ein die Reklama-tion des Opferstatus konterkarierendes jüdisches Fehlverhalten, das mit dem Thema Nahostkonflikt nichts zu tun hat.“455

Für andere Jugendliche wiederum ist der Themenkomplex „Judentum und Antisemitismus“

weitgehend irrelevant. In ihrem Alltag beschäftigen sie sich weder mit dem historischen noch mit dem aktuellen Antisemitismus, wenn sie nicht dazu angeregt werden. Dieses Desinteresse kann, so Scherr und Schäuble, ein Hinweis auf eine Gleichgültigkeit sein, die impliziert, dass diese Jugendlichen auch für antisemitische Argumentationen und Propaganda nicht empfäng-lich sind. Andererseits heißt dies aber auch, dass den Jugendempfäng-lichen die Bereitschaft und die Motivation fehlen, sich mit der Geschichte des Nationalsozialismus und aktuellem Antisemi-tismus angemessen auseinanderzusetzen.456 Hier zeigt sich der Bedarf an politischer Bil-dungsarbeit, denn Gleichgültigkeit und Desinteresse können die Anfälligkeit für

demagogische und menschenverachtende Parolen erhöhen.

453 Scherr/Schäuble, „Ich habe nichts gegen Juden, aber…“ (Kurzfassung), S. 26.

454 Ebd., S. 33.

455 Ebd., S. 35.

456 Vgl. Scherr/Schäuble, „Ich habe nichts gegen Juden, aber…“ (Langfassung), S. 9.

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