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3. 2 Erscheinungsformen von Antisemitismus in Deutschland

3.3 Antisemitismus und Muslim_innen

3.3.4 Antisemitismus unter muslimischen Jugendlichen in Deutschland

3.3.4.2 Antisemitische Bilder

Betrachtet man die konkreten antijüdischen Bilder, die von den in den Untersuchungen be-fragten muslimischen Jugendlichen aufgegriffen wurden, so wird deutlich, dass die Bezug-nahme auf den Nahostkonflikt eine zentrale Rolle spielt. Der Nahostkonflikt war

beispielsweise in den Interviews von Arnold und Jikeli die häufigste Begründung für einen Hass gegen Jüd_innen, wobei in der Regel die Vorstellung zu Grunde liegt, die Jüd_innen hätten den Palästinenser_innen das Land weggenommen und würden unschuldige Menschen töten. Beschreibungen von Israel waren teilweise mit klassischen antisemitischen Stereotypen

562 Vgl. Arnold, Sina/Jikeli, Günter: Judenhass und Gruppendruck Zwölf Gespräche mit jungen Berlinern pa-lästinensischen und libanesischen Hintergrunds, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung Nr. 17, Berlin 2008, S. 106.

563 Vgl. Arnold, Sina: Die Wahrnehmung des Nahostkonflikts bei Jugendlichen mit palästinensischem bzw.

libanesischem Hintergrund und ihr Zusammenhang mit Identitätskonstruktionen, Berlin, 2007, http://www.migration-online.de/data/amira_wahrnehmung_nok.pdf, S. 5, gesehen am 23.11.2010.

564 Vgl. Verein für Demokratische Kultur in Berlin e.V. (VDK)/amira – Antisemitismus im Kontext von Migra-tion und Rassismus (Hg.): „Du Opfer!“ – „Du Jude!“ Antisemitismus und Jugendarbeit in Kreuzberg, Berlin 2008, S. 2.

bestückt, etwa dem Bild der „Brunnenvergifter“ oder der „Kindsmörder“. Das Existenzrecht Israels wurde in weiten Teilen nicht anerkannt. Für einige der Jugendlichen war die Hamas ein positiver Bezugspunkt, wobei die Ideologie dieser Gruppe den Jugendlichen weitgehend unbekannt war. Für die Jugendlichen zählten vor allem die von ihnen als Widerstand gegen Israel gewerteten Aktivitäten der Hamas.Selbstmordattentate wurden von einigen Jugendli-chen als Akt des Widerstandes oder als Racheakt für legitim befunden, andere sahen darin ein nichtlegitimes Töten von Unschuldigen, Unmenschlichkeit und eine Eskalation des Krieges.

Auf Nachfrage bestätigten einige Jugendliche jedoch, dass es im Grunde keine Verbindung zwischen Jüd_innen in Berlin und Israel gebe.565

Auch in den von Scherr und Schäuble geführten Interviews begründen die Jugendlichen ihre generalisierende Ablehnung von Jüd_innen in erster Linie mit dem Nahostkonflikt. Eingebet-tet ist die gesamte Argumentation dort jedoch „in das Grundthema der schlechten Behandlung von Muslimen“.566 Die von Scherr und Schäuble porträtierten Jugendlichen positionierten sich ihrem Selbstverständnis nach in politisch-religiöser Weise als Muslim_innen und sahen sich als Benachteiligte und körperlich hart Arbeitende. Ihr Status als Migrant_innen war für sie mit ungerechter Behandlung verbunden. Demgegenüber seien Jüd_innen ihrer Meinung nach in ungerechtfertigter Weise privilegiert. Jüd_innen werde aus der Sicht der Jugendlichen alles das zugestanden, was ihnen selbst verweigert werde. Ihre Religion werde, anders als der Islam, geachtet. Sie müssten, anders als die Jugendlichen, nicht körperlich hart arbeiten und sie seien nicht benachteiligt, sondern privilegiert. Der von diesen Jugendlichen geäußerte An-tisemitismus ist nach Ansicht der Autor_innen weder eine „direkte Folge ihrer Selbstdefiniti-on als Muslime“ noch ist er ein „spSelbstdefiniti-ontanes Ressentiment“. 567 Er

„bezieht seine zentrale Ausrichtung aus dem Diskurs des politischen Islamismus. Dessen Attraktivität für die Jugendlichen scheint vor allem darin zu liegen, dass er ihnen ein Interpretationsangebot für ihre eigene Situation bereitstellt, das sich mit einem Zugehörigkeitsversprechen zu einer religiös-politischen Gemeinschaft verbindet, die auf die Herstellung ‚gerechter’ Verhältnisse hinarbeitet, in denen Muslime das bekommen, was ihnen zusteht.“568

Wie sehr die Bezugnahme auf den Nahostkonflikt bzw. auf Israel mit einem Ringen um ge-sellschaftliche Anerkennung der eigenen Person und der palästinensischen Geschichte und einer damit einhergehenden Opferkonkurrenz im Kontext des deutschen Erinnerungsdiskurses verbunden ist, verdeutlichen Aussagen, die Tietze in Interviews mit palästinensischen Jugend-lichen in Berlin erhoben hat. Einer der JugendJugend-lichen formuliert es so: „Die reden über Israel,

565 Arnold, Die Wahrnehmung des Nahostkonflikts, S.6 ff.

566 Scherr/Schäuble: „Ich habe nichts gegen Juden, aber…“, (Kurzfassung), S. 39.

567 Ebd., S. 36 ff.

568 Ebd., S. 39.

die reden über Juden, über Christen, aber die reden nie über Moslems oder über Palästina oder über Libanon. Die reden immer nur zum Beispiel über Hitlerzeiten […]“569

Dass eine solche Kritik an einer Thematisierung des Nationalsozialismus und einer fehlenden Thematisierung der palästinensischen Geschichte nicht gleichbedeutend sein muss mit einer Sympathie für die Nationalsozialist_innen, wird in folgendem Zitat deutlich:

„Das tut mir wirklich leid, das tut mir auch leid. Wissen Sie, das waren auch Menschen, da waren auch kleine Kinder! Das sehe ich selber ein, das tut mir wirklich leid. Das sind Menschen. […] Auch wenn wir jetzt gerade Streit haben mit denen oder so Streit mit denen: Die Juden, die von Hitler getötet wur-den, die konnten wirklich nichts dafür. Der Hitler war einfach ein Schwein, das muss man schon sagen.

Der hat einfach getötet, einfach so, auch kleine Kinder. Man hat ja gesehen, die waren ja zwei Meter oder einen Meter oder so, und die waren alle so dünn, 30 Kilo oder so. Das ist wirklich erschütternd!

Muss man schon sagen. Ich hab sogar da Mitleid. Mit den Menschen sogar. Juden sind nicht schlecht, ich sag’ das nicht. Ich finde Sharon schlecht. Den!“570

In den von Arnold und Jikeli geführten Interviews brachten einige Jugendliche Sympathie mit Hitler, den Nationalsozialist_innen und dem Holocaust zum Ausdruck.571 Zwei Jugendliche stimmten auf Nachfrage einer Gleichsetzung der Politik Israels mit der der Nationalsozia-list_innen zu, während zwei andere Jugendliche eindeutig widersprachen:

„Nein, ich finde die Israeler machen mit dem Libanon ja nur Sachen mit Bomben und so. Aber was sie, was Hitler damals mit denen gemacht, das waren ja viel grässlichere Dinge. Der hat sie in den Ofen ge-steckt, der hat die Haut von denen abgerissen und so. Der Hitler war viel schlimmer, viel viel schlim-mer.“ 572

Als ein weiteres zentrales Motiv ist die Verwendung von „Du Jude“ als Schimpfwort erken n-bar. Arnold und Jikeli halten fest, dass dieses allen befragten Jugendlichen als solches be-kannt war und einige angaben, es auch selbst verwendet zu haben. Auf Nachfrage gaben sie an, damit keine Jüd_innen zu assoziieren, sondern es allgemein als Abwertung von Personen zu benutzen.573Die Verwendung von „Du Jude“ als Schimpfwort begegnet Scherr und Schäuble auch in einer Jugendgruppe, die sich aus männlichen Jugendlichen mit Migrations-bezügen nach Russland, Afghanistan und Italien sowie zwei herkunftsdeutschen Jugendli-chen, von denen einer Sinto ist, zusammensetzt. In dieser Gruppe reiht sich das Schimpfwort in die Verwendung weiterer abwertender Vokabeln ein, die nicht gegen Jüd_innen gerichtet sind. Von daher kann hier nicht von einem spezifischen Antisemitismus ausgegangen wer-den.574 Für diese Gruppe stellen die Autor_innen zudem fest, dass Antisemitismen, die auch

569 Zitiert in: Tietze, Gemeinschaftsnarrationen in der Einwanderungsgesellschaft, S. 93.

570 Zitiert in: Ebd., S. 102, Anmerkung 19.

571 Vgl. Arnold/Jikeli, Judenhass und Gruppendruck, S. 112 f.

572 Arnold, Die Wahrnehmung des Nahostkonflikts, S. 6 f. Das Zitat steht in Anmerkung 8 auf S. 7.

573 Vgl. ebd., S. 12.

574 Vgl. Kap. 3.2.4.

in der Gruppe geäußert wurden, sich nicht für die Konstruktion eines gemeinsamen Feindbil-des eignen. So wurden beispielsweise die Äußerungen zweier Muslime, sie müssen Jüd_innen aus religiösen und historischen Gründen und wegen der israelischen Politik gegen die Palästi-nenser_innen hassen, wie auch einer Reihe antisemitischer Stereotype, die von einem Jugend-lichen russischer Herkunft geäußert wurden, von der Gesamtgruppe nicht geteilt. Sie wurden teilweise ignoriert oder es wurde offen widersprochen.575

Zu weiteren antijüdischen Ressentiments, die in den verschiedenen Untersuchungen identifi-ziert wurden, gehören antisemitische Verschwörungstheorien im Kontext antiamerikanischer Haltungen576, ein unterstellter Einfluss von Jüd_innen auf die Medien und die Zuschreibung von Macht und Einfluss generell.577 Klassische antisemitische Stereotype seien, so die Er-kenntnisse aus dem Projekt amira, weniger verbreitet. Von diesen wurden noch am häufigsten die Stereotypen vom „reichen“ und „geschäftstüchtigen“ Juden genannt, die zwar durchaus auch anerkennend gemeint sein können, dennoch zugleich abgrenzenden Charakter haben und das Potenzial für ablehnende Haltungen enthalten. Ein religiös begründeter Antisemitismus scheint unter den Jugendlichen eine weniger große Rolle zu spielen. Die antisemitischen Äu-ßerungen blieben, so die Mitarbeiter_innen von amira, in der Regel auf einer verbalen und wenig ideologisierten Ebene. Die Jugendlichen konnten zumeist die Bedeutung ihrer entspre-chenden Aussagen nicht näher erläutern. Lediglich in einzelnen Fällen lässt sich vermuten, dass antisemitische Einstellungen einem geschlossenen ideologischen Weltbild zugrunde lie-gen. Ebenfalls in einzelnen Fällen wurde von massiven Beleidigungen oder auch tätlichen Übergriffen auf jüdische Passant_innen bzw. jüdische Einrichtungsmitarbeiter_innen berich-tet.578 Auch Arnold und Jikeli berichten, dass in einigen Interviews Jüd_innen mit abfälligen Schimpfworten belegt wurden. In manchen Fällen galten diese Beleidigungen gezielt Israelis, in anderen Fällen waren damit Jüd_innen im Allgemeinen gemeint. Einige der interviewten Jugendlichen drohten Jüd_innen Gewalt an, einige wussten von selbsterlebten Vorfällen zu berichten, in denen Jüd_innen aktiv beleidigt oder angegriffen wurden.579

575 Vgl. Scherr/Schäuble: „Ich habe nichts gegen Juden, aber…“ (Kurzfassung), S. 30 ff. und Scherr/Schäuble:

„Ich habe nichts gegen Juden, aber…“ (Langfassung), S. 69 ff.

576 Vgl. Verein für Demokratische Kultur in Berlin e.V. (VDK)/amira – Antisemitismus im Kontext von Migra-tion und Rassismus (Hg.): „Du Opfer!“ – „Du Jude!“ S. 5 sowie Arnold/Jikeli, Judenhass und Gruppendruck, S. 111.

577 Vgl. Arnold/Jikeli, Judenhass und Gruppendruck, S. 111.

578 Verein für Demokratische Kultur in Berlin e.V. (VDK)/amira – Antisemitismus im Kontext von Migration und Rassismus (Hg.): „Du Opfer!“ – „Du Jude!“, S. 2 ff.

579 Vgl. Arnold/Jikeli, Judenhass und Gruppendruck, S. 109 f.

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