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3. 2 Erscheinungsformen von Antisemitismus in Deutschland

3.2.1 Antisemitismus – Versuch einer Begriffsklärung

Die Frage, was Antisemitismus ist, lässt sich scheinbar relativ einfach beantworten: Antisemi-tismus ist die Feindschaft gegen Jüd_innen. Zwar ist diese Definition zutreffend, jedoch be-darf es differenzierterer Beschreibungen, um Antisemitismus erkennen und antisemitische

Versatzstücke, die in mehr oder weniger spontanen Äußerungen antisemitischer Stereotype zum Ausdruck kommen, von einer geschlossenen antisemitischen Ideologie, die als Welter-klärungsmodell dient, unterscheiden zu können. Auch gilt es, das Verhältnis von Antisemi-tismus und Rassismus adäquat zu erfassen. Die Identifikation von aktuellen

Erscheinungsformen des Antisemitismus fällt insbesondere Jugendlichen nicht immer leicht.

Meine eigenen Erfahrungen aus der pädagogischen Praxis zeigen, dass Jugendliche auf die Frage danach, ob sie selbst in ihrem Alltag schon einmal mit Antisemitismus konfrontiert waren, oftmals von rassistischen bzw. ausländerfeindlichen Vorfällen berichten. Spezifisch antisemitische Vorfälle werden hingegen eher selten genannt. Auf Nachfrage assoziieren die-se Jugendlichen den Begriff Antidie-semitismus zwar mit der Feindschaft gegen Jüd_innen, je-doch vor allem als historisches Phänomen im Kontext des Nationalsozialismus und des Holocaust. Diese Antworten der Jugendlichen erklären sich möglicherweise dadurch, dass Antisemitismus ihnen in der Regel lediglich als Teil der rassistischen Ideologie des National-sozialismus vermittelt wird. Spezifika des Phänomens Antisemitismus über seine Einbettung in die NS-Ideologie hinaus, insbesondere seine aktuellen Erscheinungsformen, werden dabei jedoch nicht oder nur bedingt herausgearbeitet. Von daher ist zwar durchaus nachvollziehbar, dass für die Jugendlichen rassistische und antisemitische Übergriffe schwer zu unterscheiden sind, zugleich wird ein Handlungsbedarf bei der Auseinandersetzung mit aktuellem Antisemi-tismus deutlich.366 Antisemitismus ist eben nicht nur ein historisches Phänomen im Kontext einer rassistischen Ideologie, sondern stellt eine Weltanschauung dar, die weit darüber hinaus geht und sich in konkreten antisemitisch motivierten Äußerungen und Übergriffen zeigt. Anti-semitismus enthält zwar durchaus rassistische Elemente, die sich in einer Abwertung von Jüd_innen als Personen zeigen, jedoch geht er in seiner ideologischen Ausformung weit dar-über hinaus. Es handelt sich bei der antisemitischen Ideologie um den Versuch einer umfas-senden Welterklärung, der sowohl für antikommunistische als auch für antikapitalistische Ideologien herangezogen werden kann. Antijüdische Verschwörungstheorien ermöglichen dabei eine vielfältige Kompatibilität mit unterschiedlichen politischen Ideologien und Moti-ven. In den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts vollzog sich eine Entwicklung, nach der Antisemitismus als eine Weltanschauung verstanden wurde, die suggeriert, ein Verständnis der Schwierigkeiten der Moderne zu ermöglichen und „Lösungsmöglichkeiten für die wir

366 Vgl.: Schäuble, Barbara/Thoma, Hanne: Ergebnisse des Europäischen Workshops „Antisemitismus – eine Herausforderung für die (politische) Bildungsarbeit“. Eine Dokumentation, in: Fechler, Bernd/Kößler, Got t-fried/Messerschmidt, Astrid/Schäuble, Barbara (Hg. im Auftrag des Fritz-Bauer-Instituts und der Jugendbegeg-nungsstätte Anne Frank): Neue Judenfeindschaft? Perspektiven für den pädagogischen Umgang mit dem globalisierten Antisemitismus, Jahrbuch zur Geschichte und Wirkung des Holocaust 2006, Frankfurt am Main 2006, S. 237 ff.

schaftliche, politische und kulturelle Krise“ anzubieten.367 Im Antisemitismus wurde und wird Jüd_innen eine antiaufklärerische und antimoderne Übermacht zugeschrieben, wohingegen es im Rassismus vor allem darum geht, die Minderwertigkeit einer als „Anderer“ definierten Person zu beschreiben. Jüd_innen können somit als Gefahr betrachtet und für die Probleme der Welt verantwortlich gemacht werden.368 Dies zu reflektieren ist notwendig, um in der pä-dagogischen Praxis einschätzen zu können, wann historisches Lernen zum

NS-Antisemitismus sinnvoll und wann eine darüber hinausgehende Bildungsarbeit gegen Antise-mitismus erforderlich ist.

Ein Aspekt, der in der pädagogischen Auseinandersetzung mit dem Phänomen Antisemitis-mus gelegentlich für Verwirrung sorgt, ist die Etymologie des Begriffs. Angesichts der Schwerpunktsetzung der vorliegenden Arbeit ist es sinnvoll, die Historie dieses Wortes kurz zu betrachten, denn sowohl in öffentlichen Diskursen als auch in der pädagogischen Praxis wird gelegentlich darauf verwiesen, dass Araber_innen keine Antisemit_innen sein könnten, sondern sich Antisemitismus vielmehr auch gegen sie richte, da sie selbst Semit_innen seien.

Ein Blick auf die Historie des Begriffs zeigt jedoch, dass dieser sich von Beginn an aus-schließlich gegen Jüd_innen richtete. Bereits zum Zeitpunkt seiner Entstehung um das Jahr 1879 wurde, so Rürup, diskutiert, dass der Ausdruck für die Bezeichnung des mit ihm ge-meinten Phänomens untauglich sei. Dennoch war der Terminus Antisemitismus spätestens ab 1880 im deutschen Sprachgebiet und bald auch in weiteren europäischen Sprachen geläufig.

Mit dieser Wortschöpfung wollten Personen, die sich selbst als Antisemit_innen verstanden, eine Abgrenzung vom traditionellen christlich geprägten Antijudaismus vornehmen. Sie ver-traten die Ansicht, dass der neu geschaffene deutsche Nationalstaat eine „Judenfrage“ habe, die es zu lösen gelte. Dabei verstanden sie sich als eine moderne Bewegung, die das Problem nicht im Religionsgegensatz sah, sondern in sozialen und kulturellen Fragen, die in ihrer Sichtweise aus ethnischen Gegensätzen resultierten. Für sie war die „Judenfrage“ ein Gegen-satz zwischen Völkern bzw. „Rassen“. Mit dem neuen Begriff wollten sie Wissenschaftlich-keit und Modernität signalisieren. Hinweise auf die UnwissenschaftlichWissenschaftlich-keit dieses Begriffes,

367 Rürup, Reinhard: Emanzipation und Antisemitismus. Studien zur „Judenfrage“ der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt am Main 1987, S. 115.

368 Vgl.: Eckmann, Monique: Rassismus und Antisemitismus als pädagogische Handlungsfelder, in: Fechler, Bernd/Kößler, Gottfried/Messerschmidt, Astrid/Schäuble, Barbara (Hg. im Auftrag des Fritz-Bauer-Instituts und der Jugendbegegnungsstätte Anne Frank): Neue Judenfeindschaft? Perspektiven für den pädagogischen Umgang mit dem globalisierten Antisemitismus, Jahrbuch zur Geschichte und Wirkung des Holocaust 2006, Frankfurt am Main 2006, S. 210-231 sowie Messerschmidt, Astrid: Weltbilder und Selbstbilder. S. 155 f.

die auch von antisemitisch eingestellten Personen geäußert wurden, wurden ignoriert.369 Ab 1933 gab es auch innerhalb der nationalsozialistischen Bewegung Versuche, den Termi-nus Antisemitismus durch andere Vokabeln zu ersetzen, wohl vor allem, als die Zusammen-arbeit mit einzelnen arabischen Führern intensiviert werden sollte. Bereits 1933 wurde in dem antisemitischen Kompendium Handbuch der Judenfrage darauf hingewiesen, dass es andere Völker mit semitischer Sprache gebe, die gegen Jüd_innen seien. 1937 schlug die Auslands-organisation der NSDAP vor, in Hitlers Mein Kampf den Begriff Antisemitismus durch An-tijudaismus zu ersetzen. Der Vorschlag wurde nicht umgesetzt und als die vom

Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda im Jahr 1942 gesteuerte „Antisemiti-sche Aktion“ in „Antijüdi„Antisemiti-sche Aktion“ umbenannt wurde, wurde Hitler in der Zeitung Die Judenfrage weiterhin mit dem Begriff „Antisemitismus“ zitiert.370

Heute steht der Terminus Antisemitismus nicht mehr nur für den modernen Antisemitismus des 19. und 20. Jahrhunderts, sondern wird zur Bezeichnung aller Formen der Feindschaft gegen Jüd_innen von der Antike über das Mittelalter bis in die Gegenwart verwendet. Diese Verwendung des Begriffs ist, so Rürup, insofern als falsch zu betrachten, als damit eine histo-rische Kontinuität von Antisemitismus behauptet wird, die es so nie gegeben hat. Zwar trat Feindschaft gegen Jüd_innen in der Geschichte unter sehr verschiedenen

politisch-gesellschaftlichen Bedingungen auf, aber es muss dabei beachtet werden, dass die Annahme, Jüd_innen seien immer und überall Ziel von judenfeindlichen Aktionen gewesen, den Ver-dacht wecken könnte, mit ihnen stimme irgendetwas nicht und folglich seien sie selbst Schuld am Antisemitismus. Jedoch bleibt festzuhalten, dass sich der Begriff Antisemitismus im in-ternationalen Sprachgebrauch durchgesetzt hat und jeder Versuch, ihn durch andere Benen-nungen zu ersetzen, zum Scheitern verurteilt sein dürfte.371 Festzuhalten ist auch, dass sich der Begriff Antisemitismus und alle damit verbundenen Konnotationen immer nur auf Jüd_innen bezogen und beziehen. Gegen andere Semit_innen, beispielsweise Araber_innen, Äthiopier_innen oder Malteser_innen, richten sich antisemitische Äußerungen oder Taten nie.372

369 Vgl. Rürup, Reinhard: Antisemitismus und moderne Gesellschaft. Antijüdisches Denken und antijüdische Agitation im 19. und frühen 20. Jahrhundert, in: Braun, Christina von/Ziege, Eva-Maria (Hg.): Das bewegliche Vorurteil. Aspekte des internationalen Antisemitismus, Würzburg 2004, S. 81.

370 Vgl. Zimmermann, Moshe: Mohammed als Vorbote der NS-Judenpolitik? Zur wechselseitigen Instrumenta-lisierung von Antisemitismus und Antizionismus, in: Zuckermann, Moshe (Hg.): Antisemitismus. Antizionis-mus. Israelkritik. Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte XXXIII (2005), Göttingen 2005, S. 292 f.

371 Vgl. Rürup, Antisemitismus und moderne Gesellschaft, S. 82 sowie Bergmann, Werner: Geschichte des Anti-semitismus, 4. Auflage München 2010, S. 6 ff.

372 Vgl. Berger Waldenegg/Georg Christoph: Was meint und wie erkennt man „Antisemitismus“? Eine Begriffs-klärung, in: Ansorge, Dirk (Hg.): Antisemitismus in Europa und in der arabischen Welt, Paderborn und Frank-furt am Main 2006, S. 34.

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