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Rekonstruktion 66

Im Dokument Realismus und Referenz : Arten von Arten (Seite 122-127)

4.1 Realismus als Wahrheitsrealismus

4.1.1 Ein schlagendes Argument gegen Antirealismus

4.1.1.1 Rekonstruktion 66

Dummett faßt also Realismus und Antirealismus als Positionen zum Wahr-heitsbegriff auf. Seine eigene – antirealistische – Auffassung beinhaltet an zentraler Stelle Thesen wie die folgende:

A statement cannot be true unless it is in principle possible that it be known to be true. (Dummett 1973, 465)

Was wahr ist kann also prinzipiell gewußt werden,67 was heißt, es kann von kompetenten menschlichen Sprechern gewußt werden – nicht von idealen Wesen. Dieses Gewußt-Werden-Können soll ein notwendiger Zug von Wahrheit sein und ist auch definitorisch verwendet worden (s.u.). Frederick Fitch (1963) hat nun ein kleines aber feines Argument angedeutet, daß W. D.

Hart (1979) kurz entwickelt hat, was zu zeigen scheint, daß dieses Prinzip zu unangenehmen Konsequenzen führt. Kürzen wir das Prinzip des Gewußt-Werden-Könnens ab, indem wir »K« für gewußt werden (»to be known«) verwenden, »Kp« bedeutet also, »p wird gewußt«, »◊Kp« bedeutet, »p kann gewußt werden«. Das Prinzip lautet also generell:

(K) p → ◊Kp

Nun gibt es zweifellos einige Wahrheiten, die gegenwärtig und kontingen-terweise nicht gewußt werden, für die also gilt:

(1) p & ¬Kp.

Wenn Prinzip (K) für alle Sätze gilt, dann muß es möglich sein, (1) zu wissen:

(2) ◊K(p & ¬Kp)

Wer die Konjunktion weiß, weiß auch jedes der Konjunkte, also folgt:

(3) ◊(Kp & K¬Kp)

Nun sind die Schwierigkeiten für den Antirealisten deutlich, denn im zweiten

66 Dieser und der folgende Abschnitt beruhen auf einem gemeinsam mit Christian Stein verfaßten Papier, veröffentlicht als Müller/Stein 1996.

67 Am Rande angemerkt: Dieser Satz folgt für einen Intuitionisten wie Dummett nicht aus dem Zitat – dennoch darf man wohl annehmen, daß der Satz in Dummetts Sinne ist.

Konjunkt impliziert Wissen Wahrheit, also können wir einen Widerspruch ableiten:

(4) ◊(Kp & ¬Kp)

Das Einsetzen von (1) in das antirealistische Schema (K) führt zur Konse-quenz (2). Da (2) den Widerspruch (4) impliziert wissen wir, daß (2) falsch ist, also können wir über Modus Tollens auf die Negation von (1) schließen:

(5) ¬(p & ¬Kp) Das ist äquivalent zu:

(6) p → Kp

Wenn es eine Wahrheit gibt, die nicht gewußt wir, dann impliziert das Prin-zip (K) also, daß alles gewußt wird. Das ist absurd und widerlegt PrinPrin-zip (K).

Allerdings gibt es einen naheliegenden Ausweg aus diesem Argument.

Die Äquivalenz von (5) und (6) gilt nur in klassischer Logik, nicht in intui-tionistischer – sie verwendet »double negation elimination«. (Und natürlich haben viele Antirealisten Sympathien für intuitionistische Logik.) In intuitio-nistischer Logik impliziert (5) noch nicht einmal (6), also kann ein Intuitio-nist diesen Schritt ablehnen und bleibt bei Konsequenz (5). D. h. die Annah-me, daß (1) gewußt wird führt zu der Konklusion, daß (1) falsch ist (5). Das ist zweifellos merkwürdig, aber keine Widerlegung von (K).

Nun hat Künne (1992) eine Version des Arguments vorgelegt, die mit dem schwächerem Begriff der Rechtfertigbarkeit arbeitet. Diese Version nen-ne ich die »Rechtfertigungsparadoxie«. Das Argument kann so rekonstruiert werden, daß auch ein schwächeres Prinzip als (K) zu einem Widerspruch führt, ohne daß von nicht-intuitionistischen Schlüssen Gebrauch gemacht werden muß. Bei Künne ist das Argument explizit gegen antirealistische Auffassungen gerichtet, die Wahrheit mit epistemischen Begriffen verbinden, wie die bei Dummett und dem späteren Putnam. Letzterer schreibt z. B.:

… truth is an idealization of rational acceptability. We speak as if there were such things as epistemically ideal conditions and we call a statement

‘true’ if it would be justified under such conditions. (1981, 55)

Die Rede von epistemisch idealen Bedingungen ist eine Metapher, die eine Situation vorstellen soll, in der wir ideal positioniert sind um die Wahrheit einer Aussage zu entscheiden, ohne irgendwelche irreführenden Faktoren (vgl. Putnam 1990a, vii–ix; Folina 1997). Wir nehmen einmal an, der

Antirea-list kann diese Bedingungen auf nicht zirkuläre Weise definieren, ohne Wahrheit zu verwenden. Wahrheit ist dann hier an die kognitiven Fähigkei-ten von Menschen gebunden, Putnam meint jeder andere Sinn von Wahrheit sei uns ganz unverständlich (1981, 64).

Künne (1992, 239) gibt eine Formulierung der von Dummett und Put-nam vertretenen Wahrheitsauffassung, die ich das »Rechtfertigbarkeits-prinzip« nennen will:

(P/D) Wenn eine Aussage wahr ist, dann muß eine Situation vorstell-bar sein, in der jemand gerechtfertigt wäre zu glauben, daß sich die Dinge sich so verhalten, wie die Aussage sagt, daß sie sich verhalten.

Wenn wir »jemand ist gerechtfertigt zu glauben, daß p« als »jgg p« abkürzen, können wir das Prinzip wie folgt schreiben:

(R) p → ◊jgg p

Das Prinzip scheint den Kern einer epistemischen Wahrheitsauffassung aus-zudrücken. Wenn also gezeigt werden kann, daß (R) falsch ist, dann wären epistemische Wahrheitsauffassungen widerlegt – und damit auch alle antirea-listischen Auffassungen, die solche Wahrheitsauffassungen implizieren.

Nun stellen wir uns eine Situation vor, in der ein Satz wahr ist, ohne daß jemand tatsächlich gerechtfertigt wäre, ihn zu glauben. Wir befinden uns auf einem einsamen Spaziergang an einem stürmischen Frühlingstag. Zum Zeit-punkt t0 bewundern wir einen Baum B voller Blüten, von denen einige durch eine Windböe zum Zeitpunkt t1 fortgeweht werden. Niemand hat die Blüten zu Zeitpunkt t0 gezählt und niemand wird je gerechtfertigt sein zu glauben, daß B zum Zeitpunkt t0 eine bestimmte Anzahl von Blüten trug. Aber natür-lich kann man immer raten, wie groß ihre Anzahl zu t0 war. Nehmen wir an, wir raten die Anzahl sei 99 und wir raten richtig. Es gilt also das folgende:

(Σ) (A) B hat zu t0 99 Blüten, aber

(B) niemand ist je gerechtfertigt zu glauben, daß dies der Fall ist.

(Künne 1992, 240)

Warum sollte ein Antirealist (B) akzeptieren? Nun, wir nehmen lediglich an, daß niemand die Blüten zu t0 gezählt hat und daß keine anderen Versuche unternommen werden, eine Hypothese über die Anzahl der Blüten zu t0 überprüfen. So wie die Dinge zufälligerweise liegen, ist niemand je

gerecht-fertigt zu glauben, daß B zu t0 eine bestimmte Anzahl von Blüten hatte.

Zweifellos braucht der Antirealist nicht zu glauben, daß niemand im Glauben an (A) gerechtfertigt gewesen sein könnte. (Σ) ist lediglich die Konjunktion zweier kontingenter Wahrheiten, und es gibt a priori keinen Grund zu mei-nen, daß (Σ) nicht wahr sein könnte – nämlich dann, wenn seine Konjunkte wahr sind.

Wenn (Σ) wahr ist, dann muß es dem Rechtfertigbarkeitsprinzip zufolge möglich sein, daß jemand im Glauben an gerechtfertigt ist. Schreiben wir (B) als »¬jgg A«. Wir haben dann folgende Reformulierung von (Σ):

(7) A & ¬jgg A

Wenn wir (7) in das Prinzip (R) einsetzen erhalten wir:

(8) (A & ¬jgg A ) → ◊jgg (A & ¬jgg A)

Künne meint, die Konsequenz von (8) könne nicht wahr sein; meint, daß (Σ) notwendig über Rechtfertigbarkeit hinausgeht, weil jemand, der im Glauben an (A) gerechtfertigt ist, (B) widerlegt, und also die Konjunktion widerlegt.

Wir müssen uns also ansehen, was die Annahme, jemand sei im Glauben an (Σ) gerechtfertigt bedeuten würde. Die entscheidende Regel ist hier, wenn jemand im Glauben an eine Konjunktion gerechtfertigt ist, dann ist er ge-rechtfertigt, jedes der Konjunkte zu glauben. Nennen wir das die »Distribu-tionsregel«:

(D) jgg (p & q) → jgg p & jgg q

(Man nehme an, daß die glaubende Person dieselbe ist.) Nun angenommen, jemand ist gerechtfertigt zu glauben, daß (Σ), wie (8) sagt. Wenn wir unsere Regel auf die Konsequenz von (8) anwenden erhalten wir:

(9) ◊ (jgg A & jgg ¬jgg A)

In Harts Version des Arguments ist dies der entscheidende Schritt: Wissen impliziert Wahrheit im zweiten Konjunkt, und so kommen wir zu einem formalen Widerspruch. Wenn wir aber von Rechtfertigung sprechen, kann kein solcher Widerspruch abgeleitet werden. Dennoch halten Künne, Wright (1986, 427) und andere (9) für unmöglich wahr. Edgington drückt diesen Ge-danken folgendermaßen aus:

… it is clear that no possible state of information could support the hy-pothesis: p and no one at any time has any evidence hat p. (Edgington 1985, 558)

Nun erscheint (9) sicherlich paradox und es ist schwer, sich den psychologi-schen Zustand der fraglichen Person vorzustellen, ist aber die Situation wirk-lich unmögwirk-lich? Warum sollte es nicht mögwirk-lich sein, Gründe dafür zu haben eine Aussage p zu glauben, und zugleich andere Gründe dafür, daß nichts den Glauben an p rechtfertige? Das scheint durchaus möglich, wenn wir den übli-chen schwaübli-chen Begriff von Rechtfertigung annehmen, dem zufolge man im Glauben an etwas Falsches gerechtfertigt sein kann. Es scheint also, daß (Σ) das Prinzip (R) nicht widerlegt. Dennoch müssen Sätze wie (Σ) den epistemi-schen Wahrheitstheoretiker beunruhigen, da gezeigt werden kann, daß es unmöglich ist, daß (Σ) zugleich wahr ist und von jemandem gerechtfertigt geglaubt wird. Genau genommen fordert das Prinzip (R) aber nicht, daß der Satz in den epistemisch idealen Situationen wahr ist – aber aus eben diesem Grund bringt es die Verpflichtungen des epistemischen Wahrheitstheoreti-kers nicht voll zum Ausdruck. Dieser scheint auf eine Behauptung verpflich-tet, die (R) impliziert, die Behauptung, daß eine Situation möglich sein, in der eine Aussage p wahr ist und jemand im Glauben an p gerechtfertigt ist. Nen-nen wir dies das »Starke Rechtfertigungsprinzip«:

(R)* Wenn p wahr ist, dann muß eine Situation möglich sein, in der (p &

jemand ist gerechtfertigt zu glauben, daß p) kurz:

(R)* p → ◊ (p & jgg p)

Tatsächlich akzeptieren einige Antirealisten die noch stärkere Behauptung, daß epistemisch ideale Situationen möglich sein müssen, in denen der Glaube von jemandem, daß p die Wahrheit von p garantiert – eine Auffassung, die sie in die Nähe von Verifikationismus bringt. Auch wenn (R)* also stärker ist, als (R) ist es immer noch ein einigermaßen vorsichtiger Antirealist, der (R)* ver-tritt. Effektiv ist dieses Prinzip dasselbe wie das oben genannte Prinzip (K) des Gewußt-Werden-Könnens, nur daß die antirealistische Verknüpfung von Wahrheit und Rechtfertigung explizit gemacht wird. Man setze nun (Σ) in (R)* für p ein und erhält:

(10) (Σ) → ◊[(Σ) & jgg (Σ)]

Wenn wir zusätzlich annehmen, daß (Σ) kontingenterweise wahr ist, denn können wir die Konsequenz Dank Modus Ponens isolieren:

(11) ◊ [(Σ) & jgg (Σ)]

Wenn wir (Σ) hier explizit ausschreiben lautet der Satz (11):

(12) ◊ [A & ¬jgg A & jgg (A & ¬jgg A)]

Wenn wie die Distributionsregel (D) auf das zweite Konjunkt ausdehnen kommen wir zu:

(13) ◊ (A & ¬jgg A & jgg A & jgg ¬jgg A)

Wir schließen aus der Konjunktion die beiden unterstrichenen Konjunkte und haben einen expliziten Widerspruch:

(14) ◊ (¬jgg A & jgg A)

Unter der Annahme, daß (Σ) und (R)* wahr sind bekommen wir einen Wi-derspruch. Also ist (R)* widerlegt und die epistemische Wahrheitsauffassung ist noch nicht einmal extensional angemessen.68

Im Dokument Realismus und Referenz : Arten von Arten (Seite 122-127)