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Polysialinsäure (PolySia) ist ein Kohlenhydrat, das erstmals 1982 von Finne als Bestandteil des embryonalen Vertebratenhirns beschrieben wurde (FINNE 1982). Sie besteht aus α -2,8-verknüpften Sialinsäure-Resten. Als Sialinsäure werden Derivate der Neuraminsäure bezeichnet (SCHAUER 2009). In Säugetieren sind die in die PolySia eingebauten Monomere überwiegend 5-N-Acetylneuraminsäure-Reste (MÜHLENHOFF et al. 1998). Abbildung 1-3 zeigt die chemische Struktur der 5-N-Acetylneuraminsäure (Abbildung A) und in Abbildung B ein α-2,8-verknüpftes Dimer daraus. Im sich entwickelnden Hühnerembryo können die PolySia-Ketten eine Länge von 40 – 50 Sialinsäureresten erreichen (INOUE et al. 2000) und bilden eine helikale Sekundärstruktur aus (BRISSON et al. 1992).

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Abbildung 1-3: Chemische Formel der 5-N-Acetylneuraminsäure.

Sie ist der Hauptbestandteil von PolySia in Säugetieren. Abbildung A zeigt das Monomer, Abbildung B ein α2,8-verknüpftes Dimer.

Als Träger von PolySia konnten in Vertebraten die α-Untereinheit des spannungsabhängigen Natriumkanals im Rattenhirn (ZUBER et al. 1992), das Klasse B Scavenger-Rezeptor-Protein

A B

CD36 in humaner und muriner Milch (YABE et al. 2003) sowie der Semaphorin-Rezeptor Neuropilin-2 in dendritischen Zellen (CURELLI et al. 2007) identifiziert werden. PolySia ist in Vertebraten jedoch überwiegend als posttranslationale Modifikation des neuralen Zelladhäsionsmoleküls (NCAM) vorhanden (CREMER et al. 1994). NCAM ist ein Zelladhäsionsmolekül, das zur Immunglobulin-Superfamilie gehört. Es vermittelt Zell-Zell-Kontakte sowohl zwischen Neuronen als auch zwischen Neuronen und Gliazellen (RUTISHAUSER 1998). Die durch NCAM vermittelten Interaktionen können entweder homophil zwischen zwei NCAM-Molekülen stattfinden oder heterophil zwischen NCAM und anderen Adhäsionsmolekülen. Des Weiteren können sowohl cis-Interaktionen zwischen zwei Molekülen derselben Zelle oder trans-Interaktionen zwischen zwei Molekülen benachbarter Zellen stattfinden (KISELYOV et al. 2005). Durch alternatives Splicing entstehen verschiedene Varianten. Die wichtigsten sind NCAM-120, NCAM-140 und NCAM-180, die eine Masse von 120, 140 bzw. 180 Kilodalton (kDa) besitzen. NCAM-140 und NCAM-180 unterscheiden sich in ihrer cytoplasmatischen Domäne. NCAM-120 besitzt keine cytoplasmatische Domäne, sondern heftet sich über einen Glycosylphosphatidyl-Inositol-Anker in der Zellmembran an (BONFANTI 2006). Allen drei Isoformen gleich ist der extrazelluläre Teil. Er besteht aus fünf Immunglobulin (Ig)-ähnlichen Domänen und zwei Fibronektin Typ III-Domänen. Es gibt insgesamt sechs potentielle Bindestellen für Glykosilierungen. PolySia bindet allerdings ausschließlich an den beiden C-terminal gelegenen Asparagin-Resten, die die Glykosilierungsstellen der fünften Ig-ähnlichen Domäne bilden und an den Positionen 430 und 459 liegen (BONFANTI 2006; HILDEBRANDT et al.

2008; KISS and ROUGON 1997; MÜHLENHOFF et al. 1998). Die Synthese von PolySia wird im Golgi-Apparat von zwei Sialyltransferasen, ST8SiaII und ST8SiaIV, durchgeführt. Diese Enzyme sind Typ II Transmembranproteine und verlängern auf der cytoplasmatischen Seite der inneren Membran gelegen mono-α-2,3 oder -6-sialisierte Oligosaccharide (KITAZUME -KAWAGUCHI et al. 2001; MÜHLENHOFF et al. 1998; MÜHLENHOFF et al. 2009). Beide Enzyme können sich selbst polysialisieren (CLOSE and COLLEY 1998). Die genaue Bedeutung davon ist unklar. Es scheint jedoch, dass die Autopolysialisierung und die Polysialisierung von NCAM funktionell zusammenhängen (MÜHLENHOFF et al. 2001). Die beiden Enzyme werden auf transkriptionaler Ebene reguliert, sodass es zu einem charakteristischen Muster in der PolySia-Synthese kommt. St8SiaII ist die vorherrschende Sialyltransferase im Embryo und während der postnatalen Gehirnentwicklung, St8SiaIV wird dagegen vorwiegend im adulten Gehirn exprimiert (MÜHLENHOFF et al. 2001). Während der Embryonalentwicklung der Maus

wird NCAM an Tag E8 erstmalig exprimiert und ist dann noch nicht polysialisiert. Kurz danach kommt es zur Expression der Polysialyltransferasen und damit zur PolySia-Synthese, sodass PolySia-NCAM im Laufe der Embryonalentwicklung die dominante Variante wird.

Am Tag 9 nach der Geburt ist beinahe das gesamte NCAM polysialisiert. Während die Expression der St8SiaIV nach der Geburt nur langsam sinkt, kommt es zu einem starken Abfall der St8SiaII-Expression. Der Anteil an PolySia fällt somit innerhalb einer Woche um etwa 70 % (ANGATA and FUKUDA 2003; HILDEBRANDT et al. 2008). Im adulten Hirn ist die Expression der beiden Sialyltransferasen und somit das Vorhandensein von PolySia-NCAM auf wenige Regionen beschränkt. Diese Regionen zeigen auch im Adulten eine hohe Plastizität und sind daher mit Funktionen wie Lernen und Erinnerungsspeicherung assoziiert.

Zu diesen Regionen gehören das olfaktorische System, die Hypophyse und der Hippocampus (DURBEC and CREMER 2001).

Die biochemischen Eigenschaften der PolySia werden vorwiegend von der Carboxylgruppe vermittelt. Dazu gehört zum einen ihre negative Ladung. Außerdem ist sie stark hydratisiert und beansprucht daher viel Raum (ANGATA and FUKUDA 2003). Die Polysialisierung von NCAM beeinflusst dessen Funktionen somit erheblich. Die Bindungseigenschaften von NCAM werden durch die große Volumenzunahme durch die Polysialisierung sterisch stark herabgesetzt. Eine Affinität von PolySia für bestimmte Rezeptoren konnte dagegen nicht festgestellt werden. PolySia dient daher als negativer Regulator für Zell-Zell-Interaktionen und PolySia-NCAM vermittelt im Gegensatz zu freiem NCAM Plastizität anstatt Adhäsion.

Die Hauptaufgabe der PolySia ist hierbei, NCAM in einem zeit- und ortspezifischen Muster zu präsentieren bzw. zu maskieren, um die von NCAM vermittelten Zell-Zell-Interaktionen organisiert ablaufen zu lassen (WEINHOLD et al. 2005). PolySia bzw. polysialisiertes NCAM spielen unter anderem bei Änderungen der Zellmigration, der Zielfindung von Axonen und in der Muskelentwicklung eine Rolle (RUTISHAUSER 1998). Aufgrund verschiedener Deletierungen von NCAM und der Polysialyltransferasen einzeln sowie aller drei Gene zusammen konnten die Funktionen von PolySia und NCAM getrennt werden. PolySia scheint daher während des Auswanderns der Vorläuferzellen aus der subventrikulären Zone in den Bulbus olfaktorius sowie bei der Strukturierung der Moosfasern die Zell-Kontakte unabhängig von NCAM zu modulieren, um eine ungewollte Interaktion der Zellen zu verhindern und deren Migration zum jeweiligen Zielort zu gewährleisten (WEINHOLD et al.

2005).

In neuroinvasiven Bakterien der Gattung Neisseria meningitidis ist PolySia als Glykolipid-Baustein in der Zellwand gefunden worden. Da sie im Wirtsorganismus als Eigen erkannt wird, maskiert sie das Bakterium und ermöglicht ihm somit das Eindringen in das Wirtshirn.

Das Bakterium löst bei Kindern und Jugendlichen Meningitis oder Sepsis aus (FREIBERGER et al. 2007). Außerdem wird PolySia in einer Reihe verschiedener Tumore reexprimiert, wie im kleinzelligen und nichtkleinzelligen Lungen-Karzinom, im multiplen Myelom, im Wilms’

Tumor, im Glioblastom oder im Neuroblastom. Eine hohe PolySia-Expression korreliert dabei mit einer schlechten Prognose und erhöhter Infiltrierung der Krebszellen in Nachbargewebe.

PolySia scheint dabei das Anhaften der Tumorzellen herabzusetzen und somit die Metastasierung zu fördern. Des Weiteren hält PolySia die Zellen in einem undifferenzierten Zustand. PolySia kann somit als Tumormarker gesehen werden (AMOUREUX et al. 2010;

HILDEBRANDT et al. 2008). Des Weiteren wird eine regulatorische Funktion von PolySia-NCAM in der Pathologie der Epilepsie vermutet (PEKCEC et al. 2010).

Auch im PNS wird PolySia während der Embryonalentwicklung ab dem Tag E12 in Neuronen der Maus exprimiert (BOISSEAU et al. 1991; JUNGNICKEL et al. 2009a). Eine Expression in sich entwickelnden Schwann-Zellen der Ratte konnte nicht nachgewiesen werden (LAVDAS et al. 2006). In der Maus ist die Expression von PolySia in neonatalen Schwann-Zellen jedoch beschrieben worden (MEHANNA et al. 2009). Im Laufe der Entwicklung wird die PolySia-Synthese auch im PNS herunterreguliert. Es konnte gezeigt werden, dass PolySia in einem Pool von Motoneuronen nach einer Verletzung wieder hochreguliert werden kann. Diese Reexpression führt vermutlich zu einer Verminderung der Axon-Axon-Interaktionen und erhöht somit die Präferenz der auswachsenden Axone für Leitsignale der Zielzellen. Zusätzlich erhöht sie das Sprouting der Axone. Dadurch kommt es durch die PolySia-Expression zu einer verbesserten Regeneration der Motoneurone (FRANZ et al. 2008). Jungnickel und Kollegen konnten zeigen, dass PolySia im PNS eine Rolle für das Neuritenwachstum und das radiale Axonwachstum in der Regeneration spielt (JUNGNICKEL et al. 2009a).

Die Tatsache, dass PolySia während der Entwicklung für organisiertes Auswachsen und Migration verantwortlich ist und auch nach Verletzungen hochreguliert wird, machen sie zu einem interessanten Material sowohl in der ZNS- als auch in der PNS-Regeneration. Es konnte bereits gezeigt werden, dass Schwann-Zellen, die mit St8SiaII transfiziert waren, in vitro eine erhöhte Motilität zeigten. Und auch ins Rückenmark transplantiert, konnte die Regeneration sowie die Remyelinisierung sowohl durch die transplantierten Schwann-Zellen

als auch durch Oligodendrozyten-Vorläuferzellen verbessert werden (LAVDAS et al. 2006;

PAPASTEFANAKI et al. 2007). Des Weiteren verminderte die lentiviral-vermittelte Expression von PolySia die Narbenbildung im lädierten Rückenmark und führte zu einem erhöhten Einwachsen der Axone in die Läsionsstelle (ZHANG et al. 2007). In einem weiteren Ansatz konnte gezeigt werden, dass exogene PolySia das Wachstum und Überleben von Neuronen und Schwann-Zellen in vitro nicht beeinträchtigt (HAILE et al. 2007). Auch PolySia-Hydrogele sind bereits als Substrat für das Wachstum von neuronalen und glialen Zelltypen getestet worden (BERSKI et al. 2008; HAILE et al. 2008). Eine chemische Verlinkung der PolySia auf Glasoberflächen zeigte ebenfalls das Potential der PolySia als Ausgangsmaterial für „Tissue engineering“-Applikationen (STEINHAUS et al. 2010). Somit scheint PolySia eine geeignete Gerüstsubstanz für biohybride Nerveninterponate zu sein.