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‚narrativen Begriffsfeld‘

3. Mythos und interaktiv-narrative digitale Spiele

3.1 Ansätze der modernen Mythenforschung – eine Skizze

3.1.1 Mythos heute

Aber warum sind Mythen heute so aktuell? Warum konstatieren Aleida und Jan Assmann gar eine Mythophilie der Postmoderne? Beide führen für ihre These mehrere Gründe an.

Neben der Ästhetisierung des Mythos und der neuen Mythenbildung betonen sie einen Aspekt, der funktionalistisch von erheblicher Bedeutung ist, den sie aber leider nicht weiter ausführen. (vgl. ebd., 195 ff.) Demzufolge ist die Mythophilie, ist die moderne Mythenbildung eine Reaktion auf die Deutungskrise des Subjektes, die im Zeitalter der Postmoderne erheblich an Bedeutung gewinnt. Interessanterweise verhält es sich hier beim Mythos ähnlich wie bei der Religion.

Seit Mitte der 1990er-Jahre wurde in der kulturwissenschaftlichen Forschung, im Feuilleton oder in der öffentlichen Debatte vermehrt ein Wiedererstarken religiöser Themen, Inhalte und Motive sowie deren Niederschlag in gegenwärtigen Medien wie der Literatur verzeichnet, das unter Termini wie »Respiritualisierung«, »Renaissance der Religion« oder Zeitalter der

310Zum Begriff der Mythomotorik, wie er aktuell zumeist gefasst wird, vgl. ASSMANN (1992). Jan Assmann unterscheidet bei der Mythomotorik im Wesentlichen zwischen der ambivalenten Wirkweise von Mythen, zum einen bestehende Verhältnisse stabilisieren und zum anderen destabilisieren zu können. Entscheidend für die jeweilige Wirkung von Mythen ist die Einstellung einer Gesellschaft, sich verändern oder die bestehende Form beibehalten zu wollen.

311 Die Mythenbegriffe (3) und (5) werden dabei aber nicht als derart hermetisch gedacht wie bei Aleida und Jan

Assmann.

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»postsäkularen Gesellschaft« firmiert. Ob es sich hierbei um eine ›Wiederkehr des Religiösen‹

an sich oder nur um eine wiederkehrende Fokussierung auf religiöse Belange handelt, die im Zuge des viel beschworenen ›Kampfs der Kulturen‹ und des damit verbundenen Niedergangs des Antagonismus zwischen kapitalistischem Westen und sozialistischem Osten die Religion erneut als ideologische Legitimation anführe, wurde und wird vielfach kontrovers diskutiert.

(MATUSZKIEWICZ 2015a, 645)

Es ist sicherlich kein Zufall, dass mit dem Ende eines dualistisch-antagonistischen politischen Klimas der Mythos wieder stärker ins Bewusstsein rückt. (vgl. HUNTINGTON

2011) Dualistische Strukturen suggerieren (wie der Binärcode) dem Subjekt eine eindeutige Ordnung, die dem Individuum seinen Platz in der Gesellschaft anweist.312 Der Verlust dieses Dualismus kann dann dem Verlust der Ordnung gleichkommen, nach der das Subjekt sucht.

Schon die ältesten Mythen, die uns heute noch überliefert sind, zeugen von dem Bedürfnis des Menschen, dem Chaos zu entkommen und eine Lebensordnung zu erhalten, die unzweifelhaft ist, da man entweder der einen oder der anderen Gruppe angehört. Und auch heute noch bedienen Mythen als Erzählungen dieses Bedürfnis. Sie etablieren antagonistische Narrative, die die Figuren und die Welt in Gut und Böse teilen und dabei dem immer selben Muster folgen, wenn sie vom langen, beschwerlichen Kampf des ‚Guten‘ gegen das ‚Böse‘ erzählen, der anfänglich als nicht zu gewinnen erscheint, der aber dennoch aufgenommen werden muss, da die Alternative der Untergang der gesamten Welt ist. Letztlich trägt das Gute doch den Sieg davon, die Welt ist gerettet, die (idealisierte) Ordnung bleibt erhalten.

Hier wird eine zentrale Funktionsdimension des Mythos ersichtlich. Mythen geben Orientierung, verleihen dem Leben Sinn und helfen dem Subjekt die Welt zu deuten sowie den status quo zu legitimieren. In diesem Sinne ist auch die Mythomotorik, wie Jan Assmann sie versteht und nachhaltig geprägt hat, von großer Wichtigkeit. Mythomotorisch betrachtet, ist der Mythos „erinnerte[] Geschichte“. (ASSMANN/ASSMANN 1998, 197) Damit betont Jan Assmann aber auch, dass die Frage der traditionellen Mythenkritik nach der Wahrheit des Mythos unangebracht ist. „Auch Mythen sind Erinnerungsfiguren: Der Unterschied zwischen Mythos und Geschichte wird hier hinfällig. Für das kulturelle Gedächtnis zählt nicht faktische, sondern nur erinnerte Geschichte.“ (ASSMANN 2007, 52) Für den Eingang in das kulturelle Gedächtnis ist also nicht entscheidend, ob etwas faktisch geschehen ist oder fingiert wurde. Entscheidend ist vielmehr, was erinnert, was geglaubt wird. Unterstrichen werden derartige Thesen von Hayden Whites Untersuchungen zur Geschichtsschreibung. White

312 Wie stark dualistische Strukturen bzw. Dichotomien unsere Wahrnehmung und Verarbeitung der Wirklichkeit

determinieren, illustriert ein simples Beispiel. So ordnen wir die Gesellschaft oft, v.a. mit Blick auf Konflikte, in

‚Oben‘ und ‚Unten‘, ‚Alt‘ und ‚Jung‘, ‚Arm‘ und ‚Reich‘ etc. Auf diese Weise vereinfachen Dichotomien zwar die Komplexität der Realität, erlauben uns aber, uns einer von beiden Gruppen als zugehörig zu definieren. Dies geht i.d.R. aber zu Lasten eines antonymen Denkens.

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erkennt, dass Historiografie nicht auf der genauen Dokumentation dessen beruht, was wirklich gewesen ist, sondern darauf, was als erinnerungswürdig angesehen wird. Dabei folgt das

›Emplotment‹ in der Regel vier Archetypen, die Northrop Frye identifizierte und die für die moderne Mythenforschung des 20. Jahrhunderts von großer Bedeutung waren – Satire, Romanze, Tragödie und Komödie.313 (vgl. WHITE 2008) Überspitzt gesagt, könnte man, mit Bezug auf Jan Assmann und Hayden White, feststellen, dass Mythen nicht Wirklichkeit dokumentieren, sondern konstruieren und dass dies nicht nur die Mythenbildung, sondern auch die Historiografie betrifft. Dabei folgen Mythen einem zutiefst menschlichen Bedürfnis:

Sie [die Mythen] sind der immer wieder durch Weitererzählung akzeptierte und erfolgreiche Versuch, sich durch die Erzählfantasie ein Verständnis der Zusammenhänge zu schaffen, die durch begriffliche Abstraktion oder Berechenbarkeit nicht menschlich befriedigend erfasst werden können. […] Deshalb ist es falsch, die Geschichte der Mythen zweizuteilen in eine Zeit, in der die Menschen noch an sie geglaubt, und eine Zeit, in der sie sich durch Aufklärung von diesem Glauben gelöst hätten. Es gibt nicht die beiden Epochen in und nach den Mythen.

(MATUSCHEK 2014, 13; Herv.i.O.)

Wir leben also nicht wieder in einem mythophilen Zeitalter, wir leben immer noch in ihm.

Die Aufklärung bzw. deren kritische Reflexion der Mythologie(n) mag zwar die einstige religiöse Funktion des Mythos (nahezu) beseitigt haben, sie hat aber erstens keineswegs alle Funktionen des Mythos abgeschafft und sie hat zweitens auch nicht alle religiösen Funktionsweisen eliminiert. Ordnungs- und Sinnstiftung, Deutung und Legitimation sind beides bedeutenden Funktionen, die sich Religion und Mythos teilen und die Mythen auch heutzutage immer noch aufweisen. So ist es die Aufgabe der gegenwärtigen Mythenforschung, stärker nach den Funktionen des Mythos und dessen Aktualisierungen zu fragen, sich endgültig von einer helleno- und eurozentrischen Perspektive zu lösen. Einen bemerkenswerten Schritt in diese Richtung haben Christoph Jamme und Stefan Matuschek mit ihrem bereits mehrfach zitierten Handbuch der Mythologie unternommen, indem sie sich nicht nur den europäischen Mythen zuwenden, sondern den Blick auch über den Orient, Ägypten, Asien, Amerika sowie Australien und Ozeanien schweifen lassen, um einen global angelegten Überblick über Mythen zu offerieren. (vgl. JAMME/MATUSCHEK 2014b) Einen deutlichen Gegensatz markiert dazu die überaus kenntnisreiche Studie von Northrop Frye und Jay Macpherson, die ein Kondensat des Lebenswerks der beiden Mythenforscher darstellt.

(vgl. FRYE/MACPHERSON 2004) Beide Sektionen des Buches verbindet, und hierin unterscheiden sie sich von dem funktionalistisch orientierten Ansatz von JAMME/MATUSCHEK

313„Wir haben nunmehr die Frage beantwortet: Gibt es erzählerische (narrative) Kategorien der Literatur, die weiter oder logisch früher sind als die gewöhnlichen Gattungen? Es gibt deren vier: die romantische, die tragische, die komische und die ironische oder satirische.“ FRYE (1964), 164; Herv.i.O.

200 (2014b), ein substantialistischer Mythosbegriff, der sich an den kodifizierten Schriften des Christentums (Frye) bzw. der griechischen Mythologie (Macpherson) ausrichtet, also auf die kanonischen Werke rekurriert, die bis ins 18. Jahrhundert hinein den vielleicht nachhaltigsten Einfluss auf die europäische und westliche Kultur hatten. Im Folgenden wird der Versuch unternommen, kanonische Werke der neueren Mythenforschung in substantialistisch und funktionalistisch, wo es möglich erscheint, zu trennen. Dies geschieht aber mit der Intention, die Unterschiede zwischen beiden zu betonen, um so die Punkte aufzuzeigen, an denen man sie zusammenführen kann, wo sie sich gegenseitig befruchten. Dies ist auch das Anliegen dieser Arbeit; aufgrund der Vielgestaltigkeit, des Reichtums, den Mythen auch immer noch in unserer digitalen Medienkultur haben, scheint es illusorisch, beide Definitionsstrategien exkludierend zu verwenden, vielmehr ist es sinnvoll, beide zu vereinen.

Im Dokument Zwischen Interaktion und Narration: (Seite 197-200)