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Das Interaktiv

Im Dokument Zwischen Interaktion und Narration: (Seite 158-166)

‚narrativen Begriffsfeld‘

2.5 Profilierung des Kontinuumsmodells

2.5.2 Die Strukturebene

2.5.2.1 Das Interaktiv

In 2.3.4 wurde das Interaktiv wie folgt definiert: Das Interaktiv ist ein Set aus (vom Designer) definierten Handlungsoptionen und designten Interaktionen, die an einem dominanten Spielprinzip orientiert sind. Das dominante Spielprinzip bestimmt die Genrezugehörigkeit eines digitalen Spiels. Ist Schießen das dominante Spielprinzip, dann handelt es sich um einen Shooter, ist die Simulation des Aufbaus eines Imperiums vorherrschend, dann liegt eine Aufbausimulation vor usw. Das Interaktionsdesign ist immer auf das dominante Spielprinzip hin ausgerichtet, da beide immer korrespondieren müssen, um die ludische Kohärenz des Spiels zu garantieren. Dabei fungiert das Interaktiv als Sanktionsinstanz digitaler Spiele, da es – je nach Evaluation des Spielausgangs – über Belohnung oder Bestrafung ‚entscheidet‘. Das Interaktiv ist somit kein Phänomen der Spieloberfläche,251 es reicht vielmehr weit in den Programmcode des Spiels hinein, da der Dialogbetrieb nur interaktiv umgesetzt werden kann und die Interaktivität (durch das Interaktionsdesign) dementsprechend gestaltet sein muss. So drückt sich ein wesentlicher Aspekt der Wirkweise des Interaktivs in den implementierten Algorithmen aus. Dabei wirkt

251 Stephan SCHWINGELER (2014) arbeitet in seiner Dissertation ein Oszillationsverhältnis zwischen Transparenz

und Opazität in digitalen Spielen heraus, das zwischen der transparenten Oberfläche und der opaken Unterfläche vorherrscht. Als Oberfläche sind prinzipiell alle audiovisuellen Elemente digitaler Spiele zu verstehen, die dem Spieler das digitale Spiel vor Augen und Ohren führen, ihm das Spiel repräsentieren, aber auch auf seine Eingaben reagieren. Die Unterfläche macht der Programmcode aus, welcher für den Spieler im Vergleich zur transparenten Oberfläche meistens opak bleibt. An Bolters und Grusins Konzept der ‚Hyper-‘ und ‚Immediacy‘

anschließend oszillieren digitale Spiele zwischen dem Unsichtbarmachen einerseits wie dem bewussten Herausstellen der eigenen medialen Form andererseits. Zu Transparenz und Opazität vgl. ebd., 21 f. sowie 155–

182. Eine tabellarische Übersicht, die Transparenz und Opazität gegenüberstellt, findet sich auf 181.

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aber weniger die informatische auf die designerische Seite ein als umgekehrt. So richtet sich nicht das Interaktiv nach dem Programmierparadigma, sondern dieses nach dem Interaktiv.

Der Programmierer setzt die Vorgaben des Designers programmierparadigmatisch (imperativ, deklarativ etc.) um.

Dies informatisch auszuführen, würde an dieser Stelle den Rahmen sprengen, allerdings ist es wichtig, sich stets zu vergegenwärtigen, dass all das, was von Kulturwissenschaftlern als Oberflächenphänomen digitaler Spiele untersucht wird, immer im Programmcode angelegt sein muss. Das Interaktionsdesign ist, und v.a. die HCI hebt dies hervor, zugleich ein künstlerischer wie ein informatischer Prozess. Kehrt man zu den Oberflächenerscheinungen zurück, so sind im Kontext des Interaktivs primär Spielregeln und Spielmechaniken von Interesse. Sie legen fest, was Spieler im Spielsystem machen können und werten diese Aktionen zugleich aus. Daneben etabliert das Interaktiv aber zudem die Spielwelt als ‚soziale‘

Welt, indem sie soziale Konventionen und diskursive Sagbarkeitsregeln ebenso definiert wie moralische Werte und Normen.

Hier liegt dann auch ein wesentlicher Faktor, der für ein korrespondierendes Verhältnis zwischen Interaktiv und Narrativ sorgt – die moralisch-narrative Rollenerwartung an die Figur. (vgl. dazu 2.3.3) Für das Interaktionsdesign eines interaktiv-narrativen digitalen Spiels ist es entscheidend, ein Figurenpersonal zu etablieren, dessen Figurenkonzeptionen mit einem bestimmten Wertehorizont verbunden sind. Der Held einer Geschichte ist hierbei nicht im Sinne der klassischen griechisch-römischen Mythen zu verstehen. Er ist durch die Heldenkonzeption der mittelalterlichen Artusepen, über die biedermeierlichen Märchen der Brüder Grimm bis zu den Superhelden des Mainstreamcomics des 20. Jahrhunderts (unter moralischen Gesichtspunkten) erheblich positiver konnotiert, als dies noch in den antiken Mythen der Fall war. Oft sind diese Helden von jeder Ambivalenz befreit, die Personifikation des unzweifelhaft Guten, des Kämpfers gegen das Böse.252 Dieser Antagonismus sowie die

252 Das anschaulichste Beispiel für den über alle Maßen idealisierten Heldentypus des 20. Jahrhunderts ist Superman, der – schon bedingt durch seine propagandistischen Einschläge während des Zweiten Weltkrieges – als Figur frei von jeder moralischen Fragwürdigkeit ist. Erst das ‚Bronzene Zeitalter‘ (zur Geschichte des Superheldencomics vgl. KNIEP (2009)) des Comics machte u.a. mit Frank MILLERs Batman. Die Rückkehr des Dunklen Ritters wieder einen Heldentypen im Sinne eines Antihelden populär, der zwar für das Gute kämpft, dessen Vorgehensweisen aber nicht immer moralisch eindeutig als ‚gut‘ zu beschreiben sind. Dies manifestiert sich in einer ‚gesellschaftlich‘ ambivalenten Bewertung des Helden innerhalb der Diegese, der fortwährend soziale Konventionen unterläuft und hierdurch zu einem gesellschaftlichen Außenseiter wird. Aktualisiert wird dieser Antiheldentypus filmisch durch Christopher Nolans Batman-Reihe (2005–2012) oder die zahlreichen Marvel-Verfilmungen wie Guardians of the Galaxy (2014) oder Deadpool (2016). Obwohl der Antiheld als Held in den vergangenen zehn Jahren an Popularität innerhalb der Mainstream-Populärkultur gewonnen hat, muss

160 hieraus resultierende Figurenkonstellation samt -konzeptionen ist vom populärkulturellen Rezipienten derart internalisiert worden, dass es naheliegt, anzunehmen, dass dieser dazu tendieren wird, die Rollenzuschreibung der narrativen Figur bei der Realisierung seines interaktiv-narrativen Avatars zu übernehmen bzw. die Vorgaben auszuagieren. (vgl. hierzu RAUSCHER 2015) Als Beispiel kann man diesbezüglich Telltale Games Umsetzung von The Walking Dead nehmen. Am Ende einer jeden Episode erhält der Spieler eine Auswertung, die ihm anzeigt, wie andere Spieler sich in den Entscheidungsmomenten verhalten haben. Es fällt auf, dass es hier häufig zu deutlichen Akkumulationen kommt, die jeder statistischen Normalverteilung widersprechen.253 Wie kann das sein? Bei genauem Hinsehen offenbart sich, dass jene Entscheidungen, die besonders oft getroffen wurden, jene sind, die im Vergleich zu den alternativen Handlungsoptionen vom Spieler zweifelsfrei als ‚moralischer‘

oder ‚gerechter‘ wahrgenommen werden.254

So wird der Spieler gleich zu Beginn der fünften Episode der zweiten Staffel von The Walking Dead vor die Wahl gestellt, das Baby AJ während eines Feuergefechtes zu retten und möglicherweise das Leben des eigenen Avatars Clementine zu riskieren oder hinter einer dennoch der Heldentypus à la Superman weiterhin als dominante Figurenkonzeption des Helden gelten, da er in seinen vielfältigen Abstufungen weiterhin die Populärkultur bestimmt.

253 Dieses Phänomen findet man aber nicht nur in digitalen Spielen, sondern es kann grundsätzlich im Kontext

von Narrationen in interaktiven Rezeptionskontexten von (digitalen) Medien mit mindestens binärer Entscheidungsoption beobachtet werden. So führte die ARD am 17. Oktober 2016 mit Terror – Ihr Urteil (2016) ein breit beworbenes ‚TV-Experiment‘ durch, bei dem es den Zuschauern als Schöffen überlassen wurde, das Urteil über den Kampfjet-Piloten Lars Koch zu fällen. Dieser hat ein mit 164 Menschen besetztes Passagierflugzeug abgeschossen, welches ein Terrorist entführt hatte und auf ein ausverkauftes Fußballstadion mit 70.000 Fans zusteuerte. Dabei ist aber in diesem Zusammenhang weniger interessant, wie der als Kammerstück inszenierte Film (eine Verfilmung von Ferdinand von Schirachs Theaterstück Terror (2015)) die Aktualität des Grundgesetzes in Zeiten des Terrors thematisiert bzw. das Verhältnis zwischen Rechtwidrig- und Rechtsmäßigkeit auslotet, sondern wie sich die Zuschauer entscheiden. Hierbei ist bemerkenswert, dass Lars Koch mit überwältigender Mehrheit ‚freigesprochen‘ wurde. So stimmten die Zuschauer in Deutschland (86,9%), Österreich (86,9%) und in der Schweiz (84%) allesamt mit über 80% für ‚nicht schuldig‘.

http://www.daserste.de/unterhaltung/film/terror-ihr-urteil/voting/index.html (30.06.2018). Beachtlich ist dabei die Eindeutigkeit der getroffenen Entscheidung v.a. vor dem Hintergrund der gravierenden Konsequenzen der Handlung von Lars Koch und den sich hieraus ergebenden moralischen und ethischen Dilemmata. Meines Erachtens verweist die Klarheit der Verhältnisse aber darauf hin, dass der ‚Freispruch‘ vielleicht die intendierte Handlungsoption in diesem Fall ist. Vereinfacht wird dem Zuschauer nämlich die Übernahme der Sichtweise von Koch und sein sich daraus ergebendes Handeln durch den simplen Umstand, dass die Insassen des Flugzeugs in jedem Fall (Abschuss oder Absturz ins Stadion) sterben, die Fußballfans aber nicht. Dies stellt einen wesentlichen Unterschied zu den meisten anderen ‚Weichenstellfall‘-Szenarien dar, da hierbei meistens eine der beiden betroffenen Gruppen stets überlebt. Vgl. zum ‚Weichenstellfall‘ oder ‚Trolley-Dilemma‘

ŠVELCH (2010), 54 f. Des Weiteren ist der Unterschied der potenziellen Opferzahl in den allermeisten anderen Weichenstellfällen nicht derart groß wie in diesem (164 gegen 70.000 Menschenleben).

254Wie sich moralisches Handeln in digitalen Spielen mit schwierigen Entscheidungssituationen in komplexen Beziehungen zwischen Avataren, NPCs und dem Spieler konkret entfalten kann, hat Reto SCHÖLLY (2017) am Beispiel Clementines aus Telltale Games The Walking Dead dargelegt. Von besonderem Interesse ist dabei für Schölly, wie sich Clementine im Spielverlauf entwickelt, wobei nicht bloß verschiedene Endszenarien in den Blick geraten, sondern auch die Reziprozität jener Kommunikationssituationen, die während des Spielens ablaufen und welche Rolle emotionale Aufladungen dabei spielen.

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Mauer direkt in Deckung zu gehen. In der Endauswertung der Entscheidungen erfährt man, dass sich deutlich über 50% der Spieler dafür entschieden haben,255 AJ zu retten, obwohl beide Handlungsoptionen potenziell gleichwertig sind.256 Der Grund für diese Akkumulation ist simpel. Es gehört zu den moralischen Basiskonzepten, Mitmenschen in Notsituationen zu helfen, v.a. wenn es sich hierbei um hilflose Subjekte handelt.257 Moralisch erscheint, und die Auswertung belegt dies, es naheliegend, AJ in Deckung zu bringen, zumal diese moralisch richtige Entscheidung auch noch durch die emotionalen Komponenten aufgeladen wird, die Menschen im Allgemeinen mit Babys verbinden.

Durch die moralische (und damit oft auch emotionale) Aufladung einer Handlungsoption im Rahmen des Interaktionsdesigns wird es wahrscheinlicher, dass Spieler diese wählen, auch wenn das System ihnen dies nicht explizit vorschreibt, sondern auf subtile Art und Weise suggeriert. Das bedeutet, dass das Vorhandensein eines Figurenpersonals sowie die Akzeptanz des dargebotenen Wertehorizonts Spieler dazu verleiten kann, Handlungsoptionen zu wählen, die unter dem Gesichtspunkt der Rollenerwartung als logisch und kohärenzstiftend erscheinen.

Exempel dieser Art demonstrieren, wie wichtig narrationsoffene Elemente interaktiver Interaktivität-Narrativität für die Gestaltung des Interaktivs sind. Diese Offenheit muss aber auch das Narrativ aufweisen, damit die Korrespondenz zwischen Interaktiv und Narrativ erzeugt werden kann.

255 Man sollte hierbei jedoch bedenken, dass diese Zahlen nicht immer als verlässlich anzusehen sind. Denn insbes. mehrfache Spieldurchläufe können hier dazu beitragen, dass sich die ausgewiesenen Werte verändern.

Zuweilen lässt es sich bspw. in Let’s Plays, Foren oder in Gesprächen mit Fans beobachten, dass bestimmte digitale Spiele gezielt mehrfach durchgespielt wurden, um verschiedene (End-)Szenarien auszuprobieren. Dies gilt nicht nur für die Telltale Games-Spiele, sondern auch für jene von Quantic Dream oder von Supermassive Games wie Until Dawn (2015). Meine Überlegungen beziehen sich im Folgenden daher eher auf das erste Durchspielen, wenn die Spieler noch nicht wissen, was passieren wird und welche Konsequenzen Handlungen haben. Bei anschließenden Spieldurchläufen ist dieses Wissen dann nämlich vorhanden und es ist davon auszugehen, dass insgesamt und aufgrund des spielerisch erworbenen Kenntnisstandes reflektierter gespielt wird oder bewusst andere Optionen gewählt werden als ursprünglich. Dies können Faktoren sein, die den Wert möglicherweise ‚verfälschen‘.

256 Vgl. dazu exemplarisch das Let’s Play von JACKSEPTICEYE, dass für Ende August 2014 einen Wert von 56%

ausweist https://www.youtube.com/watch?v=9CZ2AKhohI0 (30.06.2018).

257 Tobias STAABY (2015) hat eine didaktische Anleitung vorgelegt, wie sich The Walking Dead in den Ethik-,

Religions- oder Philosophieunterricht der Oberstufe einbinden lässt, um ethische Dilemmata zu diskutieren oder moralphilosophische Modelle wie Aristotelesʼ Tugendethik zu vermitteln. Dabei eignen sich, so Staaby, digitale Spiele wie The Walking Dead besonders für derartige Vorhaben, da sie moralisch und ethisch diffizile sowie emotional aufgeladene Situationen kreieren, die für eine Diskussion in der Gruppe prädestiniert sind.

162 2.5.2.2 Das Narrativ

Narrative beinhalten in interaktiv-narrativen digitalen Spielen eher interaktionsoffene Elemente narrativer Interaktivität-Narrativität. Das artikuliert sich einerseits in Bezug auf die soeben skizzierte Funktion der Rollenerwartungen, die in gewisser Weise die Aufgaben eines

‚verallgemeinerten Anderen‘ übernimmt. Es betrifft aber auch das Narrativ an sich, welches dieses Figurenpersonal als einen Teil seiner selbst mitbringt. Damit die Korrespondenz zwischen Interaktiv und Narrativ konvergente Züge annehmen kann, müssen das dominante Spielprinzip des Interaktivs und das dominante Motiv des Narrativs zueinander passen.

Anders gesagt: Es muss eine ‚Korrespondenz der Handlungsmuster‘ (im performativen wie im narrativen Sinne) gegeben sein. Ein Beispiel hierfür haben wir im Abschnitt zur Mesoperspektive bereits gesehen. Das mythologische Narrativ (mit seinen modernen Abwandlungen) zeichnet sich auf der (narrativen) Handlungsebene prinzipiell durch zwei Eigenschaften aus: der Kampf Gut gegen Böse sowie die Reise. Dieses Narrativ korrespondiert mit allen Interaktiven, die eine weit ausgreifende Raumbemächtigung des Spielers durch den Avatar sowie eine Umsetzung als Agôn erfordern. Deshalb lässt es sich auch gut in digitalen Spielgenres wie dem Action-Adventure, dem RPG oder dem Hack &

Slay umsetzen, wohingegen es für eine Aufbausimulation ungeeignet ist, obwohl diese Spiele auch auf ein agonales Spielprinzip bauen. Hierbei sind aber einerseits die vom mythologischen Inhalt bedingten Implikationen weniger wichtig und andererseits wird der Spielraum hier wesentlich limitierter und punktueller genutzt. Kulturwissenschaftlich gesprochen evoziert das mythologische Narrativ die Nutzung eines Spielraums als Raum, Aufbausimulationen hingegen benötigen für ihr dominantes Spielprinzip aber Orte.258

Wie dominant das mythologische Narrativ und seine Abwandlungen in gegenwärtigen interaktiv-narrativen digitalen Spielen wie in der Mainstream-Populärkultur im Allgemeinen sind, zeigt sich daran, wie diffizil es ist, ein Beispiel für ein anderes Narrativ zu finden. Geht man vom soziokulturellen Diskurs aus, so ist immer wieder ein bestimmtes Narrativ anzutreffen – das Verfallsnarrativ. Diese Narrative etablieren zu Beginn einen nahezu idealen Zustand, der sich in hohem Ansehen, großem Einfluss, persönlicher Erfüllung und finanziellem Wohlstand manifestiert. Protagonisten dieser Narrative können einzelne Figuren oder Figurengruppen sein, von der Familie bis zum gesamten Volk. Verfallsnarrative finden sich in der Literatur in Thomas Manns Buddenbrooks (1981), in der Geschichtsschreibung in Werken, die die Geschichte einer Gruppe als Niedergang erzählen, und im sozialen Diskurs in

258 Weitere Ausführungen hierzu in Kapitel 3.

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Form von Medienkritik und Kulturpessimismus, wobei der bestehende Zustand in der Regel mit einem (idealisierten) historischen Zustand verglichen wird.259 Diese Narrative zersetzen den Idealzustand zu Handlungsbeginn immer weiter, bis an ihrem Schluss stets Niedergang und Ende stehen. Der Verfall wird durch Intrigen der Antagonisten begünstigt, primär aber durch das Unvermögen des Protagonisten verursacht, welches häufig an amoralisches Verhalten zurückgebunden wird. Die historistische Geschichtswissenschaft interpretierte, besonders unter christlichem Einfluss, den Verfall antiker Kulturen wie der Römer oft unter Aspekten wie Zügel- und Maßlosigkeit, fehlender Demut und Weitsicht sowie allgemeiner Dekadenz, um den Verfall an die moralische Verkommenheit zurückzubinden und hierdurch eine didaktische Funktion auszuüben.260

Die Tatsache, dass man Verfallsnarrative aber in digitalen Spielen nicht nachweisen kann, legt die Vermutung nahe, dass ein Narrativ wie das Verfallsnarrativ nicht geeignet ist, um in digitale Spiele übertragen zu werden. Es stellt sich aber die Frage, warum es anscheinend nicht adäquat in digitalen Spielen umgesetzt werden kann? Ursächlich ist eine Inkompatibilität zum Phänomen des Spiels an sich. Alle Spiele, zumindest jene, die als Ludus angelegt sind, eint, unabhängig vom dominanten Spielprinzip, eine Eigenschaft – der (mögliche) Sieg. Je nachdem, wie geschickt sich der Spieler anstellt, kann er gewinnen oder verlieren. Dies markiert die Offenheit des Spiels, da der Sieg zu Spielbeginn und während des Spielverlaufs immer möglich ist, auch wenn er unwahrscheinlich sein mag. Beim

259 Die Mediengeschichte zeugt im Wesentlichen von einer Dichotomie zwischen Medienenthusiasten und -kritikern. Erstere verbinden neue Medien oft mit gewissen ‚Heilserwartungen‘ und konstruieren

‚Aufstiegsnarrative‘ gemäß dem stufenartigen Fortschrittsmodell, gegen welches sich Thomas S. KUHN (2012) wendet, und betrachten jede mediale Errungenschaft als Schritt hin zu jener idealisierten Welt, die sie herbeiwünschen. Medienkritiker verfahren umgekehrt, sehen die (Medien-)Kultur gewissermaßen nicht wie die Medienenthusiasten die Treppe hinaufgehen, sondern herunterfallen. Jedes neue Medium ist dann eine weitere Entfernung vom Idealzustand, der als Ausgangspunkt des Verfallsnarrativs dient, wohingegen er beim Aufstiegsnarrativ der Zielpunkt ist. Die Verwendung des Verfallsnarrativs hat in der Geschichte der Medienkritik eine lange Tradition, reicht von der Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern über Film, Comic und Fernsehen hin zu den elektronischen Medien. Einen der nachhaltigsten medienkritischen Vorstöße der letzten zwanzig Jahre findet man in der ‚Killerspieldebatte‘, die nach den Attentaten von Littleton und Erfurt die öffentliche Wahrnehmung von digitalen Spielen prägte. Vgl. dazu MATUSZKIEWICZ (2015b); zur

‚Killerspieldebatte‘ in Deutschland und Australien vgl. SCHROEDER (2011). Zur Gewalt in digitalen Spielen im Allgemeinen vgl. Christoph BAREITHERs ethnografisch angelegte Studie Gewalt im Computerspiel. Facetten eines Vergnügens (2016). Neuere Studien wie KÜHN et al. (2018) widerlegen mittlerweile mittels empirischer Vergleichsstudien sogar den lange und häufig von Kritikern unterstellten Kausalzusammenhang zwischen dem Spielen gewalthaltiger digitaler Spiele wie GTA V und einer Aggressionszunahme der Probanden im Alltag.

260 Wie zentral die didaktisch-kritische Funktion derartiger Arbeiten sein kann, illustriert Ludwig Quiddes berühmte Studie über den römischen Kaiser Caligula, die als Parabel zugleich den ‚Cäsarenwahnsinn‘ auf den deutschen Kaiser Wilhelm II. überträgt. Vgl. QUIDDE (1926). Wie persistent durch Verfallsnarrative etablierte Deutungsmuster sein können, wird dadurch herausgestrichen, dass sich das Caligula-Bild des 19. Jahrhunderts fast das gesamte 20. Jahrhundert lang halten konnte. Erst Aloys WINTERLINGs (2003) Caligula-Biografie kann als eine Arbeit angesehen werden, die die moderne Mythenbildung bezüglich Caligula (und anderer

‚wahnsinniger‘ Kaiser) in der Alten Geschichte konsequent auf ihre Stichhaltigkeit hin überprüft.

164 Verfallsnarrativ liegt das dominante (narrative) Handlungsmuster aber im Scheitern des Protagonisten. Als Narrativ hat dies einen Reiz, spielerisch aber nicht, denn wer will ein Spiel spielen, das er von Beginn an nicht gewinnen kann? Das Verfallsnarrativ steht den Charakteristiken von Spielen diametral entgegen und kann somit nicht (oder nur sehr schwierig und reduziert) spielerisch umgesetzt werden. Dies zeigt, dass die Handlungsmuster von Interaktiv und Narrativ nicht immer korrespondieren können, sondern dass dies von der Kompatibilität zwischen Interaktiv und Narrativ abhängt. Diese Kompatibilität ist beim mythologischen Narrativ gegeben, welches stets vom Sieg des Protagonisten handelt. Insofern ist das mythologische Narrativ (wie auch das Aufstiegsnarrativ) ein Gegenentwurf zum Verfallsnarrativ.

Man darf aber keinesfalls davon ausgehen, dass die korrespondierende Relation zwischen Interaktiv und Narrativ stets in dem Sinne ausgeprägt ist, dass eine Konvergenz261 zwischen beiden zu einer größtmöglichen Hybridisierung im interaktiv-narrativen Bereich führt. Die Grade der Ausprägung bzw. Gewichtung zwischen Interaktiv und Narrativ können (z.T. stark) variieren. Andernfalls wären interaktive oder narrative interaktiv-narrative digitale Spiele gar nicht möglich. Wie sich die Beurteilung der Interaktivität-Narrativität eines digitalen Spiels auf der Attributebene ausnimmt, folgt letztlich aus dem Designparadigma262 des Interaktiv-Narrativs. Es bietet sich deshalb an, in Bezug auf das Interaktiv-Narrativ, zwischen drei Designparadigmen zu unterscheiden. Die Rede ist dann von einem interaktiven, einem interaktiv-narrativen oder einem narrativen Designparadigma. Diese Designparadigmen werden vom Designer bestimmt und prägen die ontologische wie rezeptiv-ästhetische Dimension des betreffenden interaktiv-narrativen digitalen Spiels. Beim interaktiven Designparadigma nimmt das Interaktiv die stärkste Position innerhalb der Interaktivität-Narrativität des jeweiligen digitalen Spiels ein. Ein digitales Spiel, das diesem Designparadigma folgt, ist Red Dead Redemption (2010).263 Dieses Spiel hat zwar eine

261Durch eine Konvergenz von narrativem und performativem Handlungsmuster wird letztlich ein Phänomen wie transmediales Erzählen erst möglich, da jene Konvergenz die Grundvoraussetzung für eine transmediale Übersetzbarkeit ist.

262 Das Designparadigma bzw. die drei Designparadigmen wurden vom informatischen Konzept des

‚Programmierparadigmas‘ abgeleitet. Vgl. hierzu GABBRIELLI/MARTINI (2010). Unter einem Designparadigma verstehe ich im Folgenden die Verdichtung von bestimmten designerischen Prinzipien und Vorstellungen zu einem leitenden Muster.

263Red Dead Redemption ist, schon thematisch und ikonografisch bedingt, dem Western-Narrativ verpflichtet, welches ebenfalls ein Derivat des mythologischen Narrativs ist. Dies wird an der Verkettung der Kardinalfunktionen signifikant: John Marston muss den heilen Mikrokosmos (seine Farm und Familie) auf Druck von US-Bundesagenten verlassen (Ruf des Abenteuers), wobei er Mentoren findet (z.B. Bonnie

263Red Dead Redemption ist, schon thematisch und ikonografisch bedingt, dem Western-Narrativ verpflichtet, welches ebenfalls ein Derivat des mythologischen Narrativs ist. Dies wird an der Verkettung der Kardinalfunktionen signifikant: John Marston muss den heilen Mikrokosmos (seine Farm und Familie) auf Druck von US-Bundesagenten verlassen (Ruf des Abenteuers), wobei er Mentoren findet (z.B. Bonnie

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