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3.2 Migrationshintergrund und Staatsangehörigkeit

3.2.1 Migrationshintergrund – ein Sammelbegriff für unterschiedliche Phänomene

Begriffsdefinitionen

Der Begriff Migrationshintergrund umschreibt unterschiedliche Phänomene und spielt damit nur eine scheinbare Homogenität der Gruppe der Migrant*innen vor.

Auf unterschiedliche Bedeutungen soll nun eingegangen werden. Migration wird als eine Erfahrung, die der Einzelne, seine Familie oder seine Vorfahren gemacht haben definiert. Damit wird dem Migrationshintergrund zunächst einmal keine besondere Stellung eingeräumt. Migration gilt als eine Lebenserfahrung unter vielen anderen möglichen Erfahrungen.

Die Metapher der Migration – Wanderung als Sinnbild für einen permanenten oder beinah permanenten Wechsel des Wohnorts – wird durch die Kombination mit der Metapher des Hintergrunds vom tatsächlichen Erfahrungsbezug der bezeichneten Person entkoppelt und stattdessen genealogisch an die Erfahrung eines Vorfahren gebunden (Utlu, 2011, S. 445).

Des Weiteren lässt sich Migration als „biografisch relevante Überschreitung kultu-rell, juristisch, lingual und (geo-)politisch bedeutsamer Grenzen“ definieren. Dabei geht es auch immer um die Festlegung der Grenze der nationalstaatlichen Gesell-schaft und ihren Umgang mit Differenz, Heterogenität und Ungleichheit (Castro Va-rela & Mecheril, 2010, S. 36).

Migrationshintergrund, ausgehend von Deutschland als Migrationsland, umfasst fol-gende heterogene Phänomene:

• Die/Der Betroffene lebt in Deutschland, ist dort aber nicht geboren, bringt also eigene Migrationserfahrungen mit.

• Die/Der Betroffene ist in Deutschland geboren, verfügt also nicht über eine eigene Migrationserfahrung, jedoch seine Eltern oder Großeltern (bezie-hungsweise Vorfahren im Allgemeinen). Dabei können sowohl ein Elternteil als auch beide aus einem anderen Land stammen (Castro Varela & Mecheril, 2010, S. 38).

• Die/Der Betroffene grenzt sich ethnisch oder kulturell von der Mehrheitsge-sellschaft ab. Sie/Er empfindet sich selbst aufgrund mangelnder Zugehörig-keitsgefühle zur Mehrheitsgesellschaft im Alltag als Mensch mit Migrations-hintergrund. Hierbei handelt es sich um eine Identifikation der/des Betroffenen (Castro Varela & Mecheril, 2010, S. 38).

• Die/Der Betroffene wirdethnisch oder kulturell abgegrenzt, ihr/ihm wird auf-grund bestimmter Merkmale ein Migrationshinterauf-grund zugeschrieben, zum Beispiel aufgrund eines „ausländischen“ Aussehens. Hierbei handelt es sich um eine Zuschreibung von außen (Mecheril, 2010c, S. 17). Zuschreibungen dieser Art können unter anderem durch Mitglieder der Mehrheitsgesellschaft vorgenommen werden oder aber auch durch Mitglieder einer Minderheiten-gruppe. Auch Medien können dabei eine Rolle spielen. Diskriminierung gilt dabei als negativ konnotierte Extremform einer Zugehörigkeitszuschreibung zu einem Minderheitenkollektiv (Castro Varela & Mecheril, 2010, S. 38;

Haußer, 1995, S. 173-186).

3.2 Migrationshintergrund und Staatsangehörigkeit

Migrationshintergrund kann also sehr verschiedene Sachverhalte beschreiben und sowohl eine tatsächliche eigene oder familiäre Migration meinen als auch auf vor-wiegend kognitiver oder emotionaler Ebene stattfinden. Diese Ebenen werden auch in unterschiedlichen Identitätstheorien berücksichtigt (siehe 3.3 Identität). Nicht zwingend muss die Tatsache eines Migrationshintergrundes Einfluss auf die Identifi-zierung des Betroffenen nehmen. Das wird später auch bei meiner Studie zu be-rücksichtigen sein, weil unterschiedliche „Arten des Migrationshintergrundes“ Aus-wirkungen auf die Frage nach der Identifizierung, dem Geschichtsbewusstsein und der Tradierung nehmen können (siehe 5 Ergebnisse).

Mecheril beschäftigt sich daneben nicht nur mit dem Terminus des Migrationshin-tergrundes, sondern fragt nach der „Migrationsgesellschaft als Ganzes“ und de-finiert auch diesbezüglich verschiedenartige Phänomene. Diese Sichtweise hat den Vorteil, Menschen mit Migrationshintergrund nicht in den alleinigen Fokus zu stellen und somit Auswirkungen in beide Richtungen, auch Veränderungen der Mehrheits-gesellschaft durch die Migration zu berücksichtigen, was vor allem durch die Globa-lisierung immer wichtiger wird. Besonders zu berücksichtigen ist hierbei meiner An-sicht nach der Aspekt der „hybriden Identitäten“2, der eine „neue Identität“ durch die kulturelle Vermischung beschreibt. So formuliert Mecheril als Aspekte der „Mi-grationsgesellschaft als Ganzes“:

Phänomene der Ein- und Auswanderung sowie der Pendelmigration

Formen regulärer und irregulärer Migration

Vermischung von Sprachen und kulturellen Praktiken als Folge von Wanderungen

Entstehung von Zwischenwelten und hybriden Identitäten

Phänomene der Zurechnung auf Fremdheit

Strukturen und Prozesse alltäglichen Rassismus

Konstruktionen des und der Fremden

Erschaffung neuer Formen von Ethnizität

migrationsgesellschaftliche Selbstthematisierungen: Diskurse über Migration oder die

»Fremden« (Mecheril, 2010c, S. 11).

Obwohl ich mich Mecherils Ansicht der Migration als gesamtgesellschaftliches Phä-nomen anschließen möchte, werde ich mich in meiner Forschung dennoch vorwie-gend auf die Migrant*innen selbst beziehen und den Einfluss der Aufnahmegesell-schaft allenfalls in Fremdzuschreibungen erfassen, die von den Gesprächs-partner*innen beschrieben werden.

Wertungen

Generell kann der Aspekt des Migrationshintergrundes sowohl positiv als auch ne-gativ konnotiert sein. Mecheril spricht von „guten“ und „schlechten“ Migrant*innen:

Während die „Guten“ etwas zum Wohlstand der Gesellschaft beitragen,

verbrau-2. Der Aspekt der „Hybridität“ geht auf Bhabha (1990) (zit. n. Hintermann, 2007, S. 484).

chen die „Schlechten“ „unsere“ Ressourcen (2010c, S. 10; Mecheril, Thomas-Olal-de, Melter, Arens & Romaner, 2013, S. 31).

Oftmals schwingt im Begriff des Migrationshintergrundes aber eine vermutete oder zugeschriebene Abweichung von Normalitätsvorstellungen im Hinblick auf Bio-graphie, Identität und Habitus mit (Castro Varela & Mecheril, 2010, S. 38).

Ich möchte dem Aspekt des Migrationshintergrundes neutraler begegnen und wie oben beschrieben die Migration als eine mögliche Lebenserfahrung, die auf Identität und Geschichtsbewusstsein einwirken kann, verstehen und damit auch nicht von ei-ner Abweichung von Normalität ausgehen.

Verschiedene Migrant*innengenerationen

Immer wieder wird auf die verschiedenen Generationen von Migrant*innen einge-gangen (unter anderem auch Baros, 2015), die sich deutlich unterscheiden können.

In meiner Studie befrage ich bevorzugt die zweite und dritte Migrationsgeneration.

Die erste Generation wird als hochproduktiv im produzierenden Gewerbe beschrie-ben. Diese Gruppe ist heutzutage durch den Wandel der Wirtschaft von einer hohen Arbeitslosigkeit betroffen. Sprachlich, kulturell und religiös ist diese Gruppe von Mi-grant*innen meist stark im Herkunftsland verankert (Alavi, 1998, S. 20).

Bei der zweiten Generation liegt bereits eine ganz andere Lebenssituation vor: Oft kamen sie als Kinder nach Deutschland und besuchten in Deutschland die Schule.

Damit müssen sie sich im Besonderen mit den verschiedenen kulturellen Bezugs-systemen auseinandersetzen. Oft wuchsen sie zweisprachig auf. Sie stellen rechtli-che Forderungen an das deutsrechtli-che System, streben zum Beispiel nach Gleichstel-lung oder beruflicher Förderung und nehmen umgekehrt oftmals eine Benach-teiligung wahr (Alavi, 1998, S. 22-24). Auch in der Schule kann dies eine Rolle spie-len, wenn sich türkischstämmige Kinder und Jugendliche in sogenannten „Türken-klassen“ zusammenfinden, ihnen damit häufig aber der Übergang in Regelklassen, das Sprachlernen und die Sozialisierung besonders erschwert werden (Alavi, 1998, S. 40). Das spricht auch einer meiner befragten Väter an (siehe 5.1.5 Fallbeispiel A:

„Also ich bin ja Türke.“ (A1)).

Die dritte Generation besitzt oft den deutschen Pass und ist in Deutschland soziali-siert. Oft wird die Herkunftssprache nicht mehr beherrscht, die Distanz zum Herkunftsland wird immer größer. Sicherlich gibt es aber auch Ausnahmen (Alavi, 1998, S. 26). Koç (2009, pp. 114-115) schreibt vor allem der zweiten und dritten Mi-grationsgeneration ein Gefühl von „Heimatlosigkeit“ zu.

Generell muss auch hier die Homogenisierung der Migrationsgenerationen kritisch betrachtet werden (Baros, 2015, S. 162, S. 167).

Mögliche Migrationsursachen

Es soll noch auf verschiedene Ursachen/Arten von Migration eingegangen werden.

Die Befragten meiner Studie kamen hauptsächlich im Rahmen der Arbeitsmigration nach Deutschland (einzige Ausnahme ist die polnischstämmige Familie C).

3.2 Migrationshintergrund und Staatsangehörigkeit

Zunächst beschreibt Mecheril Völkerwanderungen als einen gewöhnlichen Prozess und eine Antriebsquelle gesellschaftlichen Wandels (2013, S. 9-10), Alavi spricht von einem „historischen[n] Normalfall“ statt von „eine[r] Ausnahmeerscheinung“

(1998, S. 7). Im Allgemeinen stellen meist unbefriedigende oder aber auch existenz-bedrohliche Zustände, Entbehrungen, Krankheit oder Tod Ursachen für Völkerwan-derungen dar. Dabei können auch das Klima, eine mangelnde Bodenqualität oder eine Zunahme der Bevölkerung als ökologische Faktoren ausschlaggebend sein oder Sogfaktoren anderer Länder zu einem Verlassen des Herkunftslandes beitra-gen (Wenzel, 2004, S. 117).

Castro Varela und Mecheril (2010, S. 26-28, S. 31, S. 33) formulieren folgende Ursa-chen einer Migration:

Aus- und Übersiedlung: Aussiedler*innen sind deutscher Abstammung aus Osteuropa, Übersiedler*innen sind Menschen, die während der deutschen Teilung zwischen DDR und BRD umsiedelten.

Arbeitsmigration: Unter der Arbeitsmigration versteht man die Migrations-bewegung nach dem Zweiten Weltkrieg, die zum sogenannten Wirtschafts-wunder verhalf. Die Arbeitsmigration schafft einen Ausgleich zu wichtigen Veränderungen der damaligen Zeit, nämlich der Einführung der Bundes-wehr, der Arbeitszeitverkürzung, dem Eintritt geburtenschwacher Jahrgänge ins Berufsleben, dem Zuzugsstopp der Zuwanderung von Frauen und Män-nern aus der DDR nach dem Mauerbau und dem Rückzug von Frauen aus dem Erwerbsleben.

Irreguläre Migration: Dies beschreibt eine illegitime Grenzüberschreitung, was dazu führt, dass die Betroffenen keine Rechte im Land besitzen, unter anderem nicht arbeiten dürfen und nicht krankenversichert sind.

Flucht (nach 1945): Flüchtlinge sind Menschen, die nach Deutschland kom-men, um Schutz vor Krieg, Androhung von Gewalt oder religiöser, kultureller oder politischer Unterdrückung suchen (gemäß der Genfer Flüchtlingskon-vention,Verabschiedung 1951/Inkrafttreten 1954).