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3.5 Intrafamiliäre Tradierung und schulische Vermittlung von Geschichte

3.5.3 Assmanns Theorie des „kollektiven Gedächtnisses“ und der Aspekt der

Zentral sind im Folgenden die Ausführungen Assmanns aus seinem Werk „Das kul-turelle Gedächtnis“ (2000). Dieser nimmt wiederum Bezug auf Halbwachs‘ Konzep-tion eines „kollektiven Gedächtnisses“. Das „kollektive Gedächtnis“, das in ein

„kommunikatives“ und ein „kulturelles“ unterteilt werden kann, lässt sich von einem

„individuellen“ abgrenzen.

Abbildung 3.10: Überblick „individuelles“ und „kollektives Gedächtnis“

Halbwachs‘ Verständnis eines „kollektiven Gedächtnisses“, das er in seinen Werken

„La Mémoire Collective“ (1950) und „Das kollektive Gedächtnis“ (1967) beschreibt, fasst Wischermann in folgenden Thesen zusammen:

• „Die individuelle Erinnerung ist immer in ein ,kollektives Gedächtnis‘ einge-bunden, d.h. unter anderem, daß erst die Rekonstruktion des sozialen Um-feldes Vergessenes wiederherstellen kann.“ (zit. n. Wischermann, 1996, S. 61).

• „Das ,kollektive Gedächtnis‘ ist eine gelebte, kontinuierliche Denkströmung, der gegenüber das historische Gedächtnis eine absichtsvolle, selektive An-ordnung der Gesamtheit der Vergangenheit darstellte“ (zit. n. Wischermann, 1996, S. 61).

• „Die historische Zeit ist eine artifizielle Zeit, die dem gelebten ,kollektiven Gedächtnis‘ nicht gleichzusetzen ist“ (zit. n. Wischermann, 1996, S. 61). „Hi-storie beginnt, wo Tradition und soziales Gedächtnis aufhören“ (Halbwachs, 1967, S. 103).

• „Gruppen [finden] ihr ‚kollektives Gedächtnis‘ innerhalb eines festliegenden räumlichen Bezugsrahmens [...], etwa eines Stadtteils, eines Wirtschaftsrau-mes oder eines RauWirtschaftsrau-mes gleicher Religion“ (zit n. Wischermann, 1996, S. 61-62).

Im „kollektiven Gedächtnis“ wird somit der Aspekt des Einflusses des sozialen Um-feldes betont sowie der Bezug zur Gegenwart, der sich auch im Begriff des Ge-schichtsbewusstseins wiederfindet.

Assmann beschreibt nun vier Gedächtnisarten, das „mimetische“, „das Gedächtnis der Dinge“, das „kommunikative“ und das „kulturelle“. Insbesondere soll auf die beiden letzteren Formen als Unterformen des „kollektiven Gedächtnisses“ einge-gangen werden. Halbwachs und Assmann betonen damit gesellschaftliche und kul-turelle Rahmenbedingungen (Assmann, 2000). Das „kollektive Gedächtnis“

beinhal-3.5 Intrafamiliäre Tradierung und schulische Vermittlung von Geschichte

tet eine Zuordnung zu einer entsprechenden Gruppe und hat somit dann auch wiederum mit Identität zu tun. Daneben schließt es auch persönliche Erinnerungen mit ein (Halbwachs, 1985, S. 200-201; Halbwachs, 1967, S. 12). Wichtige Gruppen können dabei unter anderem die Familie sein oder auch eine ganze Nation (Halb-wachs, 1985, S. 203; Halb(Halb-wachs, 1967, S. 64). Es kann mehrere Kollektivgedächt-nisse in einer Person geben (aber nur eine Historie) (Assmann, 2000, S. 42-45).

Gegenüberstellung des „kommunikativen“ und des „kulturellen Gedächt-nisses“

Das „kommunikative Gedächtnis“ umfasst alle Inhalte, die nur im Austausch mit an-deren entstehen. Es befasst sich vor allem mit der jüngsten Vergangenheit. Das

„kulturelle Gedächtnis“ beinhaltet die Überlieferung eines Sinns, es geht hier also um eine kulturelle Sinnbedeutung (Assmann, 2000, S. 20-21, S. 48), um die Überlie-ferung des Ursprungs. Dazwischen bleibt eine unbesetzte Lücke (Assmann, 2000, S. 48).

Das „kommunikative Gedächtnis“ beschreibt die mündliche Tradierung lebendiger alltäglicher Erinnerungen von Generation zu Generation. Durch die Mündlichkeit ist das „kommunikative Gedächtnis“ variationsfähig und zeitlich begrenzt. Es kann nur solange fortbestehen, wie es seine Träger gibt beziehungsweise es von diesen wei-tergetragen wird. Man geht von drei bis vier Generationen beziehungsweise einem ungefähr 80 Jahre umfassenden Prozess aus (Assmann, 2000, S. 20, S. 50-52).

Das „kulturelle Gedächtnis“ basiert auf speziellen Trägern und nutzt Medien wie zum Beispiel Bücher. Es stellt damit eine länger bestehende „Außendimension“ dar (Assmann, 2000, S. 20). Gerade die Verschriftlichung birgt aber auch das Risiko des Vergessens, beispielsweise durch den Druck, immer wieder Neues erschaffen zu müssen. Ähnlich wie beim „kommunikativen Gedächtnis“ geht es auch beim „kultu-rellen“ um erinnerte und nicht um faktisch einwandfreie Geschichte(n) (Assmann, 2000, S. 52-53). Darauf wird später auch unter dem Aspekt des „Wahrheitsgehal-tes“, der wiederum für die Identitätsbildung wichtig sein kann, eingegangen (siehe 5.3.2 Exkurs „Wahrheitsgehalt“; 5.1 „In-Geschichte-verstrickte“ Identifizierung). An-teil am „kulturellen Gedächtnis“ lässt sich auch durch persönliche Anwesenheit bei bestimmten Anlässen, Festen oder Riten nehmen. Diese liefern oft identitätsrelevan-te Informationen (Assmann, 2000, S. 55, S. 57-58).

In der folgenden Tabelle, die aus Assmanns Werk „Das kulturelle Gedächtnis“

(2000) übernommen wurde, sollen das „kommunikative“ und das „kulturelle Ge-dächtnis“ noch einmal gegenüber gestellt werden:

Tabelle 3.4: Assmanns Ausführungen zum „kommunikativen“ und „kulturellen Gedächtnis“ (2000, S. 56)

kommunikatives Gedächtnis kulturelles Gedächtnis Inhalt Geschichtserfahrungen im Rahmen

in-dividueller Biographien

mythische Urgeschichte, Ereignisse in ei-ner absoluten Vergangenheit

Formen informell, wenig geformt, naturwüch-sig, entstehend durch Interaktion, Alltag

gestiftet, hoher Grad an Geformtheit, ze-remonielle Kommunikation, Fest

Medien lebendige Erinnerung in organischen Gedächtnissen, Erfahrungen und Hörensagen

feste Objektivationen, traditionelle sym-bolische Kodierung/Inszenierung in Wort, Bild, Tanz

Zeitstruktur 80-100 Jahre, mit der Gegenwart mit-wandernder Zeithorizont von drei bis vier Generationen

absolute Vergangenheit einer mythi-schen Urzeit

Träger unspezifisch, Zeitzeugen einer Erinnerungsgemeinschaft

spezialisierte Traditionsträger

Eine besondere Form des „kollektiven Gedächtnisses“ ist das Familiengedächtnis.

Es stellt eine Form einer Erinnerungsgemeinschaft dar. Gerade in der Familie stellt sich auch die Frage nach der Funktion der Tradierung: Wurde etwas absichtsvoll und wenn ja mit welcher Vermittlungsabsicht weitergegeben oder nur beiläufig, viel-leicht sogar unbewusst (Moller, 2010, S. 89)? Sicherlich steht hinter einer Weiterga-be immer die Absicht, etwas nicht vergessen zu lassen (Moller, 2010, S. 90) und kann damit auch für die eigene Identität und das Selbstverständnis zentral sein.

Wichtig dabei ist nicht nur die kognitive Wissensvermittlung, sondern insbesondere auch eine emotionale Ebene (Levy, 2010, S. 99; Knigge, 2010, S. 11). Dass dies wiederum in der Familie eine wichtige Rolle spielen kann, darauf gehe ich auch in meiner Studie ein (siehe 5.3 Intrafamiliäre Tradierung und schulische Vermittlung von Geschichte).

Aus sozialkonstruktivistischer Sicht sind Geschichten, die sich die Mitglieder in Sys-temen gegenseitig immer wieder erzählen, ein wichtiger Gedächtnisspeicher der Systeme. Sie sind Teil der permanenten Wiederherstellung einer Systemidentität:

„Wir werden nicht einfach in unsere Familie hineingeboren, sondern in die Ge-schichten unserer Familie [...]. FamiliengeGe-schichten werden erzählt, um die Mitglie-der Mitglie-der Familie an die von Mitglie-der Familie gehegten Überzeugungen zu erinnern“ (Mc Goldrick, 2007, S. 60).

Damit handelt es sich beim „kollektiven Gedächtnis“ nicht einfach um einen Spei-cher, sondern um eine gemeinsame Art der Welt- und Vergangenheitsdeutung. Hier liegt dann die Verbindung zur Tradierung oder auch zur gemeinsamen Verfertigung von Geschichte, so wie sie von den Forschungsgruppen um Welzer noch beschrie-ben wird (siehe3.5.4 Die Forschungsgruppen um Welzer und die Frage nach der in-trafamiliären Tradierung von Geschichtsbewusstsein bezüglich des Zweiten Weltkriegs).

3.5 Intrafamiliäre Tradierung und schulische Vermittlung von Geschichte

Exkurs Erinnerung

Abschließend soll noch auf den Begriff der Erinnerung eingegangen werden, der eine Verbindung zwischen den Bereichen Identität, Geschichtsbewusstsein und Tradierung herstellt. Knigge versteht unter Erinnerung ein Identität und Gemein-schaft stiftendes Erzählen der Vergangenheit (2010, S. 12). Erinnerung geht (in Ab-grenzung zur Tradition) von einer Diskontinuität zwischen dem Heute und dem Da-mals aus: Vergangenheit entsteht durch die wahrgenommenen Unterschiede zwi-schen damals und heute. An die Vergangenheit lässt sich zurückdenken und sie kann zur heutigen Situation sinnhaft in Bezug gesetzt, das heißt rekonstruiert und damit wiederbelebt werden (Assmann, 2000, S. 31-34, S. 40-42, S. 64, S. 99). Erin-nerungen inkludieren auch Transformationen, die vergangene Ereignisse im Heute verändern, im Idealfall sogar wieder gut machen können (Assmann, 2000, S. 83-84).

Erinnerungen sind immer konkret und beziehen sich auf ganz bestimmte Personen, Orte, Zeiten und Ereignisse (Assmann, 2000, S. 38-39). Schließlich geht Erinnerung mit einer gewissen Bedeutsamkeit einher: „Nur bedeutsame Vergangenheit wird er-innert, nur erinnerteVergangenheit wird bedeutsam“ (Assmann, 2000, S. 77). Wich-tig für Erinnerungen ist die kommunikative Teilhabe an verschiedenen Gruppen und damit der Erwerb verschiedener Rahmen für die Erinnerung, so dass sie nur durch Sprache und Kommunikation möglich wird (Moller, 2010, S. 86-87). „Erinnerbar ist nur das, was im (persönlichen, medialen oder gedanklichen) Austausch mit anderen mitteilbar ist“ (Moller, 2010, S. 85).

Der Begriff„kollektives Gedächtnis“ könnte fälschlicherweise über die Tatsache hin-wegtäuschen, dass Gedächtnis und Erinnerung immer dem einzelnen Individuum zuzurechnen sind. Assmann möchte lediglich den sozialen Einfluss auf das Ge-dächtnis und die Erinnerung des Einzelnen betonen. Assmanns Theorie des „kollek-tiven Gedächtnisses“ und seine Unterscheidung in ein „kommunikatives“ und ein

„kulturelles“ beschreibt Möglichkeiten von Tradierungs- oder Weitergabeprozessen und stellt damit eine wichtige Grundlage für meine Studie dar. Assmann betont ähn-lich wie auch Tajfel und Turner den sozialen Rahmen für die eigene Identität, das Geschichtsbewusstsein und den Weitergabeprozess (siehe 3.3.5 Theorie der sozia-len Identität nach Tajfel und Turner). Familie und Nation stelsozia-len dabei besonders re-levante Kollektive in meiner Studie dar. Auch ich werde später auf Aspekte zu spre-chen kommen, die dem „kommunikativen“ versus dem „kulturellen Gedächtnis“

zuzuordnen sind. Sicherlich spielt innerhalb der Familie die Weitergabe eigens er-lebter Geschichte eine wichtige Rolle. Es kann aber auch ein kommunikativer Aus-tausch über andere geschichtliche Themen, in die weder Kinder- noch Elterngene-ration involviert war, stattfinden. Umgekehrt können biographische Ereignisse nicht nur im „kommunikativen Gedächtnis“, sondern auch im „kulturellen“ eine Rolle spie-len (zum Beispiel, wenn Biographien von Zeitzeug*innen veröffentlicht werden). Da-mit verschwimmen auch die Anteile von mehr objektiver und mehr subjektiver Ge-schichtsvermittlung und die Zeitspannen, die dem „kommunikativen“ und dem

„kulturellen Gedächtnis“ zugeordnet werden. Darüber hinaus wird sich meine Studie ähnlich wie Assmanns Ausführungen auch mit dem Einsatz von Medien (derer sich insbesondere das „kulturelle Gedächtnis“ bedient) und dem „Wahrheitsgehalt“ be-fassen. Damit kann Assmanns Einteilung und Unterscheidung des

„kommunikati-ven“ und „kulturellen Gedächtnisses“ als Basis meiner Erhebung dienen und durch meine Ergebnisse im spezifischen Fall konkretisiert werden. Assmanns „kommuni-katives Gedächtnis“ wird in meiner empirischen Studie durch die Eltern der befrag-ten Jugendlichen abgebildet (und in indirekter Form durch die Großeltern, wenn von diesen im Gespräch erzählt wird), das „kulturelle Gedächtnis“ tritt ebenfalls inner-halb der Familie aber auch durch die Schule auf, was sich vor allem im Einsatz von Medien (zum Beispiel Museumsbesuche) zeigt (siehe siehe 5.3 Intrafamiliäre Tradie-rung und schulische Vermittlung von Geschichte).

3.5.4 Die Forschungsgruppen um Welzer und die Frage nach