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3.4 Geschichtsbewusstsein und Funktionen von Geschichte und

3.4.7 Liakovas und Halms Studie zu Geschichtsbewusstsein und Migration

Im Rahmen des Zentrums für Türkeistudien führen Liakova und Halm eine Studie zum Thema Geschichtsbewusstsein Jugendlicher mit Migrationshintergrund durch.

Die Forscher*innen stellen sich die Frage, ob das Zugehörigkeitsgefühl von der eth-nischen Herkunft geprägt wird, welche Rolle die Nationalgeschichte der Migrant*in-nen spielt und ob eine Integration der verschiedeMigrant*in-nen Anteile von Geschichtsbe-wusstsein, nämlich der „deutschen“ und der migrationsspezifischen stattfindet (Liakova & Halm, 2005, S. 12-13). Liakovas und Halms zugrundegelegtes Ver-ständnis von Geschichtsbewusstsein wird durch die folgenden Punkte charakterisiert:

Die Bedeutung der Geschichte im Allgemeinen

Die Bedeutung historischer Ereignisse und Personen

Die Bedeutung der historischen Verantwortung beziehungsweise Schuld in ihren individuel-len, kollektiven und generationsbezogenen Dimensionen

Die rationale und affektive Verbundenheit mit der, »vorgestellten Gemeinschaft« und ihren Symbolen (die Fahne, die Hymne) und dadurch die Stärke des Wir-Gefühls; der nationalbe-dingte Scham, der nationalbenationalbe-dingte Stolz

Die historische und soziale Positionierung von ›uns‹ und die Abgrenzung von den ›anderen‹

im sozialen Feld durch die Frage nach den Gewinnern und Verlierern in den Kriegen

Die soziale Positionierung nicht nur in Bezug auf die Vergangenheit, sondern auch auf die Gegenwart und die Zukunft (Liakova & Halm, 2005, S. 9).

Die Studie fragt nach der Bedeutung historischer Ereignisse, die von den For-scher*innen oder den Gesprächsteilnehmer*innen hervorgebracht werden. Es wird über die Themenkomplexe Nationalsozialismus, Holocaust, Zweiter Weltkrieg und Wiedervereinigung gesprochen, über Schuld und Verantwortung diskutiert, nach der Positionierung bezüglich Nationalfahne beziehungsweise -hymne sowie bezüglich des Zweiten Weltkriegs gefragt und auf Wünschenswertes bezüglich des Ge-schichtsunterrichts eingegangen (Liakova & Halm, 2005, S. 19-20). Es geht also im-mer um deutsche Geschichte und damit um eine nationale Prägung von Geschichtsbewusstsein.

Insgesamt werden vier Gruppendiskussionen mit Schulklassen an Berufskollegs im Raum Köln durchgeführt, mit je 13-16 Schüler*innen im Alter zwischen 17 und 23 Jahren (Liakova & Halm, 2005, S. 15). Die Befragten stammen aus verschiedenen Ländern, zum Beispiel aus der Türkei, aus Polen oder Italien. Zusätzlich werden auch Lehr*innen befragt. Liakova und Halm gehen hypothesengeleitet vor (Liakova

& Halm, 2005, S. 11). Sie stellen dabei folgende Hypothesen auf:

3.4 Geschichtsbewusstsein und Funktionen von Geschichte und Geschichtsvermittlung

• Das historische Bewusstsein wird durch die ethnische Zugehörigkeit determiniert.

• Das historische Bewusstsein wird durch die nationale Zugehörigkeit determiniert.

• Das historische Bewusstsein wird durch den Migrationsstatus geformt.

Liakova und Halm bestätigen die letzte und zum Teil auch die erste Hypothese.

Bei der Auswertung folgen die Autor*innen der formulierenden und reflektierenden Interpretation, der Diskursbeschreibung und der Typenbildung (Liakova & Halm, 2005, S. 15). Zudem werden sprachliche Figuren in Anlehnung an Wodak und Kol-leg*innen (1998) ausgewertet, zum Beispiel wird hier auf die Verwendung von Kon-struktionen wie „wir“ und „sie“ eingegangen. Generell wird analysiert, wie sich unter anderem durch Sprache verschiedene Aspekte der Zugehörigkeit (national, eth-nisch, kulturell) bezüglich des Geschichtsbewusstseins zeigen können. Dabei spie-len Selbst- und Fremdpositionierungen eine Rolle (Liakova & Halm, 2005, S. 11).

Auch ich nutze diese sprachliche Komponente zumindest in Grundzügen (siehe 5.1

„In-Geschichte-verstrickte“ Identifizierung). Als methodisches Instrument wird die soziolinguistische Diskursanalyse verwendet. Es werden Elemente des Analyse-schemas von Wodak und Kolleg*innen (1998) übernommen (Liakova & Halm, 2005, S. 6-9).

Liakova und Halm beschreiben eine Vielzahl von Strategien und entsprechenden sprachlichen Realisierungsmitteln. Sie gliedern in Strategien der Rechtfertigung und Relativierung, in konstruktive Strategien und in Destruktionsstrategien.

Zu den Strategien der Rechtfertigung und Relativierung gehören

• das Abschieben von Schuld und Verantwortung sowie

• die Verharmlosung,

zu den konstruktiven Strategien die Assimilation/Inklusion und Kontinuation.

Das Abschieben von Schuld und Verantwortung kann eine Absonderung meinen, eine Heteronomisierung oder eine Sündenbockstrategie beziehungsweise eine Op-fer-Täter-Umkehr. Die Verharmlosung umfasst die Betonung negativer Gleichheiten und Gemeinsamkeiten, Aufrechnungen, Diskontinuation, Verkleinerungsstrategien sowie die Legitimierung und Delegitimierung. Zu den konstruktiven Strategien der Assimilation/Inklusion und Kontinuation gehören die Betonung internationaler Gleichheit, positiver politischer Kontinuität beziehungsweise Negation von Diskonti-nuität, Solidarisierung, Appell, Betonung nationaler Einzigartigkeit sowie Transporta-tion und RedukTransporta-tion subnaTransporta-tionaler Einzigartigkeiten auf naTransporta-tionaler Ebene. Zu den De-struktionsstrategien gehören die Betonung von Fremdbestimmung, die Schwarz-Weiß-Malerei, die Betonung negativer nationaler Differenzen sowie die Betonung in-ternationaler Differenzen sowie die Diskontinuation (Liakova & Halm, 2005, S. 17-19). All diese Aspekte identifizieren Liakova und Halm durch entsprechende Realisierungsmittel (zum Beispiel Vergleiche, Ja-aber-Figuren, Analogien, Personifi-kationen, Metaphern, Zitate oder Imperative). Auf genauere Ausführungen soll an

dieser Stelle verzichtet werden und auf die Ausführungen von Liakova und Halm im Original verwiesen werden. Sie stellen zwar eine wichtige Basis für deren Arbeit dar, finden aber nur am Rande Eingang in meine Forschung, zum Beispiel, wenn ein sprachliches „wir“ versus „ihr“ eine Identifizierung anzeigt, Zitate verwendet wer-den, die für eine Tradierung sprechen oder verschiedenste Vergleiche angestellt werden. Darauf wird in der Auswertung immer wieder eingegangen (siehe 5 Ergebnisse).

Es wurde noch einmal ein Schaubild erarbeitet, das Liakovas und Halms Strategien einer Positionierung vorstellt. Auch hier wird auf die Ausführung der Realisierungs-mittel verzichtet:

Abbildung 3.9: Strategien zur Positionierung aus der Forschungsarbeit von Liakova und Halm (2005, S. 17-19)

Wie bereits erwähnt kommen zu den Schüler*innendiskussionen auch zwei Leh-rer*inneninterviews hinzu, um die Frage nach den Erwartungen an den Geschichts-unterricht auch aus deren Sicht aufzugreifen. Nach Einschätzung der Lehrkräfte (ohne Migrationshintergrund) unterscheidet sich die tradierte Geschichte der Fami-lien mit Migrationshintergrund deutlich von jenen ohne Migrationshintergrund dahin-gehend, dass der Geschichtsunterricht für Jugendliche mit Migrationshintergrund weniger relevant ist. Außerdem gehen die Lehrkräfte davon aus, dass das

Bildungs-3.4 Geschichtsbewusstsein und Funktionen von Geschichte und Geschichtsvermittlung

niveau der Eltern einen deutlichen Einfluss hat. Lehrkräfte empfehlen in erster Linie eine Sprachförderung als Grundlage für alles weitere und befürworten, auch auf die Geschichte der Herkunftsländer von den anwesenden Jugendlichen und auf ge-schichtliche Gemeinsamkeiten verschiedener Nationen im Unterricht einzugehen.

Das soll vor allem der Motivation dienen.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Studie den Zusammenhang zwischen dem historischen Bewusstsein und der ethnischen und nationalen Zugehörigkeit so-wie dem Migrationsstatus untersucht. Liakova und Halm finden heraus, dass das hi-storische Bewusstsein Jugendlicher mit versus ohne Migrationshintergrund sich deutlich voneinander unterscheidet. Die „deutsche Geschichte wird von den Mi-grantenjugendlichen als eine ›fremde‹ Geschichte empfunden“ (Liakova & Halm, 2005, S. 52). Sie wissen zwar darüber Bescheid, es findet aber keine emotionale Identifizierung statt. Ihr Nationalstolz bezieht sich auf die Herkunftsnation der Eltern und nicht auf das Land, in dem sie leben und aufgewachsen sind. Nicht nur der Mi-grationshintergrund bestimmt das Geschichtsbewusstsein, sondern auch die ethni-sche Zugehörigkeit. Dazu gehört der starke familiäre Einfluss durch die „Oral Histo-ry“, der vor allem für den identitätsstiftenden Aspekt wichtiger ist als eine offizielle Geschichtsvermittlung. Zugehörigkeit ergibt sich sowohl durch die eigene Posi-tionierung als auch durch die Zuschreibung von außen. Gerade zum Thema Zweiter Weltkrieg fühlen sich die befragten Jugendlichen doppelt fremd, zum einen auf-grund ihrer ethnischen, zum anderen aufauf-grund ihrer generationsspezifischen Zuge-hörigkeit. Es bleibt zu erwähnen, dass trotz der Unterschiede zwischen Jugendli-chen mit und ohne Migrationshintergrund auch Gemeinsamkeiten eine Rolle spielen. So finden Liakova und Halm heraus, dass den Jugendlichen der Anspruch gemeinsam ist, aus Geschichte Lehren ziehen zu können (2005, S. 55-56).

Dass auch ich in meiner Arbeit zum Teil zu ähnlichen Schlüssen komme, nämlich dass die Familie vor allem bezüglich der Identifizierung eine wichtige Rolle spielt, auch wenn es bei mir nicht um die geschichtliche Positionierung zum Zweiten Welt-krieg geht, darauf werde ich an anderer Stelle noch eingehen (siehe 5.3 Intrafamili-äre Tradierung und schulische Vermittlung von Geschichte). Die Befragten betonen eine „nationale“ Identifizierung. Dass die emotionale Komponente dabei zentral ist, darauf wurde bereits eingegangen und wird in der Auswertung erneut thematisiert werden (siehe3.3.3 Das Selbstkonzept nach Haußer; 5.1 „In-Geschichte-verstrickte“

Identifizierung). Auch ich frage nach Wünschen an den Geschichtsunterricht und analysiere das Zusammenspiel im Geschichtsbewusstsein aus Geschichte der Herkunfts- versus Aufnahmekultur. Im Vergleich zu meiner Studie unterscheidet sich die Forschung von Liakova und Halm in verschiedenen Punkten: Sie legen den the-matischen Schwerpunkt wie viele Studien auf die Zeit um den Zweiten Weltkrieg.

Sie befragen nicht nur Schüler*innen mit und ohne Migrationshintergrund, sondern auch Lehrkräfte. Sie legen den Schwerpunkt anders als ich nicht auf die intrafamili-äre Tradierung, sondern auf die schulische Vermittlung von Geschichte. Sie orientie-ren sich, zumindest teilweise, mehr an einer quantitativen Logik, indem sie Hypothe-sen formulieren und anhand des Datenmaterials testen. Außerdem präzisieren die Autor*innen den Interviewleitfaden durch einen Pretest, limitieren damit aber auch die Antwortmöglichkeiten. Sie nutzen eine soziolinguistische Auswertung, die bei

mir allenfalls rudimentär zum Tragen kommt, sicherlich aber interessante Aspekte aufwirft.