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3.2 Migrationshintergrund und Staatsangehörigkeit

3.2.3 Exkurs Migrationspädagogik

Es soll nun ein Exkurs in die Migrationspädagogik und deren Entwicklung im Laufe der Zeit gemacht werden. Im Anschluss daran wird auf das Thema des Migrations-hintergrundes im Schul- und im Forschungskontext eingegangen und insbesondere eine diesbezüglich kritische Reflexion meines eigenen Forschungsvorhabens vorgenommen.

Den Menschen mit Migrationshintergrund beziehungsweise der Migrationsgesell-schaft muss auch in Politik und GesellMigrationsgesell-schaft, insbesondere der Schule angemessen begegnet werden (Mecheril 2010c, S. 12). Das ist Aufgabe der Migrationspädagogik (Mecheril, 2010c, S. 16).

„Gegenstand der Migrationspädagogik sind die durch Migrationsphänomene bestä-tigten und hervorgebrachten Zugehörigkeitsordnungen und ist insbesondere die Frage, wie diese Ordnungen in Bildungskontexten wiederholt und produziert, aber auch problematisiert und verschoben werden“ (Mecheril, 2010c, S. 16). Hier wird also auch der Aspekt der Identität im Rahmen der Zugehörigkeitszuordnungen an-gesprochen. Auch darauf wird in meiner Studie Bezug genommen, wenn es um die geschichtliche Identifizierung vor allem der befragten Jugendlichen geht (siehe 5.1

„In-Geschichte-verstrickte“ Identifizierung).

Ich möchte kurz auf die Geschichte und Entwicklung der Bildungspolitik eingehen.

Die Bildungspolitik und Ausländerpädagogik stammt bereits aus der Zeit des Kai-serreichs von 1871-1918 beziehungsweise aus der Zeit der Weimarer Republik von 1918 bis 1933. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde sie dann wieder aufgenommen.

Zunächst wurde Deutschland eher als ein homogenes Gebilde betrachtet, das man gegenüber „den anderen“ abgrenzte. Gastarbeiter*innen wurden als „Problem“ be-trachtet (Torres, 2011, p. 60), das „Schlechte“ auf die „anderen“ projiziert und auf diese Weise eine eigene Identifizierung vorgenommen. Dies kann auch als Ausdruck der eigenen Angst, minderwertig zu sein, angenommen werden. Rassismus und An-tisemitismus werden zum Ausdruck kultureller Identitätsvergewisserungen

(Messer-schmidt, 2008, S. 46). Auf den Aspekt des „Othering“ wird gleich noch Bezug genommen.

In den 1970ern wurde dann auch in Deutschland die Diskussion um eine multikultu-relle Bildung laut. Homogenität räumte den Platz für Diversität, Vielfältigkeit und He-terogenität (Niedrig & Ydesen, 2011, pp. 9-10). Kulturelle Differenz und Identität wurden zum wichtigen Gut (Castro Varela & Mecheril, 2010, S. 50).

Es folgte die Richtung der Transmigration, bei der neue, transnationale Lebensräu-me entstanden und die gleichzeitige Verbundenheit zu verschiedenen national-kul-turellen Kontexten betont wurde (Castro Varela & Mecheril, 2010, S. 51; Mecheril, 2010b, S. 61). Migrant*innen wurden zu aktiven Subjekten, die den Migrationspro-zess mitgestalteten (Castro Varela & Mecheril, 2010, S. 52). Migration galt als „Mo-tor gesellschaftlicher Veränderung und Modernisierung“ (Mecheril, 2010c, S. 8).

Exkurs „Othering“

Es soll noch auf den Begriff des „Othering“ eingegangen werden. Er entstammt postkolonialen Diskursen (Niedrig & Ydesen, 2011, p. 14). Der Begriff des „Othe-ring“ betont, dass Unterschiede zwischen Menschen und die Gruppe der „anderen“

erst durch den Diskurs an sich entstehen und damit künstlich erzeugt sind (Tho-mas-Olalde & Velho, 2011, pp. 28-29). Ein einzelnes Subjekt hängt immer auch von anderen ab, gehört immer zu einem bestimmten Kollektiv, indem Generalisierungen und Homogenisierungen mit der eigenen Gruppe vorgenommen werden und Ab-grenzungen zu wiederum anderen Kollektiven stattfinden. Auch die positive Konno-tierung des eigenen Selbst und der eigenen Gruppe ist ein üblicher Vorgang (Tho-mas-Olalde & Velho, 2011, pp. 30-32). Darauf werde ich vor allem noch bei der Darstellung der Theorie der sozialen Identität nach Tajfel und Turner eingehen (siehe 3.3.5 Theorie der sozialen Identität nach Tajfel und Turner).

Zugehörigkeiten zu Kollektiven und Abgrenzungen von anderen Kollektiven stellen damit einen üblichen Prozess dar und haben nicht in erster Linie mit einem Migra-tionshintergrund zu tun, auch wenn dieser dabei bedeutsam werden kann. Auch ist nicht vorrangig von einem diskriminierenden Vorgehen auszugehen, sondern von ei-nem üblichen Prozess der Zugehörigkeitszuordnung und eigenen Identifizierung.

Migrationspädagogik im Bereich der Schule

In der Schule gilt zunächst eine Gleichartigkeitsnormalität, die jede Differenz und Heterogenität als Störung auffasst (Mecheril, 2010b, S. 55, Fava, 2004, S. 10).

Durch die Schlechterstellung der Migrationsanderen könnte so auch eine „nationa-le“ Identifizierung mit dem Herkunftsland, zum Beispiel mit der Türkei, unterstützt werden (Dirim & Mecheril, 2010, S. 121-149). Wahrscheinlich ist das vor allem auf-grund der praktisch vorherrschenden Bedingungen des Schulunterrichts nicht an-ders möglich (zum Beispiel durch festgesetzte Lehrpläne, die grundsätzlich nicht auf die individuell vorliegenden Voraussetzungen und Bedürfnisse der in einem Klas-senzimmer zusammenkommenden Schüler*innen abgestimmt sind und so auch nicht auf die Herkunftsgeschichten von Migrant*innen eingehen). Manche Autoren sprechen von einer institutionellen Diskriminierung (Melter & Karayaz, 2013, S. 246).

3.2 Migrationshintergrund und Staatsangehörigkeit

Umgekehrt wäre es meiner Ansicht nach aber auch denkbar, dass der Schulunter-richt zu einer „deutschen“ Identifizierung beitragen könnte, vor allem wenn es um das Fach Geschichte geht, wenn die Herstellung einer emotionalen Verbindung zu Kindern und Jugendlichen erreicht werden kann und sie für die Inhalte des Ge-schichtsunterrichts begeistert werden können. Die Einflüsse von Schule und Familie auf die Identitätsbildung und das Geschichtsbewusstsein Jugendlicher zu analysie-ren, setzt sich meine Forschungsarbeit zum Ziel.

Von der Schule wird gefordert, dass sie vor allem Mehrfachzugehörigkeiten von Schüler*innen ernst nehmen solle (Dirim & Mecheril, 2010, S. 132). Alavi beschreibt Fremdverstehen explizit als didaktische Aufgabe des Geschichtsunterrichts und geht auf die Wichtigkeit einer Anpassung und Optimierung des Geschichtsunter-richts hin zu einer kulturellen Öffnung ein (unter anderem mit den Zielen des Trai-nings eines Perspektivwechsels und des Ertragens von Ambivalenz zwischen dem Eigenen und dem Fremden (2004, S. 28-29). Damit formuliert Alavi Funktionen von Geschichte und Geschichtsvermittlung, die der Schule zugeordnet werden können, worauf ich insbesondere auch in meiner Studie eingehen möchte und die explizit mit der Tatsache der Migration in Zusammenhang stehen (siehe 5.2 Funktionen von Geschichte und Geschichtsvermittlung; 5.3 Intrafamiliäre Tradierung und schulische Vermittlung von Geschichte).

Migrationspädagogik im Bereich der Forschung

In der Forschung etablieren sich vor allem zwei Forschungsrichtungen: Während die eine Richtung jede Art der Kulturalisierung und der Ethnifizierung des Begriffs Kultur kritisiert, geht die andere Richtung auf damit verbundene Gefahren im Bereich der Bildung ein (Torres, 2011, p. 62). Daraufhin entwickelt sich eine neue Pädagogik der Anerkennung: Es steht nun die gesamte Gruppe mit den unterschiedlichsten sozia-len Lebens- und Lernbedingungen im Fokus und erfasst somit die Heterogenität als Normalität des Alltags (Torres, 2011, p. 64).

Wie kann/soll nun die Wissenschaft mit dem Thema des Migrationshintergrundes umgehen? Sicherlich macht sich auch die Wissenschaft mitschuldig, Unterschiede zwischen der Mehrheitsgesellschaft und Menschen mit Migrationshintergründen zu konstruieren. Dabei wird der Wissenschaft oft vorgeworfen, dass sie Migration als etwas zwangsläufig Besonderes und Ungewöhnliches ansehe, was aber immer Teil der Menschheitsgeschichte gewesen sei (Mecheril, Thomas-Olalde, Melter, Arens &

Romaner, 2013, S. 9-12, S. 18). Oft werden Gruppen von Migrant*innen mit den

„Einheimischen“ verglichen und so eine künstliche Heterogenität zwischen den Gruppen und eine gleichzeitige künstliche Homogenität innerhalb einer Gruppe kon-struiert (Mecheril, Thomas-Olalde, Melter, Arens & Romaner, 2013, S. 16-18).

Auch meine Studie stellt Menschen mit türkischem Migrationshintergrund in das In-teresse der Forschung und nimmt damit eine gezielt vorgenommene Schwerpunkt-setzung vor. Damit unterstelle zunächst auch ich eine Unterscheidbarkeit von Men-schen mit und ohne Migrationshintergrund bezüglich der Themen Identifizierung, Geschichtsbewusstsein und Vermittlung von Geschichte in Familie und Schule.

Fava spricht von einer Differenzierung durch die Sprechermächtigung Migrationsan-derer (siehe 3.5.5 Favas rassismuskritische Diskursanalyse zur Erziehung nach

Auschwitz in der Einwanderungsgesellschaft). Mein Versuch ist es, diesen Vorwurf abzuschwächen, indem ich mein besonderes Augenmerk nicht auf den Migrations-hintergrund lege, sondern auf die einzelnen befragten Menschen an sich (die dann lediglich als eine zu berücksichtigende Eigenschaft einen Migrationshintergrund mit-bringen) (Mecheril, Thomas-Olalde, Melter, Arens & Romaner, 2013, S. 17). Ich halte es für plausibel, dass der Migrationshintergrund als ein Merkmal von vielen einen Einfluss auf das Geschichtsbewusstsein haben kann, das aber nicht muss und ich betrachte es als eine empirisch zu klärende Aufgabe, zu rekonstruieren, in welchen Hinsichten diese Kategorie von Bedeutung sein kann. An dieser Stelle soll auf die Identitätstheorie von Keupp verwiesen werden, die noch vorgestellt wird: Er greift verschiedene Lebensbedingungen, darunter auch Migrationsbewegungen, als Be-dingungen des heutigen Lebens in seiner Theorie auf und geht auf die Frage ein, wie es Jugendliche trotz der ambivalenten Anforderungen der heutigen Zeit schaffen, ein Gefühl von Kohärenz und Authentizität sowie eine Handlungsfähigkeit entstehen zu lassen (siehe 3.3.4 Theorie der Patchworkidentität nach Keupp). An-ders als im ersten Moment anzunehmen ist, möchte ich durch die Befragung tür-kischstämmiger Familien vor allem aber auch Aspekte bezüglich der Forschungs-themen beleuchten, die eben gerade migrationsunspezifisch sind. Das wird durch einen Vergleich bereits vorhandener Studien zu ähnlichen Themen (wie zum Beispiel Kölbls Arbeit zum Thema Geschichtsbewusstsein Jugendlicher ohne Migrationshin-tergrund (siehe3.4.5 Kölbls Studien zum Geschichtsbewusstsein im Jugendalter mit und ohne Migrationshintergrund: Verwissenschaftlichtes Geschichtsbewusstsein versus „In-Geschichte-verstrickt“) möglich. Ergänzend soll erwähnt werden, dass, wenn es um die Frage der Vermittlung von Geschichte (Schule versus Familie) geht, die Befragung Jugendlicher mit Migrationshintergrund den Vorteil mit sich bringt, dass sich beide Quellen von Geschichte vermutlich deutlicher voneinander abgren-zen lassen, da türkische Geschichte im deutschen Schulunterricht nicht als Schwer-punktthema vorgesehen ist, ein vorhandenes Geschichtswissen der Jugendlichen diesbezüglich also aus einer anderen Quelle (naheliegend ist hier die Familie) stam-men muss.