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3.4 Geschichtsbewusstsein und Funktionen von Geschichte und

3.4.8 Hintermanns Studie zum Thema Geschichtsbewusstsein und

Geschichtsbewusstsein und Identitätskonstruktionen bei Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund

Hintermann führt ihre Studie zum Thema Geschichtsbewusstsein und Identitätskon-struktionen Jugendlicher mit Migrationshintergrund in Wien durch. Es geht dabei um einen Vergleich von in Österreich lebenden Menschen mit und ohne Migrations-hintergrund und ihrem historischen Bewusstsein beziehungsweise ihren Identitäts-konstruktionen im Hinblick auf die Geschichte Österreichs (Hintermann, 2007, S. 477). Der Großteil der befragten Jugendlichen mit Migrationshintergrund stammt aus dem früheren Jugoslawien (23 Prozent der Befragten) und der Türkei (acht Pro-zent der Befragten) und ist meist der zweiten in Österreich lebenden Generation zu-gehörig (Hintermann, 2007, S. 480-481). Auf die Unterschiede, die den verschiede-nen Migrations-Generatioverschiede-nen zugeschrieben werden, wurde bereits an anderer Stelle eingegangen (siehe3.2.1 Migrationshintergrund – ein Sammelbegriff für unter-schiedliche Phänomene).

Hintermann nutzt einen Fragebogen zur Datenerhebung (vier Monate Erhebungs-zeitraum von November 2005 bis Februar 2006) und stellt damit eine der wenigen hier herangezogenen quantitativen Grundlagen dar. Sie führt ihre Befragung an be-rufsbildenden höheren Schulen, bebe-rufsbildenden mittleren Schulen und Oberstufen allgemeinbildender höherer Schulen durch. Insgesamt nehmen 1332 Schüler*innen teil, davon 626 mit Migrationshintergrund. 61 Klassen, 16 Schulstandorte und 13 Wiener Bezirke finden Eingang in die Studie. Die Schüler*innen sind zwischen 14 und 20 Jahren alt. Interesse am Thema sowie an der Fragebogenerhebung sind Voraussetzung. Die damit verbundene „Problematik“ einer Verzerrung wurde bereits an anderer Stelle thematisiert (siehe 3.4.6 Georgi: Geschichtsbewusstsein Jugendli-cher mit Migrationshintergrund und historisch geprägte Positionierungen zum The-ma Nationalsozialismus). TheThe-matisch geht es um geschichtliche Ereignisse, die mit der NS-Zeit, dem Holocaust und der Nachkriegszeit Österreichs in Verbindung ste-hen. Außerdem wird auch das Ereignis der Belagerung Wiens durch die „Türk*in-nen“ explizit aufgegriffen (Hintermann, 2007, S. 485-487) (siehe 3.1.1 Geschichte des Osmanischen Reichs). Zentrale untersuchte Aspekte sind Unterschiede im his-torischen Bewusstsein Jugendlicher mit und ohne Migrationshintergrund, die gesell-schaftlichen Instanzen, die Deutungshohheit über politische und historische The-men besitzen (also zum Beispiel Schule oder Eltern), die Identitätswirksamkeit österreichischer Geschichte für Jugendliche mit Migrationshintergrund sowie territo-riale Zugehörigkeitsgefühle und historisches Bewusstsein (Hintermann, 2007, S. 477).

Hintermann erfährt durch ihre Studie, dass die Unterschiede zwischen Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund relativ gering sind und zieht den Schluss, dass

3.4 Geschichtsbewusstsein und Funktionen von Geschichte und Geschichtsvermittlung

der Schule eine relativ hohe Deutungsmacht innewohnt, räumt aber dennoch auch Familie und Medien einen wichtigen Stellenwert ein (Hintermann, 2007, S. 478-485, S. 495-496). Auf diese Bereiche, nämlich Schule und Familie, werde auch ich im Besonderen eingehen.

Des Weiteren geht Hintermann von einem hybriden Geschichtsbewusstsein Ju-gendlicher mit Migrationshintergrund aus (Hintermann, 2007, S. 478, S. 482, S. 490, S. 496), was zum Ausdruck bringen soll, dass die Jugendlichen sowohl eine Bezie-hung zur österreichischen Geschichte herstellen als auch zum Herkunftsland der Familie. Damit lehnt sie die Hypothese einer inneren Zerrissenheit von Menschen mit Migrationshintergrund bezüglich der eigenen Identifizierung ab und ist sich mit Erel (2004, S. 57) einig, der von einer „Pathologisierung vor allem der zweiten Gene-ration von Migrant*innen als entwurzelt, ohne Heimat und kulturelle Leitmodelle“

spricht.

Dass die österreichische Geschichte auch in die Identitätskonstruktion der Jugendli-chen mit Migrationshintergrund eingeht, formuliert Hintermann so nur vorsichtig. Sie sieht den Beleg dafür in der affektiven Verbundenheit. Das mache auch ich mir zu-nutze (siehe 3.3.3 Das Selbstkonzept nach Haußer; 5.1 „In-Geschichte-verstrickte“

Identifizierung). Es gibt aber auch Hinweise auf eine deutliche Distanzierung von der österreichischen Geschichte, so dass dieser Aspekt nicht abschließend geklärt wer-den kann (Hintermann, 2007, S. 483).

Weitere konkrete Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund, die die Studie ausmachen konnte, sind:

• Alle Befragten sehen die Schule als Hauptquelle für Geschichte an.

• Bezüglich des Themas des Nationalsozialismus greifen aber vor allem öster-reichische Jugendliche auf Erzählungen durch ältere Familienangehörige zurück (Hintermann, 2007, S. 487-489).

• Die territoriale Verbundenheit nimmt generell mit wachsender Größe der ter-ritorialen Einheit ab.

• Eine starke „nationale“ Identität muss sich nicht mit einer europäischen widersprechen.

• Bei den Jugendlichen mit Migrationshintergrund kann eine große emotionale Verbundenheit zum Herkunftsland ausgemacht werden, auch wenn die Ju-gendlichen vielleicht bereits in Österreich geboren wurden oder schon lange Zeit in Österreich leben (Hintermann, 2007, S. 489-491).

• Auch Fernsehen und Gedenkveranstaltungen können als einflussreiche Quellen identifiziert werden (Hintermann, 2007, S. 493). (Darauf werde auch ich eingehen, wenn es um Medien geschichtlicher Vermittlung geht ([siehe 5.3 Intrafamiliäre Tradierung und schulische Vermittlung von Geschichte].)

• Es bleibt offen, ob Teile der österreichischen Geschichte, die von Jugendli-chen mit Migrationshintergrund übernommen werden, auch Eingang in die eigene Identifizierung finden oder es sich mehr um eine oberflächliche Über-nahme handelt.

• Der Betritt zur EU wird häufig von Jugendlichen mit Migrationshintergrund als sehr wichtig eingestuft (Hintermann, 2007, S. 495). (Auch auf dieses Ar-gument kommen einige meiner Gesprächspartner*innen zu sprechen [siehe 5.1 „In-Geschichte-verstrickte“ Identifizierung].)

Methodologisch ist anzumerken, dass vor allem der Einbezug von Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund eine gewinnbringende Komponente aufgreift, die andere Studien und auch meine eigene nicht zu leisten vermögen. Dass sich die Studie auf Österreich und wiederum auf die Geschichte des Zweiten Weltkriegs be-zieht, erschweren einen späteren Vergleich.

Auch wenn sich meine Befragung nicht auf Österreich bezieht, so kann auch bei mir beobachtet werden, dass die Geschichte der Aufnahmegesellschaft einen mehr oder weniger großen Stellenwert bei den Befragten einnimmt. Mindestens wird im-mer eine Auseinandersetzung mit dieser Frage deutlich, auch wenn die Wichtigkeit am Ende dieser negiert werden kann. Ähnlich wie auch meine Studie analysiert Hin-termann die Grenzen zwischen einer intrafamiliären Tradierung und einer schuli-schen Vermittlung und damit die Einflussnahme auf das Geschichtsbewusstsein Ju-gendlicher. Schließlich erfasst auch Hintermann Medien von Geschichtsvermittlung.

Auch dies stellt eine Gemeinsamkeit zu meinem Forschungsprojekt dar. Anders als bei Hintermann wird bei mir vor allem die Familie ins Zentrum des Interesses ge-rückt. Schule spielt zwar für die Befragten auch eine wichtige Rolle, wenn es um Geschichtsvermittlung geht, es werden ihr aber ganz konkrete und zum Teil auch andere Aufgaben zugeschrieben als der Familie zukommen (siehe 5.2 Funktionen von Geschichte und Geschichtsvermittlung; 5.3 Intrafamiliäre Tradierung und schuli-sche Vermittlung von Geschichte).

3.4.9 Pühringers Studie zum Thema Einfluss eines Migrationshintergrundes auf Identität und Geschichtsbewusstsein

Auch Pühringer befasst sich in seiner Diplomarbeit mit dem Themenkomplex Identi-fizierung, Geschichtsbewusstsein und Migrationshintergrund in Österreich. Er befra-gt dazu insgesamt 1068 Personen mit und ohne Migrationshintergrund (658 Frauen und 410 Männer) mit einem Durchschnittsalter von 23,8 Jahren und einer Alters-spanne zwischen 14 und 72 Jahren.

Pühringer stellt die Frage „Was wäre Ihre Antwort auf die Frage ‚Besitzen Sie Migra-tionshintergrund?‘“ (Pühringer, 2014, S. 99). Das führt zu sehr unterschiedlichen Antworten: So geben manche Befragte einen Migrationshintergrund an, obwohl sie und ihre Eltern nicht migriert sind, andere wiederum sind selbst migriert oder ihre El-tern und geben keinen Migrationshintergrund an. Diesen Aspekt finde ich wichtig, weil er bei der Frage des Migrationshintergrundes auch das Befinden der/des Be-troffenen berücksichtigt. An dieser Stelle soll auch noch einmal auf die Ausführun-gen zur Thematik des Migrationshintergrundes und dessen vielfältige BedeutunAusführun-gen verwiesen werden (siehe 3.2 Migrationshintergrund und Staatsangehörigkeit).

3.4 Geschichtsbewusstsein und Funktionen von Geschichte und Geschichtsvermittlung

Pühringers Erhebungsinstrument ist eine quantitativ angelegte Online-Befragung zum Thema Positionierung zur österreichischen Gesellschaft sowie zur NS-Zeit von Menschen mit und ohne Migrationshintergrund. Auch er begrenzt die Thematik des Geschichtsbewusstseins somit auf die Geschichte des Zweiten Weltkriegs. Haupt-sächlich werden Teilnehmer*innen höherer Schulen und aus akademischen Berei-chen befragt. Explizit aus der Türkei (und damit vergleichbarere Daten zu meiner Studie) stammen drei Versuchspersonen in Pühringers Studie (2014, S. 91-92).

Pühringer befasst sich mit den folgenden Themenkomplexen (2014, S. 94-95):

Identifizierung: Österreich als Heimat oder Gastland: Items sind zum Bei-spiel „Österreich ist meine Heimat.“, „Ich fühle mich als ÖsterreicherIn.“

oder „Ich sehe meine Zukunft in Österreich.“.

„Historia Magistra Vitae“: Hier geht es um die Gegenwartsorientierung an-hand von Geschichte. Items sind unter anderem: „Der Hass von damals ge-gen die Juden ist vergleichbar mit dem heutige-gen gege-gen Ausländer.“, „Wir müssen an den Holocaust erinnern, weil es auch Menschen waren, die ihn verbrochen haben.“ oder „Die Verbrechen der damaligen Zeit können jeder-zeit wieder passieren.“.

• Zugang zum ThemaNationalsozialismus: Hier geht es generell um die Fra-ge, ob weiter an den Nationalsozialismus erinnert oder ein „Schlussstrich“

gezogen werden soll. Items sind unter anderem: „Aus der Zeit des National-sozialismus kann man fürs Leben lernen.“, „Das ständige Erinnern hindert die Österreicher daran, ein gesundes Selbstbewusstsein zu entwickeln.“

oder „Meine Generation hat die Pflicht, dafür zu sorgen, dass die Geschich-te des Nationalsozialismus und der Holocaust nicht vergessen werden.“.

• Zugang zum Thema Migrationsgeschichte: Ist die Einstellung zur Ge-schichte der Ein- und Auswanderung in Österreich positiv oder negativ kon-notiert? Items sind: „Die Geschichte der Einwanderung beziehungsweise der Einwanderer ist ein wichtiger Teil der Geschichte Österreichs.“, „Die Ge-schichte der Einwanderung beziehungsweise der Einwanderer sollte im Schulunterricht mehr Beachtung finden.“ oder „Man kann aus der Ge-schichte der Einwanderung beziehungsweise der Einwanderer fürs Leben lernen.“.

Diese Themen werden auch bei mir Berücksichtigung finden, vor allem die Identifi-zierung, der Aspekt der Geschichte als „Lehrmeisterin“ und die Migrations-geschichte.

Pühringer hält folgende Ergebnisse bezüglich des Einflusses des Migrationshinter-grundes auf Identität und Geschichtsbewusstsein fest:

• Befragte mit zwei Elternteilen, die aus anderen Ländern stammen, sehen Österreich seltener als ihre Heimat an. Besonders trifft das für Befragte zu, die selbst nicht in Österreich zur Schule gegangen sind.

• Sind beide Elternteile im Ausland geboren, so ist die Identifikation mit dem Herkunftsland der Jugendlichen in der Regel größer.

• Befragte Jugendliche mit Migrationshintergrund sehen ihre Zukunft seltener in Österreich. Das trifft vor allem für Jugendliche unter 19 Jahren zu.

• Jugendliche, die selbst im Ausland geboren sind, fühlen sich oft von ande-ren nicht als Österreicher*innen wahrgenommen (Fremdpositionierung).

• Bezüglich der Thematik des Nationalsozialismus findet Pühringer keine sig-nifikanten Unterschiede heraus.

• Die Vergleichbarkeit zwischen dem Hass gegen Jüd*innen/Juden der NS-Zeit und dem heutigen Ausländerhass ist etwas häufiger, doch nicht signifi-kant bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund gegeben.

• Die Aufnahme der Vermittlung der Einwanderungsgeschichte im Schulunter-richt wird signifikant häufiger von den Befragten mit Migrationshintergrund benannt.

• Generell gehen die Befragten davon aus, dass sowohl Eltern als auch der Schulunterricht einen Einfluss auf die eigene Positionierung haben (Pührin-ger, 2014, S. 96-112, S. 116-119).

Kurz möchte ich auf die formulierten Items zu sprechen kommen. Diese erscheinen mir an mancher Stelle zu stark implizierend, so zum Beispiel „Besitzen Sie Migra-tionshintergrund?“. „Besitzen“ erscheint mir hier als eine etwas unzutreffende Wort-wahl, die dem Migrationshintergrund als möglicherweise wichtigen Aspekt von Identifizierung nicht gerecht wird. Auch andere Begrifflichkeiten sind sehr stark wer-tend, könnten aber gerade dadurch auch eine Identifizierung oder Ablehnung der Befragten provozieren. Außerdem formuliert Pühringer, sicherlich auch dem quanti-tativen Vorgehen geschuldet, dichotome Items, die keine weiteren Antwortmöglich-keiten zulassen. Zum Beispiel spricht Pühringer von Österreich als Heimat- oder Gastland. Mögliche weitere dazwischenliegende Optionen werden nicht erfasst. An dieser Stelle möchte meine Analyse ansetzen. Auch Pühringer begrenzt seine Stu-die auf Stu-die Geschichte des Zweiten Weltkriegs bezogen auf Österreich.

Schließlich bleibt anzumerken, dass die Fragen nach der eigenen Positionierung hier sehr explizit vonstatten gehen und damit auch einer bewussten Verzerrung un-terliegen könnten beziehungsweise implizite Aspekte, die ebenfalls Anzeichen einer eigenen Positionierung darstellen können, nicht erfasst werden.

Inhaltlich können in meiner Studie zum Teil Parallelen beobachtet werden, wenn es um den möglichen Einfluss des Migrationshintergrundes auf Identität und Ge-schichtsbewusstsein geht sowie um die Vermittlung von Geschichte: So wird auch in meinen Befragungen die Vermittlung von Geschichte im Schulunterricht ange-sprochen und Eltern und Schule ein wichtiger Stellenwert eingeräumt. Auch Selbst-und Fremdpositionierungen spielen in beiden Studien eine Rolle.

3.4 Geschichtsbewusstsein und Funktionen von Geschichte und Geschichtsvermittlung

3.5 Intrafamiliäre Tradierung und schulische Vermittlung von