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3.5 Intrafamiliäre Tradierung und schulische Vermittlung von Geschichte

3.5.4 Die Forschungsgruppen um Welzer und die Frage nach der intrafamiliären

des Zweiten Weltkriegs

Welzer befasst sich zusammen mit Kolleginnen (unter anderem Moller und Tschuggnall) mit dem Thema der intrafamiliären Tradierung, dem Familienalbum, von Geschichte. Sie beschränken ihre Forschung dabei auf das Thema des Zweiten Weltkriegs und befragen mehrere Generationen von Familien. Im Allgemeinen be-mängeln sie, dass die direkte Kommunikation vor allem auch in der Familie gegen-über pädagogischen Geschichtsvermittlungen bislang weitgehend unterschätzt wurde (Welzer, 2010, S. 19).

Welzer und Kolleginnen führen Familiengespräche mit Mitgliedern verschiedener Generationen über die Vergangenheit im Allgemeinen und den Nationalsozialismus und den Holocaust im Speziellen. Damit wird der Geschichte des Zweiten Welt-krieges eine übergeordnete Stellung eingeräumt. Beschrieben wird ein Prozess der

„gemeinsamen Verfertigung“ von Geschichte, was eine gemeinsame Konstruktion beziehungsweise eine Vergegenwärtigung der Vergangenheit zwischen den ver-schiedenen Generationen bedeutet und auf das eigene Selbstverständnis Einfluss nimmt (Welzer, Moller & Tschuggnall, 2002, S. 20). Welzer und Kolleginnen be-schreiben einen Prozess kommunikativer Tradierung, die durch einen Interpreta-tionsspielraum und Sinnstiftungsprozess erst möglich wird. An dieser Stelle soll noch einmal auf die Ausführungen Assmanns zum „kommunikativen Gedächtnis“

verwiesen werden (siehe 3.5.3 Assmanns Theorie des „kollektiven Gedächtnisses“

und der Aspekt der Erinnerung).

Welzer und Kolleginnen befragen eine Stichprobe von Zeitzeug*innen (48), Kindern (50) und Enkeln (44). Insgesamt werden 40 Familiengespräche und 142 Interviews durchgeführt (Welzer, Moller & Tschuggnall, 2002, S. 11). Zum Einstieg in die Famili-engespräche werden verschiedene Filmsequenzen über Ereignisse der Zeit des Na-tionalsozialismus und des Holocausts gezeigt (Welzer, Moller & Tschuggnall, 2002, S. 211-214). Es handelt sich um eine eher „selektive[...] Stichprobe“, „die sich selbst ein eher kritisches Bewusstsein zuschreiben würden [sic]“ (Welzer, Moller & Tschug-gnall, 2002, S. 15). Die Interviewer*innen treten als soziale Personen ins Feld und können somit ebenfalls in die intrafamiliäre Tradierung einbezogen werden (Welzer, Moller & Tschuggnall, 2002, S. 27). Welzer und Kolleginnen gehen bei ihrer

Befra-3.5 Intrafamiliäre Tradierung und schulische Vermittlung von Geschichte

gung nicht explizit auf die intrafamiliäre Tradierung ein, sondern versuchen dieser beizuwohnen und sie dadurch zu erforschen.

Die Forschungsgruppe um Welzer beschreibt als Voraussetzungen, dass Geschich-te von einer Generation zur nächsGeschich-ten tradierbar wird, die folgenden PunkGeschich-te:

• Die zu tradierende geschichtliche Erzählung muss offen und fragmentarisch sein, so dass Platz für Ergänzungen der Zuhörer*in/des Zuhörers bleibt.

• Die zu tradierende geschichtliche Erzählung muss mit eigenen Erfahrungen des Zuhörers verknüpft werden können.

• Die zu tradierende geschichtliche Erzählung muss eine emotionale Bedeu-tung für den Zuhörer aufweisen (Welzer, Moller & Tschuggnall, 2002, S. 196-197). Man kann auch vom „Prozess der Verlebendigung“ sprechen (Welzer, Moller & Tschuggnall, 2002, S. 201). Anmerkung: Hier spielt also, wie Haußer es für die Identifizierung formuliert, die emotionale Bedeutsam-keit auch für den Tradierungsprozess eine Rolle (siehe 3.3.3 Das Selbstkon-zept nach Haußer).

So kann durch die Weitergabe von Geschichte ein soziales Gedächtnis, in diesem spezifischen Fall ein Familiengedächtnis, als fiktive Einheit geschaffen werden, das Kohärenz und Identität mit der Erinnerungsgemeinschaft herzustellen vermag (Wel-zer, Moller & Tschuggnall, 2002, S. 195-197).

Als Ergebnis beschreibt die Forschungsgruppe um Welzer fünf Tradierungstypen, die zum einen durch die Rolle der Erzähler*in/des Erzählers (in der Regel die Zeit-zeug*in/der Zeitzeuge der Zeit des Nationalsozialismus) zum anderen durch die Rol-le der Zuhörer*in/des Zuhörers (Kinder oder Enkelkinder) charakterisiert wird: Zur Veranschaulichung soll für jeden Typ ein Beispiel angeführt werden:

Opferschaft: „Ja, wir haben so allerhand hinter uns“ (Welzer, Montau &

Plaß, 1997, S. 145). Bei dem Tradierungstyp der Opferschaft spielt eine so-genannte „Wechselrahmung“ eine zentrale Rolle. Attribute, die für die natio-nalsozialistische Zeit normalerweise für die jüdische, verfolgte Bevölkerung gewählt werden, verwendet die Sprecher*in/der Sprecher hier für sich selbst. Dies löst bei der Zuhörer*in/dem Zuhörer Mitleid aus und führt zu Empathie. Für beide macht es frei von der Schuld der eigenen Person be-ziehungsweise Familie (Welzer, Moller & Tschuggnall, 2002, S. 82; Welzer, Montau & Plaß, 1997, S. 145-158).

Rechtfertigung: „Da war doch gar nicht viel los“ (Welzer, Montau & Plaß, 1997, S. 159). Beim Tradierungstyp der Rechtfertigung kann man sich die familiäre Erzählsituation wie einen Gerichtssaal vorstellen, die Zeitzeug*in/

der Zeitzeuge auf der Anklagebank, Nachkommen als Ankläger*innen, ähn-lich wie dies in der Nachkriegszeit den Alliierten gegenüber stattfand (Wel-zer, Moller & Tschuggnall, 2002, S. 82-83; Wel(Wel-zer, Montau & Plaß, 1997, S. 159-171).

Distanzierung: „Klumpfüßchen erzählt Märchen“ (Welzer, Montau & Plaß, 1997, S. 172) (gemeint ist damit Goebbels). Wendet eine Zeitzeug*in/ein

Zeitzeuge den Tradierungstyp der Distanzierung an, benutzt sie/er häufig Ironie, zieht die Zeit des Zweiten Weltkrieges ins Lächerliche, um sich auf diese Weise von den Geschehnissen zu distanzieren. Auf Seiten der Zuhö-rer*in/des Zuhörers führt das meist zu einer Solidarisierung und einem ge-meinsamen Amüsieren über die Geschichte (Welzer, Moller & Tschuggnall, 2002, S. 82; Welzer, Montau & Plaß, 1997, S. 172-185).

Faszination: „Das war eigentlich ‘ne schöne Zeit“ (Welzer, Montau & Plaß, 1997, S. 186). Der Tradierungstyp der Faszination sieht so aus, dass die Zeitzeug*innen „mit glänzenden Augen“ (Welzer, Moller & Tschuggnall, 2002, S. 83) in die NS-Vergangenheit eintauchen. Es kommt zu einem Ver-gleich zwischen Erzähler*innen und Zuhörer*innen über die damalige und die heutige Zeit. Vor allem, wenn es um die Freizeitgestaltung der damaligen Jugendorganisationen geht, ist auf Seiten der Zuhörer*innen häufig eine Perspektivübernahme möglich (Welzer, Moller & Tschuggnall, 2002, S. 83;

Welzer, Montau & Plaß, 1997, S. 186-197).

Überwältigung:„Die Reinszenierung der Vergangenheit“ (Welzer, Montau &

Plaß, 1997, S. 198) ist ein Beispiel für den Tradierungstypen der Überwälti-gung. Er ist dadurch gekennzeichnet, dass der Eindruck entsteht, es sei seit den Ereignissen der NS-Zeit noch keinerlei Zeit vergangen. Hier werden Szenen erzählt, die „zur Identifikation und Perspektivenübernahme“ regel-recht einladen (Welzer, Montau & Plaß, 1997, S. 84). Die Zuhörer*innen wer-den stumm, werwer-den auch heute davon überwältigt. Dieser Tradierungstyp hat im erhobenen Datenmaterial aber nur eine geringe Bedeutung (Welzer, Moller & Tschuggnall, 2002, S. 83-85; Welzer, Montau & Plaß, 1997, S. 198-211).

Zusammenfassend lässt sich zur intrafamiliären Tradierung von Geschichte nach Welzer, Moller und Tschuggnall festhalten (2002, S. 196): Intrafamiliäre Tradierung von Geschichte ist

der Vorgang des aktiven, gemeinsamen Verfertigens der Vergangenheit im Gespräch,

der Vorgang des Auffüllens der Leerstellen in den erzählten Geschichten durch die Zuhörer und die Rolle, die kulturelle Schemata dabei spielen,

der Vorgang der Aneignung des Erzählten nach Maßgabe dessen, was für die Hörer (und potentiellen Weitererzähler) Sinn macht,

die Gebundenheit dieses Sinns an die emotionalen und normativen Anforderungen, die Er-innerungsgemeinschaften ihren Mitgliedern auferlegen.

Zum methodischen Vorgehen lässt sich sagen, dass ich die Idee, die Forscher*in-nen als soziale PersoForscher*in-nen in das Feld kommen zu lassen, als gewinnbringend erach-te, auch wenn diese immer als Fremdkörper in der Familie wahrgenommen werden können. Auch ich werde später durch meine Anwesenheit in der Erhebungssituation einem möglichen Tradierungsprozess in der Familie beiwohnen. Daneben richte ich mich aber auch explizit an die Gesprächsteilnehmer*innen mit der Frage, was sie mir über die intrafamiliäre Tradierung im Allgemeinen erzählen können (siehe 5.3 In-trafamiliäre Tradierung und schulische Vermittlung von Geschichte). Letzteres sehen Welzer und Kolleg*innen in ihrer Forschung nicht vor. In Abgrenzung dazu erfasse

3.5 Intrafamiliäre Tradierung und schulische Vermittlung von Geschichte

ich in Form von Aussagen der Forschungspartner*innen auch die schulische Ver-mittlung von Geschichte. Das Forschungsanliegen der Gruppe um Welzer, dass der Einfluss der Familie auf das Geschichtsbewusstsein gegenüber der pädagogischen Geschichtsvermittlung unterschätzt wird, teile auch ich. Kritisch bleibt zu bemerken, dass sich Welzer und seine Kolleg*innen auf die Geschichte des Nationalsozialis-mus beschränken, wie dies auch bezüglich anderer angeführter Studien, zum Bei-spiel bei Georgi (siehe3.4.6 Georgi: Geschichtsbewusstsein Jugendlicher mit Migra-tionshintergrund und historisch geprägte Positionierungen zum Thema Nationalsozialismus) schon angemerkt wurde. Die Autor*innen erfassen vor allem Geschichte, die von der befragten Großelterngeneration selbst erlebt wurde. In mei-ner Erhebung spielt dies sicherlich auch eine Rolle, ich gehe aber deutlich über die-sen Bereich von tradierter Geschichte hinaus. Oftmals geht es in meiner Erhebung gerade nicht um selbst erlebte Geschichte der Anwesenden, aber immer um Ge-schichte, die für die Befragten von Bedeutung ist. Schließlich betonen Welzer und Kolleg*innen die emotionale Bedeutung der Geschichte für die Zuhörer*in/den Zu-hörer, was auch meines Erachtens den Tradierungsprozess mindestens unterstützt und wie bereits dargestellt in verschiedenen Identitätstheorien aufgegriffen wird (siehe 3.3.2 Die Identitätstheorie nach Marcia; 3.3.3 Das Selbstkonzept nach Haußer).

Welzers Argument, dass eine intrafamiliäre Tradierung dann stattfindet, wenn die er-zählte Geschichte offen und fragmentarisch ist, kann zwar auch bei mir beobachtet werden (zum Beispiel bei Familie F), jedoch ist dies auf meiner Datengrundlage nicht immer der Fall. Auch andere Formen der Tradierung als die gemeinsame Ver-fertigung sind denkbar, zum Beispiel eine einfache Übernahme geschichtlicher In-halte beipsielsweise der Elterngeneration (siehe 5.3.3 Fallbeispiel A: „Mein Vater er-zählt mir auch immer wieder.“ (A1)). Man könnte hier mit Marcias Worten übertragen auf die Tradierung von einem übernommenen Geschichtsbewusstsein, analog zur übernommenen Identität, sprechen (siehe 3.3.2 Die Identitätstheorie nach Marcia).

Alle Typen, die Welzer und Kolleg*innen formulieren, sind auf die Geschichte des Zweiten Weltkriegs ausgelegt, so dass sie auf meine Daten nur bedingt sinnvoll übertragen werden können. Aber es wäre duchaus denkbar, die formulierten und charakterisierten Typenbegriffe zu entlehnen und auf andere geschichtliche Aspekte anzuwenden, solange klar bleibt, dass damit keine Gleichsetzung zu Phänomenen den Zweiten Weltkrieg betreffend gemeint ist. Der Typ der Opferschaft, der zum Beispiel auch von Georgi angesprochen wird (siehe 3.4.6 Georgi: Geschichtsbe-wusstsein Jugendlicher mit Migrationshintergrund und historisch geprägte Posi-tionierungen zum Thema Nationalsozialismus), spielt in meiner Erhebung insbeson-dere im polnischstämmigen Interview bezüglich des Zweiten Weltkriegs eine Rolle.

Opferschaft spielt aber auch in anderen geschichtlichen Kontexten, zum Beispiel bezüglich der Migrationsgeschichte, eine Rolle. Darauf wird an anderer Stelle noch ausführlicher eingegangen (siehe 6.6 Einordnung meiner Ergebnisse in den For-schungsstand und gewinnbringende Ergebnisse: „Nationale“ Identifizierung, „Da-seinsberechtigung“ und „Völkerverständigung“ als zentrale Kategorien). Der Aspekt der Rechtfertigung wird auch in meiner Erhebung zum Beispiel bei F1 bezüglich des Zweiten Weltkrieges angesprochen (als eine in der Schule vermittelte Haltung) und spielt in meiner später beschriebenen Funktion von Geschichte der „Daseinsbe-rechtigung“ eine Rolle. Bezüglich der türkischen Geschichte und der

Migrationsge-schichte der 1960er Jahre könnten Welzers Typenbegriffe der Distanzierung, Faszi-nation und Überwältigung entlehnt werden. Man könnte von einer Distanzierung sprechen, wenn die Gesprächspartner F1 und F2 ironisch anmerken, die Türken sei-en immer die Bestsei-en gewessei-en und würdsei-en immer als solche dargestellt. Der Typ der Faszination kommt zum Beispiel in den romantischen Aussagen F1s über die 1960er Jahre zum Ausdruck. Bei A1 könnte man eine Überwältigung beobachten, ebenfalls jedoch gegenüber der türkischen Geschichte und nicht bezogen auf den Zweiten Weltkrieg, als er ausführt, was er für sein Land getan hätte, hätte er zu Zei-ten des Osmanischen Reichs gelebt.

3.5.5 Favas rassismuskritische Diskursanalyse zur Erziehung