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3.1 Geschichtlicher Abriss

3.1.3 Atatürk, Atatürks Kemalismus und die Republik Türkei

der Meerenge waren Kompromisse notwendig. Der Bosporus und die Dardanellen galten als internationale Wasserstraßen (Moser & Weithmann, 2002, S. 96). Die Tür-kei erreichte Souveränität, die alten Kapitulationsverträge wurden aufgelöst. Es wur-de ein Minwur-derheitenschutz aber nur gegen nicht-muslimische durchgesetzt. Man sprach nun nur noch von „Türk*innen“ (Moser & Weithmann, 2002, S. 97). Es folgten Umsiedlungsaktionen mit dem Ziel der „[e]thnischen Säuberung[...]“ (Moser &

Weithmann, 2002, 98). 1922 wurde Konstantinopel zu Istanbul, Mustafa Kemal gründete die Partei der Kemalisten mit konkreten Prinzipien, die sogenannte Volks-partei, später Republikanische Volkspartei. Sie stand für alle Bürger*innen und

ge-sellschaftlichen Gruppen. Ab 1923 galt Ankara als offizieller Verwaltungssitz des tür-kischen Staates. Am 19. Oktober 1923 kam es zur Ausrufung der Republik Türkei mit der neuen Verfassung (Moser & Weithmann, 2002, S. 99-100). Mustafa Kemal setzte sich insbesondere für die Verstaatlichung ein (Moser & Weithmann, 2002, S. 102). Die drastischen Veränderungen drangen oft nicht bis in die Dörfer vor, trotz Drohungen und Sanktionen. Durch die plötzlichen und diktatorischen Veränderun-gen Mustafa Kemals entstand die Abspaltung der Republikanischen Fortschrittspar-tei, die sich etwas gemäßigter positionierte (auch gegenüber dem Islam). Das war der Grund Mustafa Kemals, gegen diese vorzugehen (Moser & Weithmann, 2002, S. 103).

Die Verfassung 1924 schrieb fest: „Jeder, den mit dem Türkischen Staat das Band der Staatsangehörigkeit verbindet, ist Türke.“ und weiter „Der Staat Türkei ist ein in seinem Staatsgebiet und Staatsvolk unteilbares Ganzes. Seine Sprache ist Tür-kisch.“ (Moser & Weithmann, 2002, S. 105).

Kurdisch war damit untersagt. Generell stellten die Kurd*innen eine Bevölkerungs-gruppe dar, die immer wieder eine Rolle in der türkischen Geschichte spielte (siehe 3.1.5 Exkurs Balkankriege, Balkantürk*innen, Hethiter*innen, Kurdenkonflikt, Seld-schuken, Völkermord an den Armenier*innen, Zypernkonflikt). Sie forderten Selbst-bestimmung, wurden zwangsdeportiert nach Mittel- und Westanatolien und bildeten in sich immer eine schwache Gruppe, die von Uneinigkeit geprägt war (Moser &

Weithmann, 2002, S. 106-107).

Mustafa Kemal war der erste, der sich als Staatsoberhaupt auch auf Abbildungen und Denkmälern positionierte. Das drückt noch einmal seine personifizierte Regie-rung aus. Im Allgemeinen zeigte er sich betont westlich. Im vorher vom Islam ge-prägten Osmanischen Reich war eine solche Personifizierung als Gotteslästerung verboten (Moser & Weithmann, 2002, S. 110, S. 128).

Mustafa Kemal etablierte die türkische Sprache, den Sonntag als Feiertag und die Einführung neuer Familiennamen. Damit wurde er 1934 zu Mustafa Kemal Atatürk,

„Vater der Türken“ (sein Nachfolger Inönü wurde nach dem Ort seines Sieges über die Griech*innen benannt) (Moser & Weithmann, 2002, S. 111, S. 113; Gudemann, 1996, S. 63).

Grundsätzlich verfolgte Mustafa Kemal einen autoritären Führungsstil, der nur wenig Freiraum für „demokratische Beteiligung und Neuerung“ gab (Brabänder, 2016, S. 49).

Atatürks Kemalismus

Atatürk schrieb seine Prinzipien in den „Sechs Pfeilern“ des Kemalismus fest und nahm sie 1937 ins Grundgesetz der Türkei auf (Moser & Weithmann, 2002, S. 120).

Der türkische Staat definierte sich als „republikanisch, nationalistisch, volksverbun-den, etatistisch, laizistisch und revolutionär“ (Kreiser, 2006b, S. 389).

• Der Laizismus (endgültig ab 1928) drückt die strenge Trennung von Staat und Religion aus. Religion wurde nun ausschließlich Privatsache (Moser &

Weithmann, 2002, S. 121). Allerdings muss hier berücksichtigt werden, dass Atatürk mit dem Laizismus der Türkei ein westliches Prinzip überstülpte, das

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zur Geschichte der Türkei und des Osmanischen Reichs, in denen der Islam immer eine wichtige Rolle gespielt hatte, nicht passte (Moser & Weithmann, 2002, S. 112). Hinzu kam die Tatsache der plötzlichen Veränderung. Damit wurde der Herrscher von gestern zum Feind von heute (Moser & Weith-mann, 2002, S. 135-136). Auch die Veränderungen der Gesellschaft, zum Beispiel die Verfünffachung der Bevölkerung, vor allem der islamischen Schichten, muss Berücksichtigung finden. Und oft machte sich Atatürk Prin-zipien zunutze, die dem Islam zugeschrieben wurden (zum Beispiel Gehor-sam und strikte Autorität), obwohl er diesen gleichzeitig ablehnte (Moser &

Weithmann, 2002, S. 136; Kreiser, 2016, S. 6). Der Atatürkismus wird bis heute in den Schulen wie eine Ersatzreligion gelehrt (Moser & Weithmann, 2002, S. 138).

Republikanismus meint die Volkssouveränität und wendet sich gegen die monarchische Staatsform.

Nationalismus unterstreicht den Nationalgedanken als eigentliche Basis der modernen Türkei. Nationale Souveränität und Unabhängigkeit sowie eine Unteilbarkeit des Staates gehören dazu sowie eine nach innen gerich-tete nationale Einheit der Staatsbürger*innen (an dieser Stelle soll im Wider-spruch dazu noch einmal an die Gruppe der Kurd*innen erinnert werden).

Dazu zählt auch die Sprachreform, die Einführung des lateinischen Al-phabets, die Ablehnung des Arabischen, eine Türkisierung der Sprache, die bis heute nicht abgeschlossen ist und die Entlehnung von Wörtern aus dem Italienischen, Deutschen und Französischen (Moser & Weithmann, 2002, S. 120). Dennoch blieb die Türkei weiterhin ein heterogener Staat. Man un-terschied zwischen Türk*innen, die der türkischen Sprache mächtig waren und der türkischen Ethnie angehörten, Türk*innen, die die türkische Sprache nicht beherrschten aber der türkischen Kultur angehörten und der Gruppe, die weder die Kultur noch die Sprache teilten (Kirkişci, 2008, p. 181).

Populismus meint die Herrschaft des gesamten Volkes, was sich zum Bei-spiel im Wahlrecht und der Wahlpflicht ausdrückt. Allerdings muss das Ein-parteiensystem und die Entwicklungsdiktatur diesbezüglich kritisch betrach-tet werden (Moser & Weithmann, 2002, S. 121), sowie die Tatsache, dass Atatürk der Opposition seine eigene Schwester vorsetzte (Moser & Weith-mann, 2002, S. 122).

Reformismus meint ein sich Wenden gegen orientalische Traditionen und den Islam. Gleichzeitig fanden im Wirtschaftlichen und Sozialen kaum Veränderungen statt (Moser & Weithmann, 2002, S. 122-123).

Etatismus: Der Staat dirigiert die Volkswirtschaft, lenkt Investitionen und übernimmt unternehmerische Initiative, darunter fällt der Ausbau der Infra-struktur und die Leitung verschiedener Produktions- und Industriebereiche.

Der Markt spielt nur eine untergeordnete Rolle (Moser & Weithmann, 2002, S. 123). 1982 wurde der Etatismus aus der Verfassung gestrichen, die Um-setzung dauerte noch länger (Moser & Weithmann, 2002, S. 124). Ziel des Etatismus war auch die gleichzeitige Zurückdrängung der ausländischen wirtschaftlichen Einflussnahme (Gudemann, 1996, S. 767).

Ein siebtes Dogma lässt sich ergänzen, nämlich die führende Rolle des Militärs, die auch die militärisch und personifiziert geprägte Geschichte zumindest ein Stück weit erklärt. Die Armee war sehr politisiert (Moser & Weithmann, 2002, S. 124).

Streitkräfte gingen gegen Verstöße der Kemalistischen Prinzipien vor (Moser &

Weithmann, 2002, S. 125).

Mit dem Kemalismus strebte Atatürk auch die Etablierung einer kollektiven türki-schen Identität an (Genter, 2016, S. 48), was in meinerm Forschungsvorhaben in der Frage nach der Identifizierung der Befragten, insbesondere einer „atatürkischen“

Identifizierung, noch wichtig wird (siehe 5.1 „In-Geschichte-verstrickte“

Identifizierung).

Ergänzt werden soll, dass sich Atatürk insbesondere für die Frauen stark machte und propagierte, dass man sonst das halbe Volk schwach lasse. Dennoch gab es Privilegien für die Männer. Diese Richtung der Gleichberechtigung der Frauen eta-blierte sich bereits unter den Jungtürk*innen (Moser & Weithmann, 2002, S. 116;

Kreiser, 2006a, S. 318). Die Frauen waren auch in der Lebensmittel- und Industrie-güterindustrie und in den Munitions- und Konservenfabriken sehr wichtig. Unter Atatürk wurden insbesondere Imam-Ehen als ungültig erklärt, was die Stellung der Frau stärkte. Oft gestaltete sich die Umsetzung wegen der Umstände der Zeit als schwer. Auch sozial und politisch fand eine Emanzipation statt. Das aktive und pas-sive Wahlrecht der Frauen wurde 1934 eingeführt (Moser & Weithmann, 2002, S. 117). Auch in Atatürks eigener Familie nahmen Mutter und Schwester wichtige und emanzipierte Rollen ein. Die Schwester Atatürks war politisch in der Opposition ihres Bruders tätig, die Mutter heiratete nach dem Tod des Vaters von Atatürk neu (Moser & Weithmann, 2002, S. 118, S. 121).

Gegner Atatürks blieben Armenier*innen und Kurd*innen (Moser & Weithmann, 2002, S. 213).

Der Waffenstillstand mit der UdSSR wurde weiter vertieft (Moser & Weithmann, 2002, S. 126). 1924 wurden diplomatische Beziehungen zwischen Ankara und Berlin aufgenommen, eine deutsch-türkische Waffenbrüderschaft geschlossen, die aber in erster Linie eine propagandistische Rolle spielte. Atatürk schätzte Deutschland ins-besondere für seine ausgebildeten Fachkräfte, für Technik und Wissenschaft (Moser

& Weithmann, 2002, S. 127).

Ziel der Türkei war es auch, von Deutschland unabhängig zu bleiben. Umgekehrt verfolgte Deutschland das Ziel, die Türkei für Handel und Wirtschaft an sich zu bin-den und gegebenenfalls auch auszubeuten (Moser & Weithmann, 2002, S. 128). Bis in die 1930er bestand mit Deutschland ein Import-Export-Warentausch-Verhältnis (Kreiser, 2006b, S. 451).

Am 10.11.1938 starb Atatürk an den Folgen einer Leberzirrhose. Er benannte Ismet Inönü als seinen Nachfolger (Moser & Weithmann, 2002, S. 134), der seine Politik fortsetzte (Gudemann, 1996, S. 767). Dieser schloss am 18. Juli 1941 mit Deutsch-land einen Friedensvertrag. Am 2. August 1944 brach er die diplomatischen Bezieh-ungen auf Druck der Alliierten ab und erklärte am 23. Februar 1945 Deutschland

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(und Japan) den Krieg (Kreiser, 2006b, S. 451). Unter Hitler flohen circa 1 000 Deut-sche in die Türkei. Darauf basieren heute einige deutsch-türkiDeut-sche Freundschafts-vereine (Moser & Weithmann, 2002, S. 128).

Die Türkei wurde zum festen Bestandteil des europäischen Bündnissystems in der Nachkriegszeit (Moser & Weithmann, 2002, S. 129; Gudemann, 1996, S. 767), 1952 folgte der Beitritt zur NATO (Gudemann, 1996, S. 767).

Zusammenfassend soll zur Beziehung zwischen dem Osmanischen Reich/der Tür-kei und Deutschland noch einmal festgehalten werden, dass Rivalität, religiöse Aus-einandersetzungen und Machtkämpfe eine Rolle spielten, gleichzeitig aber auch mi-litärische und soziale Verbindungen bestanden und eine kulturelle Wertschätzung vorlag.

Abschließend sollen an dieser Stelle noch einmal die territorialen Veränderungen in Form von Landkarten dargestellt werden, die die großen Gebietsveränderungen zwischen dem Osmanischen Reich und der Republik Türkei veranschaulichen.

Abbildung 3.1: Das Osmanische Reich im 16. Jahrhundert (Berg, Böttcher, Bruck-müller & Hartmann, 2006, S. 100-101)

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Abbildung 3.2: Gebietsveränderungen des Osmanischen Reichs zwischen dem 14.

und dem 17. Jahrhundert (Berg, Böttcher, Bruckmüller & Hartmann, 2006, S. 89)

Abbildung 3.3: Die Republik Türkei zur Zeit zwischen den Weltkriegen (Berg, Bött-cher, Bruckmüller & Hartmann, 2006, S. 172-173)

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3.1.4 Deutsch-türkische Migrationsgeschichte der 1960er