• Keine Ergebnisse gefunden

(besonders auch um eine „nationale“ Zuordnung) und die Abgrenzung von anderen Gruppen gehen. Außerdem werde ich auf die Funktionen, die bestimmte Zugehörig-keitszuordnungen erfüllen, eingehen.

Die Selbstkategorisierungstheorie ergänzt, dass es verschiedene Möglichkeiten von Ober- und Unterkategorien gibt (Turner, Hogg, Oakes, Reicher & Wetherell, 1987, p. 45), insbesondere drei: Zugehörigkeit zur Menschheit, Zugehörigkeit zur soge-nannten in-group in Abgrenzung zur out-group sowie individuelle Bezugnahme und damit Abgrenzung zu anderen Mitgliedern der in-group (Turner, Hogg, Oakes, Rei-cher & Wetherell, 1987, p. 45, p. 49).

Vor allem die beiden ersteren werden auch in meiner Studie eine wichtige Rolle spielen. Die Autoren formulieren, dass sich Kategorisierungen und Vergleiche ge-genseitig bedingen. Generell werden Validierungen angestrebt. Auch dies wird in meiner Erhebung immer wieder deutlich, wenn die Befragten Vergleiche ziehen und auf diese Weise auf die eigene Identifizierung (und damit Kategorisierung) eingehen.

Schließlich wird von „Gruppenpolarisierung“ gesprochen, wenn durch ein Ge-spräch, so wie es auch durch meine Erhebungssituation denkbar ist, eine stärkere Meinungsbildung einer Gruppe zu beobachten ist (Turner, Hogg, Oakes, Reicher &

Wetherell, 1987, pp. 56-57).

3.3.6 Nohls Studie zum Thema Migration und Differenzerfahrungen

Nohl untersucht 2001 in seiner Studie Zusammenhänge zwischen Migration und Differenzerfahrungen, die mit Identifizierungen, Positionierungen und Zuschreibun-gen von außen zu tun haben.

Nohl befragt dazu Jugendliche in der Adoleszenzkrise in Deutschland mit und ohne Migrationshintergrund (vor allem auch mit türkischem) sowie türkische Jugendliche, die in Ankara leben. Er beschreibt eine relativ große erlebte Diskrepanz zwischen Einwanderungs- und Aufnahmegesellschaft. Das spiegelt sich zum Beispiel in ver-schiedenen Normalitätsvorstellungen zwischen Eltern und Peers wider oder in den unterschiedlichen Anforderungen von Herkunftsfamilie und Aufnahmegesellschaft

(Nohl, 2001, S. 8). Nohl befragt in Gruppendiskussionen in Anlehnung an Bohnsack (1999) (häufig mit bereits bestehenden Gruppen zum Beispiel in Jugendzentren) und in Form von biographischen Interviews nach Schütze (1983) und von teilnehmenden Beobachtungen nach Hildenbrand (1984) dazu über 80 männliche, arbeitende Ju-gendliche mit niedrigen Bildungsabschlüssen in 16 Peergroups im Alter von 18 bis 23 Jahren. Die Auswertung geschieht auf der Grundlage der „Grounded Theory“

nach Glaser und Strauss und Bohnsacks „Dokumentarischer Methode“ (Nohl, 2001, S. 9-10, S. 112, S. 114-118). Nohl geht es dabei um die Frage, wie Jugendliche mit Personen außerhalb des eigenen Milieus umgehen und befasst sich dabei mit der Erlebnisschilderung und der Performativität (Nohl, 2001, S. 10).

Er etabliert dabei eine Theorie, die auf drei verschiedene Typen des Umgangs mit Migration und Differenzerfahrung eingeht:

Sphärenfusion

Primordialität der inneren Sphäre und

Konstitution einer dritten Sphäre (Nohl, 2001, S. 11)

Unterschieden wird generell zwischen der inneren und der äußeren Sphäre. Zur in-neren Sphäre gehören vor allem die Normalitätserwartungen der Herkunftsfamilie und die Zugehörigkeit zur Einwanderungsgesellschaft und Migrationsgeneration.

Die äußere Sphäre umfasst die Peergroup, öffentliche Institutionen, die Gesellschaft und auch die deutsche Forscher*in/den deutschen Forscher und die wiederum da-mit verbundenen Normalitätserwartungen (Nohl, 2001, S. 249).

Sphärenfusion meint eine Verschmelzung der inneren und der äußeren Sphäre, so dass grundsätzlich keine Unterschiede zwischen der inneren und der äußeren Sphäre gemacht werden, sondern eine Gleichwertigkeit vorherrscht (Nohl, 2001, S. 132, S. 148, S. 249-250). Die Familie nimmt einen zentralen Stellenwert ein, den-noch kann es aber zu generationsspezifischen Unterschieden zwischen den Ju-gendlichen und ihren Eltern kommen (Nohl, 2001, S. 133, S. 262). An dieser Stelle soll auf mein Forschungsvorhaben verwiesen werden, das der Familie ebenfalls be-züglich der Identität und des Geschichtsbewusstseins beziehungsweise dessen Tradierung einen wichtigen Stellenwert einräumt (siehe 5 Ergebnisse). Auch zwi-schen den beiden Sphären kann es durch verschiedenartige Anforderungen zu Differenzen kommen. Es wird aber versucht, diese miteinander zu vereinbaren. Auf-tretenden Schwierigkeiten tritt man mit einer theoretisch-reflexiven Haltung gegen-über, indem nach Grenzen und sphärenübergreifenden Ordnungsvorstellungen ge-sucht wird (Nohl, 2001, S. 149).

Im Gegensatz dazu schreibt die Primordialität den Vorrang der inneren Sphäre zu (Nohl, 2001, S. 149), derer man sich moralisch verpflichtet fühlt (Nohl, 2001, S. 252).

Dazu gehört auch eine intergenerationelle Reziprozität und eine Indifferenz der El-tern gegenüber dem Geschehen der äußeren Sphäre (Nohl, 2001, S. 167). Der äu-ßeren Sphäre wird mit einer amoralisch-kausalanalytischen Haltung begegnet und so auch der Forscher*in/dem Forscher (Nohl, 2001, S. 162, S. 251, S. 266). Unter-schiede werden nicht negiert, sondern als das mehr oder weniger fremde andere wahrgenommen (Nohl, 2001, S. 163). Eine moralische Beurteilung von Verhalten,

3.3 Identität

der Lebenslage, der Weltsicht beziehungsweise der Biographie findet nicht statt.

Verhalten wird als den gesellschaftlichen Umständen und der Sozialisation geschul-det interpretiert (Nohl, 2001, S. 165-166).

Die Konstitution einer dritten Sphäre meint die Peergroup und beschreibt die Ab-grenzung der Jugendlichen sowohl von der inneren als auch von der äußeren Sphä-re. Ähnlich wie bei der Primordialität entsteht eine Distanz zur äußeren Sphäre durch eine amoralische Haltung zu Fremdheitsrelationen, in denen ein aktionisti-sches Fremderkennen möglich wird. In der inneren Sphäre bewahren die Jugendli-chen eine Reziprozitätsbeziehung zur älteren Familiengeneration. Die Peergroup wird zur dritten Sphäre der kollektiven Handlungspraxis (Nohl, 2001, S. 191), die der Familie manchmal auch vorenthalten wird (Nohl, 2001, S. 252).

Nohl streicht mit seiner Theorie heraus, dass Jugendliche nicht nur auf ihre ethni-sche Herkunft reduziert werden sollten, sondern es verschiedene Möglichkeiten des Umgangs mit Differenzerfahrungen gibt und dies unterschiedliche Auswirkungen auf die eigene Identität nehmen kann. So zeigen die drei Typen verschiedene Möglich-keiten mit der Herkunftsfamilie und der Migrationsgesellschaft auf der einen Seite und der Aufnahmegesellschaft auf der anderen Seite umzugehen und diese mehr oder weniger zueinander in Bezug zu setzen (Nohl, 2001, S. 261).

In der eigenen Studie wird der Familie in jedem Fall ein wichtiger Stellenwert einge-räumt, dabei aber nicht zwingend die Rolle anderer Sphären abgewertet. Es wird als gewinnbringend erachtet, in Anlehnung an Nohl zu reflektieren, wie der äußeren (stellvertretend die Schule) und der inneren Sphäre (stellvertretend die Eltern) ge-genübergetreten wird, ob eine Präferenz für die eine oder die andere vorliegt und wie beide zusammengebracht werden können. Weitere Ausführungen folgen im me-thodologischen Teil und der Datenauswertung (siehe 4 Methodisches Vorgehen; 5 Ergebnisse), wobei vor allem die Konstitution einer dritten Sphäre bei mir keine übergeordnete Rolle spielt, was schon im Aufbau der Untersuchung begründet liegt.

Die von Nohl beschriebene Sphärenfusion lässt sich auch bei mir beobachten und kommt zum Beispiel zum Ausdruck, wenn Jugendliche und Eltern bezüglich ihrer nationalen Zugehörigkeit hadern und Diskrepanzen bezüglich verschiedener Norma-litätsvorstellungen wahrnehmen, mit denen sie durch ihre Migrationsgeschichte konfrontiert sind und schließlich auf eine andere Ebene, die diesen Konflikt umgeht, ausweichen. Auch eine Primordialität lässt sich in meinen Daten beobachten, wenn der Bezug zur Familie eine übergeordnete Rolle einnimmt. An dieser Stelle möchte ich auf Marcia verweisen und auf seine Identitätsstadien der übernommenen versus erarbeiteten Identität (siehe 3.3.2 Die Identitätstheorie nach Marcia). Man könnte hier eine Verbindung zwischen Marcias übernommener Identität und Nohls Primor-dialität der inneren Sphäre herstellen sowie zwischen der erarbeiteten Identität und den beiden anderen Typen Nohls (Sphärenfusion und Konstitution einer dritten Sphäre) wobei die verschiedenen Hintergründe zu berücksichtigen sind (bei Marcia geht es um die Identitätsentwicklung, bei Nohl um den Umgang mit Migration und Differenzerfahrungen, was aber ebenfalls mit der eigenen Identifizierung in Verbin-dung stehen kann).

Es bleibt zu erwähnen, dass sich Nohls Typenbildung konkret auf Migrationserfah-rungen bezieht. Meines Erachtens wäre es aber auch denkbar, ähnliche Aspekte bei

Jugendlichen ohne Migrationshintergrund zu finden, weil im Jugendalter immer ein Abnabelungsprozess von den Eltern und ein Wichtigerwerden der Peergroup statt-finden kann, was eine Neuorientierung und eine Prioritätensetzung verschiedener Bezugssysteme beziehungsweise ein in Einklang bringen verschiedener Bezugssys-teme erfordert.

3.3.7 Eine Studie von Götz zum Thema „Deutsche“

Identitäten

Götz befasst sich 2011 mit dem Thema „deutsche“ Identitäten. Geschichtliche Er-eignisse wie der Zweite Weltkrieg, vor allem aber die Zeit nach dem Weltkrieg mit der Teilung Deutschlands und der Wiedervereinigung, stehen im Zentrum des Inte-resses und das damit in Verbindung stehende neu erarbeitete Nationalbewusstsein.

Außerdem wird Deutschland als Migrationsgesellschaft betrachtet. Auch geschicht-liche Ereignisse wie der islamistische Terroranschlag des 11. September werden angeführt (Götz, 2011, S. 18-20, S. 22, S. 128-129).

Zur „deutschen“ Identität kann in einem Migrationsland wie Deutschland auch die/

der „türkische“ Einwander*in/Einwanderer zählen, sowohl in der Fremd- als auch in der Eigenperspektive. Götz spricht von einer multiethnischen Gesellschaft: „Wer beim Aufbau des Landes mitmacht, gehört dazu.“ (Götz, 2011, S. 14). Außerdem kann die Identifizierung der Menschen der Mehrheitsgesellschaft wiederum rückwir-ken auf die Menschen der Minderheitsgesellschaft: Wie positioniert sich ein „Deut-scher“ und was bedeutet das für die Identität der Migrant*in/des Migranten (Meche-ril, 2013, S. 24)? Huntington formuliert 1997: „Wir wissen, wer wir sind, wenn wir wissen wer wir nicht sind und gegen was wir sind“ (S. 21) oder mit Uslucans Wor-ten: Wer über die Fremden spricht, spricht auch über sich selbst (2011, S. 3).

Ähnlich wie die Theorie von Keupp berücksichtigt auch Götz den Wandel der Ge-sellschaft, Individualisierungs- und Globalisierungsprozesse sowie die Europäisie-rung bei der Frage nach Identität und betont das Gefühl von Kohärenz und Zugehö-rigkeit trotz des Wandels, betont Vielfalt trotz Einheit. Götz legt dabei besonderen Wert auf die Heterogenität des Begriffs der „deutschen“ Identität (Götz, 2011, S. 20, S. 27, S. 33, S. 69, S. 196, S. 210, S. 332).

Götz führt dazu zwischen 1990 und 2001 eine Studie (Erhebung von 1996 bis 1999) in Form von biographischen Interviews mit 55 Teilnehmer*innen durch, auch mit Be-kannten, politischen Ereignis- und Diskursanalysen und teilnehmenden Beobach-tungen (zum Beispiel von Jubiläumsfeiern und anderen Festivalisierungen des Na-tionalen), untersucht den medialen Umgang und erstellt biographische Einzelpor-träts (Götz, 2011, S. 19-21, S. 23, S. 254, S. 324). Die Interviews mit Bekannten bringen zwar organisatorische Vorteile mit sich und fördern eine non-direktive Ge-sprächsführung, bergen aber auch die Gefahr von Übertragungen und Projektionen (Götz, 2011, S. 260-261). Götz‘ Anliegen ist es, „deutsche“ Identitäten auf ihre indi-viduellen und kollektiven Formen der Aneignung und Tradierung im Alltag hin zu un-tersuchen (Götz, 2011, S. 37). Identität sieht sie dabei als Selbst- und Gruppenbil-der sowie Selbst- und Fremdzuschreibungen (Götz, 2011, S. 77). Die Daten werden

3.3 Identität

meist im Team, zum Teil auch in einem multikulturellen Team ausgewertet, was ei-nen weiteren Blick auf das was „typisch deutsch“ sein könnte, ermöglicht (Götz, 2011, S. 262, S. 271). Umgekehrt kann es auch recht aufschlussreich sein, wenn sich eine „deutsche“/ein „deutscher“ Interviewer*in mit einer/einem „deutschen“ In-terviewten über das „Deutschsein“ unterhält (Götz, 2011, S. 273).

Götz betont in ihren Ergebnissen vor allem die Heterogenität des Umgangs mit der Frage nach der „deutschen“ Identität, auch oder gerade weil der Wandel der Zeit zunehmend von Unsicherheit und Unübersichtlichkeit und davon ausgelösten Ho-mogenisierungs- und Ordnungsbemühungen bestimmt wird (Götz, 2011, S. 21, S. 47-48). Des Weiteren beschreibt Götz den oftmals kritischen Umgang der „Deut-schen“ mit der „deut„Deut-schen“ Identität und eine Gefühlsambivalenz. Sie stellt aber klar heraus, dass trotz der vor allem auch geschichtlich geprägten Hemmungen ein klares Nationalbewusstsein im Alltag durchaus zu beobachten ist (Götz, 2011, S. 40, S. 48, S. 266-269, S. 289). Die „deutsche“ Identität kann zum Beispiel eine gemeinsame Sprache, Literatur oder nationale Symbole (wie die Flagge) ausma-chen. Auch Kleidung, Essen sowie die wirtschaftliche Leistungskraft und Leistungen in Sport und Technik gehören dazu. Generell lassen sich kognitive, affektive und normative Dimensionen ausmachen, ähnlich wie dies auch Haußer beschreibt (Götz, 2011, S. 79-80). Wichtig ist dabei anzumerken, dass nationale Äußerungen nicht zwangsläufig Bekenntnisse nationaler Identifizierung sein müssen (Götz, 2011, S. 76). Außerdem beschreibt Götz eine Identifizierung auf verschiedenen Ebenen, nämlich neben einer nationalen, eine übergeordnete europäische und eine unterge-ordnete regionale Identifizierung (Götz, 2011, S. 108). Diese wird auch in meinen Forschungsergebnissen auftreten. Eine europäische Identifizierung wird zum Teil auch als Lösung aus dem nationalen Dilemma angesehen (Kaya, 2009, p. 395). Eine Nationsbildung dient dabei der Abgrenzung und damit auch einer Stärkung nach außen und einer Homogenisierung nach innen (Götz, 2011, S. 111-112) (siehe3.3.5 Theorie der sozialen Identität nach Tajfel und Turner).

Auch zum Thema Deutschland als Migrationsgesellschaft trifft Götz auf der Basis ih-rer Erhebung einige Aussagen. So wird Deutschland zum Teil als sogenannte „Leit-kultur“3verstanden, die auch Migrant*innen Orientierung und Motivation zur Assimi-lation liefern soll (Götz, 2011, S. 129), was gleichzeitig aber den Migrant*innen eine nur minderwertige Stellung einräumt (Götz, 2011, S. 343). Auch auf den Wandel der Zeit, sei es durch Veränderungen des Staatsbürgerschaftsgesetzes und des Zuwan-derungsgesetzes oder durch die Zunahme von Asylbewerber*innen durch entspre-chende weltpolitische Ereignisse wird eingegangen. Immer wieder werden Auslän-der*innen zu Sündenböcken, als Fremd- zum Feindbild, was zu einer Aufwertung der „deutschen“ Mehrheitsgesellschaft beiträgt (Götz, 2011, S. 145). Kulturelle Differenzen und Kulturalisierungen sozialer Unterschiede nehmen zu (Götz, 2011, S. 146).

3. Der Begriffder „Leitkultur“ stammt von Stefan Dietrich (aus der Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.10.2000, „Die Inländerfrage“), aus der sogenannten „Leitkultur“-Debatte, 2000, die der damalige CDU-Fraktionschef Friedrich Merz mit seiner Forderung nach verbindlichen Leitwerten ausgelöst hatte.

Ausführlich geht Götz auf die Veränderungen des Staatsbürgerschaftsgesetzes ein, die an die recht aktuellen Debatten um die doppelte Staatsbürgerschaft erinnern.

So gab es auch 1999 Uneinigkeit bezüglich dieses Themas, sowohl in der Bevölke-rung als auch in der Politik (Götz, 2011, S. 223-225). ErleichteBevölke-rung der EinbürgeBevölke-rung sollte durch aufgeweichte Kriterien, zum Beispiel verkürzte Verweildauern in Deutschland, erreicht werden oder durch den automatischen Anspruch, auf deut-sche Staatsbürgerschaft für in Deutschland geborenen Kinder ausländideut-scher Eltern (Götz, 2011, S. 226). Viele Fragen blieben aber weiterhin offen: Was bedeutet es ge-nau, „Deutsche/Deutscher“ zu sein? Unter welchen Umständen kann man „Deut-sche/Deutscher“ sein? Und was bedeutet Integration? Wird eine soziale Gleichstel-lung oder eine kulturelle Anpassung an die „Leitkultur“ gefordert (Götz, 2011, S. 228)? Welches Erbe können und müssen Einwanderer teilen? Wie sollten sie mit dem Holocaust umgehen? Wie können Migrant*innen ihr Eigenes integrieren? Worin besteht das gemeinsame Erbe (Götz, 2011, S. 344)? Allein der Begriff der Gastar-beiter*innen zeigt zwei verschiedene Ebenen und gerade keine Gleichwertigkeit zwi-schen Mitgliedern der Mehrheits- und der Minderheitsgesellschaft (Götz, 2011, S. 246). Vor allem „Türk*innen“ werden oft zur Zielscheibe von Fremdenfeindlichkeit:

Zum einen kann das an der großen Zahl „türkischer“ Mitbürger*innen liegen, zum anderen an der „Fremdheit“, die unter anderem der Islam oder das Kopftuch mit sich bringen. Auch dieser Ansatz geht fälschlicherweise wieder von einer homoge-nen Gruppe der „Türk*inhomoge-nen“ aus (Götz, 2011, S. 247). Auch der 11. September hat noch einmal zur Verschärfung des negativen Fremdenbildes, weniger aber des „tür-kischen“ als mehr des „arabischen“ und vor allem des „islamischen“ beigetragen (Götz, 2011, S. 343).

Götz formuliert aus ihrer Untersuchung heraus verschiedene Thesen, die mit dem Thema Migrationsgesellschaft zusammenhängen (2011, S. 149). Einige sollen hier kurz aufgegriffen werden:

• Wer positive Selbstbilder hat, kann auch positive Einstellungen gegenüber Fremden besitzen.

• Eine nationale Identifizierung erschwert das Zusammenleben mit Fremden, weil die Individualität durch das Nationalstaatliche verloren geht.

• Die Abwertung Fremder kann zur Aufwertung des Eigenen führen, vor allem bei einer schwachen individuellen oder nationalen Identität.

• Es kann zu einer Projektion von negativen Eigenschaften auf eine fremde Gruppe kommen.

• Eine nationale Identität ist nur dann negativ, wenn sie politisch instrumenta-lisiert wird.

• Die deutsche Geschichte spricht gegen eine erneute Entwicklung von Frem-denfeindlichkeit aus einem Nationalbewusstsein heraus.

• Eine Auflösung kollektiver Zugehörigkeiten führt dazu, dass sich alle fremder werden und sich damit Probleme mit zugewanderten Fremden wiederum relativieren.

• Nationale Identifizierungen, in denen kollektive und räumliche Abgrenzungen zusammenfallen, fördern territoriale Verletzungsgefühle (Götz, 2011, S. 148).

3.3 Identität

Kritisch erwähnt werden soll zum einen das bereits erwähnte methodische Vorge-hen, vor allem die Befragung von Bekannten, was die Ergebnisse deutlich verzerren könnte und nur schwer vergleichbar mit anderen Befragten sein dürfte. Die vielfa-chen Zugänge bezüglich der Erhebung, vor allem das Aufsuvielfa-chen realer und damit unverfälschter Lebenssituationen (damit in Verbindung stehen auch Gegenstände, die eine Identifizierung anzeigen, was auch ich in meiner Arbeit nutze) sind positiv anzumerken und bringen sicherlich Vorteile gegenüber wissenschaftlich provozier-ten Erhebungssituationen. Götz bezieht sich thematisch konzentrierter als ich dies tun werde auf die Geschichte des Zweiten Weltkriegs und die Zeit der Wiederverei-nigung Deutschlands. Generell bleiben die von Götz formulierten Thesen recht all-gemein. Einige könnten zum Beispiel auch mit der Theorie der sozialen Identität er-klärt werden (siehe 3.3.5 Theorie der sozialen Identität nach Tajfel und Turner).

Götz geht ähnlich wie auch ich von einem Wandel der Gesellschaft aus und berück-sichtigt dabei insbesondere Deutschland als Migrationsgesellschaft. Inhaltlich for-muliert Götz relevante Aspekte für die „deutsche“ Identität. Von einem Gesamtkon-zept der „deutschen“ Identität kann aber nicht die Rede sein. Generell geht Götz bei der Thesenbildung wertend vor. Insgesamt betrachtet sie zwar eine ähnliche Frage wie ich in meiner Studie, nämlich die Frage nach Identifizierungen, sie versucht aber die „deutsche“ Identität zu erfassen und deren Grenzen abzustecken. Ich werde in meiner Arbeit anders an den Untersuchungsgegenstand herangehen und mich kon-kret auf die Identifizierungen türkischstämmiger Bürger*innen in Deutschland bezie-hen. Vor allem die auch bei Götz beschriebenen Selbst- und Fremdzuschreibungen sollen auch bei mir aufgegriffen werden. In jedem Fall unterstreicht Götz den Aspekt des Migrationshintergrundes und der Nationalität bei der Frage nach der Identität.

Darauf werde auch ich in meiner empirischen Studie ausführlich eingehen und Iden-titäten erfassen, die mit dem Migrationshintergrund und der Nationalität in Verbin-dung stehen. Weitere Ausführungen folgen noch im methodologischen Teil und bei der Datenauswertung (siehe 4 Methodisches Vorgehen; 5 Ergebnisse).

3.3.8 Meyer-Hammes Studie zum Thema Identität im Kontext des Schulgeschichtsunterrichts

Meyer-Hamme setzt in seiner Studie 2009 den Schwerpunkt auf die Frage nach der eigenen Identität, aber in Bezug auf den schulischen Geschichtsunterricht und da-mit grundsätzlich anders als ich dies in meiner Forschung tun werde (ich konzentrie-re mich hauptsächlich auf die Rolle der Familie bezüglich Identität, Geschichtsbe-wusstsein und Vermittlung von Geschichte). Meyer-Hamme unterstellt damit die Wichtigkeit des Geschichtsunterrichts für die Identität der Teilnehmer*innen an die-sem (Meyer-Hamme, 2009b, S. 210). Meyer-Hamme bezieht sich dabei auf Rüsens Theorie der geschichtlichen Identitätsbildung (2009b, S. 222). Darauf wird noch beim Thema Geschichtsbewusstsein eingegangen (siehe 3.4.4 Rüsens Typologie zum Geschichtsbewusstsein). Er führt dazu biographisch-episodische Interviews durch, drei mit Jungen und zwei mit Mädchen (Meyer-Hamme, 2009b, S. 107-114, S. 285).

Meyer-Hamme stellt verschiedene Fälle und deren Identifizierung vor, wobei ins-besondere ein Interview, nämlich die Ausführungen Süleymans, hier ausgeführt wer-den sollen, da er meinen Befragten am nächsten kommt.

Süleyman ist 18 Jahre alt, seine Großeltern kamen im Rahmen der Migrationsbewe-gung nach dem Zweiten Weltkrieg nach Deutschland. Er selbst sei in Deutschland geboren, besitze einen türkischen Pass und beschreibt sich selbst als „türkisch-stämmiger Deutscher“. Außerdem bezeichnet er sich und seine Eltern als nicht reli-giös, auch wenn er gelegentlich die Moschee besuche und er generell dem Islam durchaus eine wichtige Rolle zuschreibt (Meyer-Hamme, 2009b, S. 208, S. 268).

Des Weiteren gibt er an, sich als „Wanderer zwischen zwei Welten“ zu empfinden (Meyer-Hamme, 2009b, S. 209). Sein Interesse an Geschichte sei erst mit einem Geschichtslehrer und dem Thema Kreuzzüge geweckt worden (Meyer-Hamme, 2009b, S. 209). Sein Interesse zeigt sich auch daran, dass er im Alltag mit seinem Vater über bestimmte geschichtliche Themen spricht (Meyer-Hamme, 2009b, S. 211). Außerdem erfahre er in der Schule Dinge, die ihm vom Vater nicht mitgege-ben werden können (Meyer-Hamme, 2009b, S. 216).

Im Allgemeinen lässt sich sagen, dass eine Identifizierung mit dem Schulunterricht und dem „deutschen“ System stattfindet, an anderen Stellen aber auch mit dem

„türkischen“. Außerdem spielt der Islam bei der Identifizierung eine Rolle, auch wenn er sich selbst als „atheistischer Moslem“ und „türkischstämmiger Deutscher“

beschreibt. Außerdem identifiziert er sich mit einem Täterkollektiv (dies bezieht sich auf die Hexenverfolgung) (Meyer-Hamme, 2009b, S. 219, S. 237). Süleymann be-schreibt sich selbst als Angehöriger einer Minderheit und unterscheidet deutlich zwischen der „deutschen“ Geschichte und der Geschichte der Einwanderer (Meyer-Hamme, 2009b, S. 221). Ein besonders relevanter Aspekt sind Süleymans

beschreibt. Außerdem identifiziert er sich mit einem Täterkollektiv (dies bezieht sich auf die Hexenverfolgung) (Meyer-Hamme, 2009b, S. 219, S. 237). Süleymann be-schreibt sich selbst als Angehöriger einer Minderheit und unterscheidet deutlich zwischen der „deutschen“ Geschichte und der Geschichte der Einwanderer (Meyer-Hamme, 2009b, S. 221). Ein besonders relevanter Aspekt sind Süleymans