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5. Diskussion

5.2. Medizintourismus als Wirtschaftsfaktor

In den 1980er Jahren ist im Bereich der Zahnmedizin ein innereuropäischer Patientenaustausch entstanden. Die Ursachen hierfür waren weniger in der unterschiedlichen Qualität der Behandlung in den unterschiedlichen Ländern zu suchen, sondern in den Unterschieden bei den Behandlungskosten. Im sonstigen stationären Bereich kann von einer systematischen Patientenmobilität erst seit 2000 gesprochen werden. Die Wartelisten in verschiedenen Ländern (Großbritannien, Skandinavien) wuchsen und so kam es zu länderübergreifenden Kooperationsverträgen für die medizinische Versorgung. Dies sind staatlich organisierte Austauschbewegungen, die als eine Vorform des klassischen Medizintourismus gesehen werden können. Weltweit ist eine länderübergreifende Inanspruchnahme ärztlicher Behandlung nach einer Studie von McKinsey seit 2008 nunmehr ein wachsender Trend (Ehrbeck, Guevara et al. 2008).

Nach Böhm kann der Patiententourismus grundsätzlich in drei Strömungen eingeteilt werden (Böhm 2007):

1. Behandlung ausländischer Patienten in deutschen Akut-Krankenhäusern und Reha-Kliniken

2. Medizinische Behandlung Deutscher im Ausland 3. Die wohnortferne Behandlung in Kliniken Deutschlands

Mit einer fortschreitenden Globalisierung entwickelt sich für viele Länder und Regionen ein bedeutender Wirtschaftsfaktor. Leistungsschwächen und Überkapazitäten der jeweiligen Gesundheitssysteme begünstigen diesen sogenannten Medizintourismus. Es gibt für die Termini Gesundheitstourismus und Medizintourismus verschiedene Definitionen und Einordnungen in der Literatur (Hall 2011, Smith, Puczko 2009). Der Medizintourismus ist eine Schnittmenge zwischen Gesundheitswesen und Tourismusbranche. Die Bedeutung des

Gesundheitstourismus steigt, und es entwickeln sich immer mehr Abgrenzungen, z.B. Wellnesstourismus. Dabei geht es proaktiv um Gesundheitsförderung und Prävention. Der Medizintourismus ist reaktiv im Bereich der kurativen Versorgung angesiedelt. Illing definierte Medizintourismus im Jahr 2009 als „Reisen, deren zentrales Motiv der zumeist stationäre Aufenthalt in klinischen Einrichtungen ist, in denen Ärzte Wahleingriffe durchführen.“ Nach Illig ist der Medizintourismus eine Variante des Gesundheitstourismus (Illing 2009). Touristische Leistungen werden als Zusatzleistung betrachtet und die Fokussierung findet auf die medizinische Komponente statt (Balaban, Marano 2010). Dennoch darf die regionale Wertschöpfungskette durch die Krankenhäuser nicht unbeachtet gelassen werden. Das wirtschaftliche Potential des Medizintourismus muss in einen direkten und indirekten Anteil differenziert werden. Zum einen können nach Juszczak die Umsätze der einzelnen Kliniken erhöht werden und zum anderen werden in den unterstützenden Dienstleistern (z.B. Hotel, Einzelhandel, Lieferanten) außerhalb der Klinik erhöhte Umsätze generiert (Juszczak 2015). So entsteht für die Kliniken ein Mehrerlös von ca. einer Milliarde Euro und sekundär werden Erlöse aus Transport, Übernachtungen und Einkäufen generiert (Ekkernkamp, Debatin et al.

2015, Juszczak 2015; S.151-157) (Glöser 2015). In einer Studie im Auftrag des Landes Brandenburg werden geschätzte Umsätze der Hotellerie mit ambulanten Patienten und Begleitpersonen von vier bis elf Millionen Euro dem Medizintourismus zugeordnet (Berlin Partner für Wirtschaft und Technologie GmbH 2015). Die Hochschule Bonn Rhein Sieg hat die wirtschaftlichen Effekte für die Region Rheinland analysiert. Jusczcak geht von einer Steigerung von 39-53 Mio. Euro im wirtschaftlichen Bereich allein für diese Region aus (Juszczak, Nöthen 2006).

Bereits im Jahr 2004 beschreiben Juszczak und Zangerle die Internationalisierung im Gesundheitswesen. Sie sprechen von der Nutzung von freien Kapazitäten und der Generierung zusätzlicher Finanzmittel (Juszczak, Zangerle 2004).Trotz einer politischen Unterstützung sind, wie wir jetzt wissen, viele Initiativen nicht erfolgreich gewesen. Das Potential ist nicht kontinuierlich abgerufen worden. Ein Massenpatiententourismus aus dem Ausland ist nicht zu befürchten. In der Gesamtsicht spielen ausländische Patienten in Deutschland weiterhin also (noch) eine untergeordnete Rolle. Die Versorgung von internationalen Patienten ist in

Deutschland nach wie vor ein Nischenmarkt. Schätzungsweise sind in Deutschland im Jahr 2017 247.500 internationale Patienten stationär und ambulant behandelt worden (Glöser 2019, Glöser 2015). Gemessen am Gesamtaufkommen von jährlich 19 Mio. stationären Patienten in Deutschland, ist die Anzahl von etwa einer Viertelmillion ausländischer Patienten vergleichsweise gering (Bölt 2017) (s. Tabelle 9).

Tabelle 9: Entwicklung von stationären ausländischen Patienten

2012 2013 2014 2015 2016

Vollstationäre Patienten

18.991.605 19.152.555 19.531.669 19.654.144 19.960.117

Stationäre

Auch innerhalb der EU ist nach Wasem (2013) der Umfang grenzüberschreitender Behandlungen noch sehr gering. Blum und Offermans (2009) schätzen, dass bei lediglich 0,1% der gesamten Krankenhausbehandlungen die Patienten speziell aus dem Ausland angereist sind (Ekkernkamp, Debatin et al. 2015). Nach einem Bericht der europäischen Kommission (2010) werden innerhalb der EU nur 1%

aller Operationen in einem anderen Land als dem jeweiligen Herkunftsland des Patienten durchgeführt (Europäische Kommission 2010). Vielmehr wird nach Wettke (Wettke 2007) die stationäre Versorgung weltweit vorwiegend durch ein national organisiertes Patientenklientel geprägt. Nach einer BMBF28F28F12 Studie der

12BMBF :Bundesministerium für Bildung und Forschung

IAT29F29F13 werden nur 2-3% der Patienten weltweit in Deutschland versorgt (Statistisches Bundesamt (Pressemitteilung 399) 2017, Statistisches Bundesamt 2016; S.65-66). Zudem wurde in den Jahren 2015 und 2016 auch die Abhängigkeit des Medizintourismus von globalen wirtschaftlichen Parametern deutlich. Die Verlangsamung der jährlichen Steigerungsrate wird mit dem niedrigen Ölpreis mit entsprechender Wirtschaftslage in Russland und der Golfregion begründet (Fleck 2017).

Im Krankenhausbarometer von 2014 wird die Erlössituation aus der Versorgung der ausländischen Patienten analysiert. Die Erlösforderungen über alle befragten Krankenhäuser liegen im Mittel bei 355.600€ pro Jahr. Hohe Erlösforderungen generiert allerdings nur eine Minderzahl der Krankenhäuser. Bei einer Betrachtung der verteilungsfreien Kennwerte ergibt sich bei den Krankenhäusern ein Median von 94.100€. Im Mittel lag 2013 der Anteil der Erlöse von ausländischen Patienten bei 0,7% von den stationären Erlösen je Krankenhaus (Blum, Löffert et al. 2014).

Lazan verweist in ihrer Analyse zum Medizintourismus auf das Herzzentrum Berlin und auf einen Artikel aus der Welt, dass deutsche Kliniken jährlich etwa 300 Mio.

€ Umsatz mit ausländischen Patienten generieren (Lazan Birte 2010, Cassens, Hörmann et al. 2012;S.24-29).

Ein großer Anteil der ausländischen Patienten wird in den deutschen Universitätskliniken versorgt. Daten zu den Zahlen der in Privatkliniken versorgten ausländischen Patienten liegen nicht vor, es darf jedoch vermutet werden, dass die noch stärker auf Gewinn ausgerichteten privaten Krankenhausträger dieses Marktsegment nicht unbeachtet lassen.

In den Bundesländern Bayern, Baden-Württemberg, Berlin und dem Saarland wird im Verhältnis auf die jeweiligen stationären Fallzahlen überproportional eine größere Anzahl von ausländischen Patienten versorgt als in den anderen Ländern.

Nach Blum sind nur 8% der Krankenhäuser auf Patienten aus der grenznahen Region ausgerichtet. Stattdessen werden insbesondere Russland und Staaten aus dem Nahen Osten als Zielmarkt anvisiert. 24% der Krankenhäuser versorgen regelmäßig Patienten mit einem ausländischen Wohnsitz, die sich aus privaten oder beruflichen Gründen in Deutschland aufhalten (z.B. Urlaub). Ein bestimmtes

13IAT: Institut Arbeit und Technik; Westfälische Hochschule Gelsenkirchen.

Leistungsangebot wie zum Beispiel die Herzchirurgie offerieren 18% der Krankenhäuser. Die medizinischen Top-Nachfragegebiete sind die Orthopädie, Herzchirurgie und Neurochirurgie. Allerdings liegen zu diesen Gebieten keine fachspezifischen Auswertungen vor. Lediglich in der Zahnmedizin sind vergleichbare Auswertungen durchgeführt worden (Bünten 2011). Die Daten für Versorgung von ausländischen Patienten im herzchirurgischen Bereich werden regelmäßig von der DGTHG präsentiert. Im Jahr 2014 haben nach Angaben der DGTHG-Leistungsstatistik insgesamt 1.345 Patienten (1,29% aller in Deutschland herzchirurgisch versorgten Patienten) mit einem nicht deutschen Wohnsitz eine der 78 herzchirurgischen Fachkliniken in Deutschland zur Behandlung aufgesucht (Deutsche Herzstiftung e.V. 2014).

Das deutsche Krankenhauswesen hat in den letzten Jahren an Attraktivität nicht nur für Patienten, Fachpersonal und Finanzinvestoren zugenommen (Marquart 2018). Wettke bezeichnet Deutschland mit seiner wettbewerbsfreundlichen Neuausrichtung als wichtigen Impulsgeber bei der Neuausrichtung der stationären Versorgung in ganz Europa (Wettke 2007, Penter 2013). Innerhalb Europas haben Deutschland, die Schweiz und Belgien die meisten ausländischen Patienten.

Wenngleich sich Deutschland zwar im internationalen Vergleich bereits eine gute Position im Medizintourismusmarkt erarbeitet hat, gibt es andere Länder, in denen dieser Markt weitaus intensiver abgeschöpft wird. Nach Angaben der Weltbank haben die Länder Thailand, Singapur, Indien und Malaysia über eine Million ausländische Patienten behandelt (Juszczak 2015). Die führenden Destinationen unter den medizintourismus-aktiven Ländern sind in Südostasien. Im Internet wird allein für Singapur im Jahr 2011 eine medizinische Behandlung von mehr als 900.000 Patienten angegeben (BMBF 2017). Besonders Südkorea hat in den letzten Jahren eine vordere Position eingenommen. Seitdem die südkoreanische Regierung im Jahr 2009 den Startschuss für die Gesundheitsbranche als Wachstumsmotor der wirtschaftlichen Entwicklung gegeben hat, hat sich die Anzahl von ausländischen Patienten mit einer jährlichen Steigerungsrate von 35%

auf 300.000 Patienten verfünffacht. Südkorea hat erkannt, dass die Gesundheitsbranche sehr personalintensiv ist und somit viele neue Jobangebote schafft. Das Indikationsspektrum erstreckt sich von schwerkranken Patienten und Vorsorgeuntersuchungen bis zur plastisch-ästhetischen Chirurgie. In Südkorea

werden weltweit die meisten Schönheitsoperationen pro Kopf der Bevölkerung durchgeführt. Der Leistungsumfang der Kliniken in Südkorea ist nicht nur auf die medizinischen Dienste reduziert, sondern umfasst häufig einen Rundumservice mit Fahrservice, Unterbringung, Übersetzer und Freizeitprogramm (Fleck 2017).

Der Preis für die medizinischen Leistungen spielt ungeachtet zusätzlicher Serviceangebote eine übergeordnete Rolle. Die höchsten Preise für medizinische Versorgung verlangen z.B. die USA und Großbritannien. Eine preiswertere Versorgung wird z.B. in China, Kuba oder Jordanien angeboten.

Gegenläufig zum zunehmenden Medizintourismus gibt es besonders in den arabischen Ländern und China eine Bewegung, dem Abwandern von Patienten Einhalt zu gebieten und die lukrativen Selbstzahler im eigenen Land zu halten. In diesen Ländern findet aktuell eine Aufrüstung der medizinischen Infrastruktur statt.

So entstand z.B. für rund 1,8 Mrd. USD die „Health Care City“ in Dubai; eine Medizinstadt mit Kliniken, Wellnesseinrichtungen und Präventionszentren. Das Ziel der Emirate war, mit der Erhöhung der Versorgungskapazitäten die Ausgaben für Auslandsbehandlungen ins eigene Land umzulenken und neue Patienten aus anderen arabischen Ländern zu gewinnen. Der Wettbewerb um die ausländischen Patienten hat sich in diesem Sinne verändert und noch verschärft (Juszczak 2008, Juszczak 2007). Auch nach Wettke wird die High-End-Betreuung für wohlhabende Patienten aus Ländern mit bisherigen Versorgungsproblemen wieder vermehrt in dem jeweiligen Land geleistet. Diese Entwicklung sieht Wettke speziell in Russland und Saudi-Arabien (Wettke 2007, Westhoff, Westhoff 2016).

Eine Wettbewerbssituation wird von den in dieser Arbeit befragten Experten eher auf der internationalen als auf der nationalen Ebene gesehen. Daraus resultieren geringe Marketingaktivitäten um ausländische Patienten auf nationaler Ebene.