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2.5 K ULTUR

2.5.1 Kulturbegriff

Um die Schwierigkeit zu illustrieren, Kultur als Konzept angemessen zu definieren, wird häufig auf Kroeber und Kluckhohn (1952) verwiesen, die in ihrer Arbeit weit über 100 verschiedene Definitionen des Begriffs Kultur zusammengetragen haben. In dieser Arbeit kann nicht der Versuch unternommen werden, die unterschiedlichen Konzeptualisierungen von Kultur und deren historische Entwicklung umfassend darzustel-len. Nichtsdestotrotz soll der Kulturbegriff genauer skizziert werden, um die darauf auf-bauenden Überlegungen zu Ähnlichkeiten und Unterschieden in der Entwicklung von Selbstregulation in Deutschland und Indien verständlicher zu machen. In den folgenden Abschnitten werden hierzu unterschiedliche Konzepte von Kultur präsentiert und dabei insbesondere die Bedeutung von Kultur als Wertesystem und als Sozialisationskontext für die Entwicklung von Selbstregulation eingehender thematisiert.

Bezugnehmend auf die Klassifikation von Kroeber und Kluckhohn (1952), nennen Berry, Poortinga, Breugelmans, Chasiotis und Sam (2011) sechs Aspekte, die als

kenn-zeichnende Merkmale von Kultur in unterschiedlichen Definitionen diskutiert werden. In einigen Definitionen wird eine eher deskriptive Perspektive eingenommen, in der kulturel-le Phänomene, wie menschliche Aktivitäten und Verhalten, aufgezählt werden. Im Gegen-satz dazu benennen historische Definitionen nicht einzelne Merkmale von Kultur, sondern verweisen auf Geschichte und Traditionen als sich über die Zeit entwickelnde und gewach-sene kulturelle Merkmale, die innerhalb einer Gruppe von Menschen geteilt und weiterge-geben werden. Andere Definitionen betonen hingegen normative Merkmale wie zum Bei-spiel das Vorherrschen bestimmter kultureller Normen und sozialer Konventionen, die das Verhalten in einer sozialen Gruppe oder Gemeinschaft strukturieren. In psychologischen Definitionen stehen erfahrungsabhängige, das heißt durch Lernprozesse erworbene Prob-lemlösestrategien, Gewohnheiten und Bräuche im Mittelpunkt. Strukturelle Definitionen betonen hingegen einzelne Elemente von Kultur und ihre wechselseitige Beziehung zuei-nander. Schließlich stellt eine weitere Gruppe von Definitionen die Genese, das heißt die Frage nach den Ursprüngen von Kultur sowie deren Entwicklung in den Mittelpunkt der Betrachtung. In diesen Definitionen wird Kultur als Ergebnis wechselseitiger Anpassungs-leistungen von Menschen an ihre jeweilige ökologische und soziale Umwelt verstanden.

Obschon es keine einheitliche Definition gibt, besteht eine gewisse Übereinstimmung dahingehend, dass Kultur sich auf der Basis wechselseitiger Anpassungsprozesse (adaptive interactions) zwischen Menschen und ihrer Umwelt entwickelt, aus gemeinsamen Prakti-ken (shared practices) und geteilten Bedeutungen (shared meanings) besteht, die über die Zeit und Generationen (transmitted across time periods and generations) weitergegeben werden (Triandis, 2007, S. 63f.). Schwierigkeiten eine einheitliche Definition für das Kon-zept Kultur zu finden sind teilweise auch dadurch begründet, dass der jeweils verwendete Kulturbegriff stark durch die Forschungsperspektive beeinflusst ist. Nach wie vor kontro-vers diskutiert wird die Frage, inwieweit Kultur als Teil der Person (internal) konzeptuali-siert wird oder inwieweit Kultur als eine Reihe von Bedingungsfaktoren außerhalb der Per-son (external) zu sehen ist (Berry et al., 2011). Wurden Umweltbedingungen lange Zeit als zentrale Einflussfaktoren untersucht, definierte Geertz (1973) Kultur als System geteilter Bedeutungen, das durch Symbole vermittelt wird (siehe Berry et al., 2011; Jahoda, 2007;

Trommsdorff, 2007a). Zentral für diesen Ansatz ist auch die Annahme, dass Kultur als ein System symbolisch vermittelter Kontrollmechanismen zu verstehen ist, die Handeln steu-ern. Darauf bezugnehmend unterscheidet Triandis (1996) zwischen objektiver (z. B. Werk-zeuge) und subjektiver Kultur (z. B. Werte, Normen) und beschreibt subjektive Kultur als ein Syndrom psychologischer Variablen.

Die Identifizierung kultureller Syndrome (z. B. Individualismus, Kollektivismus) soll der Beschreibung von Kulturen als auch der Untersuchung von Ähnlichkeiten und Unter-schieden zwischen Kulturen dienen. Dieser Ansatz ist als Versuch zu sehen, das abstrakte Konzept Kultur durch eine Reihe definier- und operationalisierbarer Variablen zu ersetzen und somit empirisch erfassbar zu machen (Jahoda, 2007). Während weitgehend Konsens besteht, dass sich Kultur nicht ausschließlich auf kontextuelle Rahmenbedingungen be-schränken lässt, gab und gibt es eine Grundsatzdebatte, inwieweit psychologische Prozesse universell sind oder in Abhängigkeit kulturspezifischer Kontexte variieren (Berry et al., 2011; Jahoda, 2007). Der Ansatz Kulturen anhand verschiedener kultureller Syndrome zu beschreiben, spiegelt die Sichtweise wider, Kulturen auf eine bestimmte Anzahl vergleich-barer und messvergleich-barer Variablen zu reduzieren, um Ähnlichkeiten oder Unterschiede im Verhalten zu erklären. Bereits der Begriff Syndrom impliziert die Annahme, dass sich das Auftreten einer Konstellation von Merkmalen auf eine gemeinsame Ursache zurückführen lässt.

Dies steht im Gegensatz zu Positionen einiger Vertreter der Kulturpsychologie (cultu-ral psychology), die betonen, dass Kultur selbst als ein universelles Phänomen zu betrach-ten ist. Besonders deutlich kommt diese Position in der Feststellung zum Ausdruck, dass kulturelle Kontexte als „intentionale Welten“ zu verstehen sind:

„Psyche refers to the intentional person. Culture refers to the intentional world. In-tentional persons and inIn-tentional worlds are interdependent things that get dialec-tically constituted and reconstituted through the intentional activities and practices that are their products, yet make them up […].” (Shweder, 1991, S. 101)

Kulturpsychologischen Ansätzen zu Folge sind Person und Umwelt untrennbar mitei-nander verknüpft. Folglich sind auch alle psychologischen Prozesse kulturell geformt. Im Mittelpunkt steht dabei nicht die Frage nach allgemeinen psychologischen Prozessen. Kul-tur lässt sich vielmehr als ein handlungstheoretisches Konzept verstehen. KulKul-turelle Reali-täten sind auf unterschiedliche Weise in den Köpfen von Menschen repräsentiert. Soziale Phänomene unterliegen infolgedessen immer auch kulturspezifischen Deutungen. Im Mit-telpunkt steht die qualitative Beschreibung von Interaktionsprozessen aus der Perspektive eines Individuums in der jeweiligen Kultur. Nur auf diesem Wege lässt sich Kultur als Folge und auch Voraussetzung eines subjektiven Erlebens rekonstruieren (vgl. emic und etic Debatte; Trommsdorff, 2007a, 2008).

Matsumoto und Juang (2004) haben die hier diskutieren Aspekte aufgegriffen und die folgende Definition vorgeschlagen:

“[…] a dynamic system of rules, explicit and implicit, established by groups in order to ensure their survival, involving attitudes, values, beliefs, norms, and be-haviors, shared by a group but harbored differently by each specific unit within the group, communicated across generations, relatively stable but with the poten-tial to change across time.” (Matsumoto & Juang, 2004, S. 10)

Gemäß dieser Definition, an die sich die vorliegende Arbeit anlehnt, wird Kultur als ein in sich stabiles, aber dynamisches System von impliziten und expliziten Regeln ver-standen, die Einstellungen, Werte, Überzeugungen, Normen und Verhaltensweisen bein-halten, die von einer Gruppe von Menschen geteilt werden. Matsumoto und Juang (2004) definieren Kultur als System von Regeln, um zu betonen, dass funktionale Zusammenhän-ge zwischen psychologischen Merkmalen bestehen. Kultur als System Zusammenhän-geteilter ReZusammenhän-geln strukturiert soziale Beziehungen zwischen den Mitgliedern einer Gruppe und schafft da-durch Ordnung und Stabilität. Kultur ist in diesem Sinne adaptiv, da sie das Überleben in einem bestimmten sozialen und ökologischen Kontext sichert. Weiterhin führen Matsumo-to und Juang (2004) aus, dass Kultur als ein soziales Konstrukt zu verstehen ist, das auf individueller Ebene unterschiedlich von den Mitgliedern einer Kultur repräsentiert sein kann. Kultur ist dynamischen Veränderungen unterworfen, je nach dem inwieweit alle In-dividuen oder auch Gruppen innerhalb einer Kultur die jeweils vorherrschenden kulturellen Werthaltungen teilen.

Die Frage, inwieweit menschliches Verhalten durch biologische und oder kulturbe-dingte Faktoren bestimmt ist, wurde in diesem Abschnitt bisher ausgeklammert. Wenig überraschend reicht die Anlage-Umwelt-Debatte (nature–nurture) mindestens bis zu den Anfängen der Kulturanthropologie zu Beginn des 20. Jahrhundert zurück (Trommsdorff, 2008; Trommsdorff & Friedlmeier, 2004). Aus entwicklungspsychologischer Sicht sind Eltern-Kind-Beziehungen in einem hohen Maße biologisch verankert (Trommsdorff, 2006). So werden bestimmte Entwicklungsaspekte, wie das Bindungsverhalten oder ko-operatives Verhalten, die bereits als Voraussetzungen für die Internalisierung von Verhal-tensregeln thematisiert wurden, als Universalien angenommen (Tomasello et al., 2005;

Trommsdorff, 2008). Kulturelle Unterschiede lassen sich jedoch hinsichtlich der Bedeu-tung von Autonomie und Verbundenheit für Eltern-Kind-Beziehungen und für die

Ent-wicklung von Selbstregulation annehmen (z. B. Rothbaum & Trommsdorff, 2007;

Trommsdorff & Cole, 2011; Trommsdorff & Heikamp, 2013; Trommsdorff & Rothbaum, 2008). Aus entwicklungspsychologischer Sicht stellt sich daher die Frage, inwieweit kultu-relle Werthaltungen und Sozialisationsziele das Verhalten von Erziehungspersonen beein-flussen und die Entwicklung von Selbstregulation kulturspezifisch formen (Trommsdorff, 2006).