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2.4 G ESCHLECHTSUNTERSCHIEDE

2.4.2 Geschlechtsunterschiede in der inhibitorischen Kontrolle

In der entwicklungspsychologischen Literatur gibt es eine Vielzahl von Einzelbefun-den, die nahe legen, dass die Bereitschaft und Fähigkeit zur Selbstregulation bei Mädchen stärker ausgeprägt ist als bei Jungen. Neuere Studien diskutieren die Rolle von Ge-schlechtsunterschieden bezüglich der Fähigkeit zur Selbstregulation als Erklärung für hö-here Schulleistungen von Mädchen im Vergleich zu Jungen. Diesbezügliche Ergebnisse legen nahe, dass sich Geschlechtsunterschiede in schulischen Leistungen auf eine höhere Bereitschaft und Fähigkeit zur Verhaltenssteuerung von Mädchen gegenüber Jungen zu-rückführen lassen (z. B. Duckworth & Seligman, 2006; Weis et al., 2013). Vergleichbare Befunde liegen aus der Forschung zur Entwicklung von Emotionsregulation vor. Mädchen zeigen demnach im Vergleich zu Jungen in sozialen Interaktionen eine höhere Bereitschaft und Fähigkeit, emotionales Ausdrucksverhalten sozialen Erwartungen entsprechend zu regulieren (z. B. Chaplin, Cole, & Zahn-Waxler, 2005; Root & Rubin, 2010).

Bjorklund und Kipp (1996) diskutierten in einem Überblicksartikel die Ergebnisse von 14 Studien, in denen Geschlechtsunterschiede hinsichtlich inhibitorischer Kontrolle bei Kindern im Alter zwischen 2 und 12 Jahren untersucht wurden. Bei fünf der untersuchten

Studien fand sich ein Geschlechtsunterschied zugunsten von Mädchen. Die Autoren schlussfolgerten, dass Geschlechtsunterschiede bezüglich der Bereitschaft und Fähigkeit zu inhibitorischer Kontrolle auf der Verhaltensebene vor allem in sozialen Interaktionen (z. B.

Regulation des emotionalen Ausdrucks) und bezüglich der Verhaltenssteuerung (z. B. re-sistance to temptation) stark beziehungsweise moderat ausgeprägt sind. Keine oder nur geringfügige Unterschiede bestünden hingegen in Aufgaben (z. B. Stroop-Test), die eher kognitive Prozesse inhibitorischer Kontrolle erfassen.

Else-Quest et al. (2006) führten eine Metaanalyse durch, um zu prüfen, inwieweit Ge-schlechtsunterschiede bezüglich der Dimensionen des Temperamentsmodells von Rothbart und Kollegen (Rothbart & Bates, 2006) bestehen. Auf der Basis von 189 Studien mit Kin-dern im Alter zwischen 3 Monaten und 13 Jahren erfolgte eine metaanalytische Auswer-tung hinsichtlich der berichteten Geschlechtsunterschiede unter anderem für die Hauptdi-mension effortful control und ihre Komponenten (u. a. Aufmerksamkeitskontrolle, inhibitorische Kontrolle). Zwischen Mädchen und Jungen bestanden signifikante Unter-schiede hinsichtlich der Dimensionen Aufmerksamkeitskontrolle und inhibitorischer Kon-trolle. Moderate Effekte ergaben sich für die Dimension inhibitorische Kontrolle (d = 0.41). Für den theoretischen Hauptfaktor effortful control waren die Effekte in den Studien im Durchschnitt am stärksten ausgeprägt (d = 1.01). Kritisch merkten die Autoren jedoch an, dass lediglich 43 von insgesamt 196 geprüften Effektstärken auf Daten basierten, die mittels Beobachtungsmethoden erfasst wurden. Da die Datenbasis hauptsächlich auf Fremdeinschätzungen des Verhaltens der Kinder durch Lehrer und Eltern beruhte, ist die Gültigkeit der Ergebnisse in hohem Maße von der Validität der verwendeten Fragebogen-verfahren abhängig (Else-Quest et al., 2006).

Im Gegensatz zu Else-Quest et al. (2006) verfolgten Cross et al. (2011) einen anderen konzeptuellen Ansatz und untersuchten mittels einer Metaanalyse Geschlechtsunterschiede bezüglich impulsiven Verhaltens. Auf konzeptueller Ebene unterschieden die Autoren zwi-schen Verfahren, die einerseits Risikoverhalten und sensation seeking und andererseits Defizite in exekutiver Kontrolle (d. h. effortful control) erfassen. Die Probanden, die an den einzelnen Studien teilnahmen, waren mindestens 11 Jahre alt, womit die Datenbasis überwiegend aus Jugendlichen- und Erwachsenenstichproben bestand. Auf der Basis von 310 Stichproben aus 277 Studien analysierten die Autoren 741 Effektstärken. In die Analy-se gingen auch Studien ein, in denen die Erfassung inhibitorischer Kontrolle zum Beispiel mittels Stop-, Stroop- oder Go/No-Go-Aufgaben erfolgte. Gemäß der von Bjorklund und Kipp (1996) postulierten Annahme bestanden für exekutive Kontrollprozesse (u. a.

inhibitorische Kontrolle) keine signifikanten Geschlechtseffekte, wenn das Alter der Pro-banden unberücksichtigt blieb. Moderatoranalysen ergaben jedoch in Abhängigkeit des Alters der Probanden signifikante Geschlechtseffekte bezüglich der mittels Verhaltensma-ßen erfassten Fähigkeit zu inhibitorischer Kontrolle. Für Stichproben mit Kindern im Alter zwischen 10 und 15 Jahren ergab sich ein signifikanter Geschlechtseffekt, wonach die Fä-higkeit zu inhibitorischer Kontrolle bei Mädchen höher ausgeprägt war als bei Jungen (d = 0.71). Für Stichproben mit jungen Erwachsenen im Alter zwischen 21 und 30 Jahren be-stand hingegen kein signifikanter Geschlechtsunterschied. Die Befunde deuten daraufhin, dass sich Geschlechtsunterschiede bezüglich der Fähigkeit zu inhibitorischer Kontrolle im Entwicklungsverlauf verringern; möglicherweise aufgrund reifungsbedingter Veränderun-gen neuronaler Strukturen im Präfrontalhirn, die einem geschlechtsspezifischen Entwick-lungsverlauf unterliegen (Cross et al., 2011; Else-Quest et al., 2006).

Im Vergleich zu der Metaanalyse von Else-Quest et al. (2006) fiel die Effektstärke für Fragebogenverfahren zur Erfassung exekutiver Kontrolle in der Studie von Cross et al.

(2011) erheblich niedriger aus (d = 0.08 versus d = 1.01). Vergleichsweise höhere Ge-schlechtseffekte ergaben sich hingegen für Fragebogenverfahren, die sensation seeking (d = 0.41) erfassten, und für Verhaltensmaße zur Erfassung von Risikoverhalten (d = 0.36).

Cross et al. (2011) interpretierten diese Befunde dahingehend, dass Geschlechtsunterschie-de weniger in Geschlechtsunterschie-der Fähigkeit zu exekutiver Handlungskontrolle bestehen, sonGeschlechtsunterschie-dern vielmehr in der Bereitschaft, Risiken einzugehen und stimulierende Reize aufzusuchen.

Eine mögliche Erklärung für die unterschiedliche Stärke der Geschlechtseffekte be-züglich exekutiver Kontrollprozesse in den Metaanalysen von Else-Quest et al. (2006) und Cross et al. (2011) könnte darin bestehen, dass in der Studie von Else-Quest et al. (2006) die Daten überwiegend auf Lehrer- und Elterneinschätzungen basierten. Daher lässt sich nicht ausschließen, dass Geschlechtsrollenstereotype die Beurteilung des Verhaltens der Kinder beeinflusst haben (Cross et al., 2011; Else-Quest et al., 2006). Die Befunde von Cross et al. (2011), die auf Studien mit deutlich älteren Stichproben beruhten, legen jedoch auch nahe, dass sich mit zunehmendem Entwicklungsalter Geschlechtsdifferenzen in der Fähigkeit zu exekutiver Kontrolle (z. B. inhibitorischer Kontrolle) verringern.

Schließlich stellt sich die Frage nach der Genese von Geschlechtsunterschieden in der Selbstregulation. Maccoby (1998) argumentiert, dass nur geringfügige Unterschiede zwi-schen den Geschlechtern hinsichtlich temperamentsbedingter Merkmale (z. B. Aktivität) bestehen, schließt aber nicht aus, dass Geschlechtsunterschiede in der Entwicklung durch die Sozialisation von Geschlechterrollen zunehmen. Ein Bereich, in dem vergleichsweise

deutliche Geschlechtsunterschiede bestehen, betrifft die motorische Entwicklung (Hyde, 2005). Eine Metaanalyse ergab, dass ab dem 1. Lebensjahr das Aktivitätsniveau bei Jungen höher ausgeprägt ist als bei Mädchen. Diese Befunde legen nahe, dass im Entwicklungs-verlauf stabile Geschlechtsunterschiede hinsichtlich motorischer Aktivität bestehen (d. h.

Geschwindigkeit und Intensität in der Ausführung von Bewegungen; Eaton & Ems, 1986).

In Übereinstimmung mit diesen Befunden neigen Jungen im Vergleich zu Mädchen eher dazu, abwechslungsreiche und „riskante“ Aktivitäten aufzusuchen (high-intensity pleasure, Else-Quest et al., 2006; sensation seeking, Cross et al., 2011). Jungen und Mädchen zeigen eine hohe Präferenz für Spiele in gleichgeschlechtlichen Peer-Gruppen, die sich hinsicht-lich der Aktivitäten unterscheiden. Daher stellen insbesondere Peers wichtige Sozialisati-onsfaktoren dar, die eine Zunahme möglicherweise biologisch bedingter Geschlechtsunter-schiede im Entwicklungsverlauf erklären (Ruble et al., 2006). Die Zunahme der Ge-schlechtseffekte bezüglich des Aktivitätsniveaus bis ins Jugendalter lässt darauf schließen, dass Geschlechtsunterschiede in diesem Bereich durch Sozialisationsprozesse Verstärkung erfahren (Eaton & Ems, 1986). Da Geschlechtsunterschiede bezüglich inhibitorischer Kon-trolle mit zunehmendem Entwicklungsalter weniger stark ausgeprägt sind, sind ge-schlechtsspezifische Sozialisationsprozesse hier möglicherweise weniger relevant (Cross et al., 2011; Else-Quest et al., 2006).

2.4.3 Zusammenfassung

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass in einer Vielzahl von Studien Ge-schlechtsunterschiede bezüglich der Bereitschaft und Fähigkeit zur Verhaltenssteuerung und hinsichtlich der Internalisierung von Verhaltensregeln berichtet wurden. Obwohl die Effekte vergleichsweise schwach ausgeprägt waren, haben metaanalytische Studien Ge-schlechtsunterschiede bezüglich einer höheren Bereitschaft und Fähigkeit zur Verhaltens-steuerung (d. h. Befolgen von Verhaltensregeln) von Mädchen (beziehungsweise Frauen) im Vergleich zu Jungen (beziehungsweise Männern) bestätigt. Hinsichtlich der Fähigkeit zu inhibitorischer Kontrolle zeigten sich im Kindes- und Jugendalter, nicht aber im Er-wachsenenalter, Geschlechtsunterschiede. Bei Kindern unter 15 Jahren war die Fähigkeit zu inhibitorischer Kontrolle für Mädchen höher als für Jungen.

Hinsichtlich der Entwicklung von Geschlechtsunterschieden bezüglich der Bereit-schaft und Fähigkeit zur Befolgung von Verhaltensregeln sind geschlechtsspezifische So-zialisationseffekte dokumentiert. Die Abnahme von Geschlechtsunterschieden bezüglich

inhibitorischer Kontrolle im Entwicklungsverlauf legt hingegen nahe, dass die Entwick-lungsveränderungen insbesondere reifungsbedingten Veränderungen unterliegen. In me-thodischer Hinsicht lässt sich festhalten, dass die Befunde zu Geschlechtsunterschieden bezüglich der Fähigkeit zu inhibitorischer Kontrolle im Kindesalter hauptsächlich auf Fremdeinschätzungen des Verhaltens der Kinder durch Lehrer und Eltern beruhten.