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3.2 U NTERSUCHUNGSABLAUF UND V ERFAHREN

3.2.4 Inhibitorische Kontrolle

Zur Erfassung inhibitorischer Kontrolle bei Kindern im Vorschulalter wurde in der Vergangenheit eine Reihe unterschiedlicher Verfahren herangezogen. Neben Fragebögen (z. B. Children’s Behavior Questionnaire; Rothbart et al., 2001) handelte es sich dabei um Beobachtungsmaße, die als Einzeltests oder als Testbatterien eingesetzt wurden (z. B.

Kochanska et al., 1996, 1997). Typischerweise umfassten diese zum Beispiel Aufgaben, bei denen die Probanden instruiert wurden, Belohnungen aufzuschieben, Handlungsimpul-se zu widerstehen (Resistance to Temptation-Aufgabe) oder unerwünschte Verhaltensreak-tionen zu unterdrücken (z. B. Go/No Go-Aufgabe). In vergleichenden Literaturübersichten weisen einige Autoren jedoch darauf hin, dass ein Nachteil einiger dieser Verfahren in der konzeptuellen Überlappung der Erfassung der Bereitschaft und Fähigkeit zur Verhaltens-teuerung und der inhibitorischen Kontrolle besteht (z. B. ein attraktives Objekt nicht anfas-sen; vgl. Garon et al., 2008; Spinrad et al., 2007). Andere Autoren haben kritische Einwän-de hinsichtlich Einwän-der Konstruktvalidität einiger dieser Verfahren vorgebracht (z. B.

Oosterlaan et al., 1998; Schachar & Logan, 1990). Die Stop-Aufgabe zeichnet sich gegen-über anderen Verfahren zur Messung inhibitorischer Kontrolle unter anderem dadurch aus, dass für individuelle Unterschiede in der Reaktionsgeschwindigkeit systematisch kontrol-liert werden kann. Dies ist entscheidend, da eine erfolgreiche Inhibierung schneller Reakti-onen schwieriger ist als die Inhibition langsamer ReaktiReakti-onen (Logan, 1994).

In den folgenden Abschnitten erfolgt eine Beschreibung der Stop-Aufgabe, des Ver-suchsaufbaus und –ablaufs sowie der methodischen Vorgehensweise bei der Berechnung der Variablen, die als Maße zur Erfassung der Bereitschaft und Fähigkeit inhibitorischer Kontrolle in den statistischen Datenanalysen der vorliegenden Studie verwendet wurden (siehe auch Heikamp, Trommsdorff, Druey, et al., 2013).8

8 Die in dieser Arbeit verwendeten Daten zur Erfassung inhibitorischer Kontrolle wurden für eine deutsche Teilstichprobe zur Analyse von Zusammenhängen zwischen Bindungssicherheit, inhibitorischer Kontrolle und Internalisierung von Verhaltensregeln herangezogen. Die Beschreibung der Stop-Aufgabe, der Durch-führung und Datenauswertung wurde mit leichten Änderungen aus einem Artikel übernommen (Heikamp, Trommsdorff, Druey, et al., 2013, S. 3-4), der während der Anfertigung der vorliegenden Arbeit entstanden ist. Die Erfassung der inhibitorischen Kontrolle mittels der Stop-Aufgabe war Teil einer Kooperation zwi-schen den Teilprojekten Entwicklungsbedingungen von Absichtlichkeit und ihrer Grenzen (Projektleiterin:

Prof. Dr. Gisela Trommsdorff, DFG GZ, TR 169/14-2) und Die Rolle von Antwortkategorien bei der Hand-lungsgenerierung (Projektleiter: Prof. Dr. Ronald Hübner, DFG GZ, Hu 432/9) im Rahmen der Forscher-gruppe Grenzen der Absichtlichkeit (DFG-ForscherForscher-gruppe 582) an der Universität Konstanz. Dr. Michel D.

Druey, Universität Zürich, hat das Programm für die Stop-Aufgabe geschrieben und die Auswertung der Rohdaten (d. h. Berechnung der Stop-Signal-Reaktionszeiten) vorgenommen.

Stop-Aufgabe

Bei einer Stop-Aufgabe werden Probanden instruiert, durch das Drücken einer Taste (z. B. links, rechts) möglichst schnell und richtig eine Entscheidung zu treffen, wenn ein Zielreiz dargeboten wird (Primäraufgabe). In einer bestimmten Anzahl von zufällig ge-wählten Durchgängen folgt auf den Ziel- oder Primärreiz nach einem bestimmten Zeitin-tervall ein Stop-Signal. Die Probanden werden instruiert, in diesen Durchgängen ihre Re-aktion zu unterdrücken, das heißt nicht auf den Zielreiz zu reagieren (Sekundäraufgabe).

Eine Vielzahl von Studien hat gezeigt, dass die erfolgreiche Inhibierung einer Reaktion umso schwieriger wird, je länger das Zeitintervall zwischen Darbietung eines Zielreizes und des Stop-Signals ist (z. B. Logan, 1994; Verbruggen & Logan, 2008).

Nach dem Modell von Logan und Cowan (1984) ist eine erfolgreiche Inhibition einer Handlung bei der Stop-Aufgabe von einem „Wettlauf“ zwischen dem so genannten Go-Prozess und dem Stop-Go-Prozess abhängig (Horse Race-Modell; Band, van der Molen, &

Logan, 2003; Logan & Cowan, 1984). Dies bedeutet, dass eine Reaktion dann ausgeführt wird, wenn der Go-Prozess gewinnt. Gewinnt der Stop-Prozess, erfolgt eine Inhibition der Reaktion. Der Ausgang des Wettlaufes zwischen Go- und Stop-Prozess lässt sich demnach in Form von Wahrscheinlichkeiten abbilden, da Go- und Stop-Prozess zeitgleich auftreten und die Zeit, die beide Prozesse jeweils benötigen, zufällig variiert. Je weniger Zeit der Stop-Prozess benötigt, desto unwahrscheinlicher ist es, dass der Go-Prozess den Wettlauf gewinnt. Infolgedessen erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass die Handlung erfolgreich inhibiert wird. Je mehr Zeit der Stop-Prozess benötigt, desto wahrscheinlicher ist es hinge-gen, dass der Go-Prozess den Wettlauf gewinnt und die Reaktion ausgeführt wird (Logan, 1994; Logan & Cowan, 1984).

Die Latenz des Stop-Prozesses (d. h. Stop-Signal-Reaktionszeit) ist nicht direkt mess-bar. Die Stop-Signal-Reaktionszeit (SSRZ) lässt sich jedoch mathematisch als Dichtefunk-tion charakterisieren und kann auf Basis der Verteilung der individuellen ReakDichtefunk-tionszeiten (d. h. der Zeit von der Präsentation eines Zielreizes bis zur Reaktion) und der SOAs (Sti-mulus Onset Asynchronität; d. h. Zeitintervall zwischen Darbietung des Zielreizes und des Stop-Signals) geschätzt werden (Band et al., 2003; Logan, 1994). Um die individuelle Be-reitschaft und Fähigkeit zur inhibitorischen Kontrolle zu erfassen, wurde für jedes Kind die mittlere Stop-Signal-Reaktionszeit (MSSRZ; Logan, 1994) ermittelt.

Versuchsaufbau. Zur Präsentation der Reize und zur Erfassung der Reaktionszeiten wurde ein IBM-kompatibler Rechner eingesetzt. Als Reizmaterial wurden Bilder mit

Sei-tenansichten von Autos mit unterschiedlicher Fahrtrichtung (links versus rechts) präsen-tiert. Als Stop-Signal erschien in einzelnen Durchgängen das Bild einer roten Ampel. Das Reizmaterial der Primäraufgabe (Auto) wurde in der Mitte des Bildschirms dargeboten, während das Stop-Signal (Ampel) jeweils links und rechts davon präsentiert wurde (siehe Abbildung 2).

Abbildung 2 Design der Stop-Aufgabe

Anmerkung. Darstellung eines Durchgangs mit Darbietung des Stop-Signals (1/3 aller Testdurchgänge). In den Durchgängen ohne Stop-Signal (Go-Durchgang) wurde der Zielstimulus (Auto) nach erfolgter Reaktion ausgeblendet oder verschwand nach 2500 ms, falls keine Reaktion erfolgte. Die Werte für die Stimulus Onset Asynchronität (SOA) wurden als gleich große Anteile (d. h. 20 %, 40 %, 60 % und 80 %) der durchschnittli-chen individuellen Reaktionszeiten in den ersten beiden Durchgängen ohne Stop-Signal (Baseline-Messung) bestimmt (Abbildung adaptiert aus Heikamp, Trommsdorff, Druey, et al., 2013, S. 4).

Die Kinder wurden instruiert mit dem Zeigefinger der linken Hand die linke Maustas-te zu drücken, sobald ein Auto dargeboMaustas-ten wurde, das nach links zeigMaustas-te. Sie sollMaustas-ten hinge-gen mit dem Zeigefinger der rechten Hand die rechte Maustaste drücken, wenn ein Auto dargeboten wurde, das nach rechts zeigte. Darüber hinaus wurden die Kinder instruiert so schnell und richtig wie möglich auf den dargebotenen Zielreiz (Auto) zu reagieren. Hinge-gen sollten sie nicht reagieren, sobald die rote Ampel erschien. Bei der Instruktion wurde betont, dass sie nicht auf die rote Ampel warten sollen, da das Stop-Signal nur gelegentlich erscheinen würde.

200 ms

300 ms

SOA

Die Aufgabe und der Versuchsablauf wurde für alle Kinder durch eine Versuchsleite-rin anhand von Bildkarten, auf denen das Reizmaterial (d. h. Auto, Ampel) dargestellt war, erklärt. Dadurch wurde gewährleistet, dass die Aufgabenstellung von allen Kindern richtig verstanden wurde.

Während der Versuchsdurchführung überprüfte die Versuchsleiterin nach jedem Auf-gabenblock die mittleren Reaktionszeiten und Fehlerraten und gab den Kindern eine ent-sprechende Rückmeldung. Daraufhin erhielten die Kinder nach jedem Aufgabenblock Spielmünzen in unterschiedlichen Größen, je nachdem, inwieweit die Aufgabe gemäß den Instruktionen korrekt bearbeitet wurde. Fehlerraten zwischen 30 % und 70 % in den Durchgängen (d. h. als Fehler wurde das Drücken einer Taste bei der Darbietung des Stop-Signals angesehen) und unter 25 % in den Go-Durchgängen wurden als angemessen be-trachtet. In den einzelnen Durchgängen erfolgte für die Kinder jedoch keine Leistungs-rückmeldung, zum Beispiel wenn eine Reaktion bei Darbietung des Stop-Signals nicht erfolgreich inhibiert wurde. Die individuelle Inhibitionsleistung wurde folglich nicht durch eine Belohnung verstärkt. Die Rückmeldung durch die Versuchsleiterin sollte jedoch si-cherstellen, dass die Kinder bei jedem Durchgang möglichst schnell reagierten und nicht auf das Stop-Signal warteten. Als Anreiz wurde den Kindern in Aussicht gestellt, dass sie alle gesammelten Münzen nach Beendigung der Stop-Aufgabe gegen ein kleines Geschenk eintauschen dürfen. Alle Kinder erfüllten die Kriterien und erhielten am Ende der Aufgabe ein Geschenk im Wert von 5.- € als Belohnung für ihre Teilnahme. Die Durchführung der Stop-Aufgabe einschließlich Instruktionen, Übungs- und Experimentalblöcken nahm ins-gesamt ungefähr 45 Minuten in Anspruch.

Versuchsablauf. Jeder Durchgang begann mit der Darbietung eines Fixationskreuzes für die Dauer von 200 ms. Es folgte für 300 ms ein leerer Bildschirm bis der primäre Auf-gabereiz (Auto) angezeigt wurde. In Go-Durchgängen und in nicht erfolgreich inhibierten Stop-Durchgängen wurde der primäre Aufgabenreiz bis zur Reaktion der Versuchsperson dargeboten. Nach erfolgter Reaktion wurde vor dem Start des nächsten Durchganges für die Dauer von 1000 ms ein leerer Bildschirm präsentiert. In erfolgreichen Stop-Durchgängen und in Go-Stop-Durchgängen, in denen fälschlicherweise keine Reaktion erfolgte, wurde der primäre Aufgabenreiz nach 2500 ms ausgeblendet. Danach wurde ebenfalls vor dem Start des nächsten Durchganges für 1000 ms ein leerer Bildschirm dargeboten.

Insgesamt bearbeiteten die Kinder 14 Aufgabenblöcke. Die ersten vier Aufgabenblö-cke (AufgabenblöAufgabenblö-cke 1 bis 4) bestanden pro Block aus jeweils 24 Go-Durchgängen in

de-nen kein Stop-Signal dargeboten wurde. Die ersten beiden dieser vier Aufgabenblöcke (Aufgabenblock 1 und 2) waren Übungsdurchgänge, die für die Datenauswertung nicht berücksichtigt wurden. Die beiden folgenden Aufgabenblöcke (Aufgabenblock 3 und 4) wurden als Baseline-Messung herangezogen, um die individuellen Reaktionszeiten der Kinder zu erfassen. Auf Basis der so ermittelten Reaktionszeiten wurden für jedes Kind die individuellen SOAs in den folgenden Aufgabenblöcken mit Stop-Durchgängen berechnet.

In den letzten zehn Aufgabenblöcken (Aufgabenblöcke 5 bis 14), die für die Berechnung der mittleren Stop-Signal-Reaktionszeiten herangezogen wurden, wurde das Stop-Signal in einem Drittel aller Durchgänge dargeboten. Jeder dieser Aufgabenblöcke bestand aus ins-gesamt 36 Durchgängen, die sich jeweils aus 24 Go- und 12 Stop-Durchgängen zusam-mensetzten.

Das Stop-Signal wurde jeweils zu vier unterschiedlichen SOAs nach Darbietung des primären Aufgabenreizes (Auto) präsentiert. Die Zeitintervalle wurden dabei so gewählt, dass das kürzeste Intervall eine Inhibitionswahrscheinlichkeit ergab, die nahe bei 1 lag.

Das längste Zeitintervall wurde hingegen so gewählt, dass die Wahrscheinlichkeit die Reizreaktion bei Präsentation des Stop-Signals erfolgreich zu inhibieren nahezu bei 0 lag.

Entsprechend dem von Carter und Kollegen (2003) beschriebenen Vorgehen wurden die SOAs auf Basis der in den Aufgabenblöcken 3 und 4 erfassten durchschnittlichen Go-Reaktionszeit ermittelt. Die SOAs wurden dabei als gleich große Anteile (d. h. 20 %, 40 %, 60 % und 80 %) der mittleren individuellen Reaktionszeit für jeden Probanden fest-gesetzt. Da sich in vorangegangenen Studien (z. B. Logan, 1994) gezeigt hat, dass die mitt-leren SOAs (d. h. 40 %- und 60 %-Intervall) für die Ermittlung der mittmitt-leren Stop-Signal-Reaktionszeiten von größerer theoretischer Bedeutung sind als das kürzeste (d. h. 20 %-Intervall) beziehungsweise das längste Intervall (d. h. 80 %-%-Intervall) wurden die beiden mittleren SOAs zweimal so häufig wie das kürzeste und das längste Intervall dargeboten.

Berechnung der mittleren Signal-Reaktionszeit. Die Latenzzeit des Stop-Prozesses, das heißt die mittlere Stop-Signal-Reaktionszeit (MSSRZ), wurde individuell für jedes einzelne Kind gemäß dem von Logan (1994) vorgeschlagenen Verfahren mathe-matisch geschätzt. In einem ersten Schritt wurden alle Reaktionszeiten (RZ) der Go-Durchgänge (d. h. Go-Durchgänge der Aufgabenblöcke 5 bis 14, in denen keine Darbietung des Stop-Signals erfolgte) für jedes Kind über alle Blöcke hinweg zusammengefasst und in eine Rangfolge gebracht. In einem zweiten Schritt wurden aus der aufsteigend sortierten Verteilung der Reaktionszeiten vier Werte (RZa, RZb,RZc und RZd) in Abhängigkeit von

ihrer Position in der Verteilung ausgewählt. Die Positionen a, b, c und d der Reaktionszei-ten innerhalb der sortierReaktionszei-ten Verteilung wurden wie folgt ermittelt: Für jedes SOA-Intervall wurde für jedes Kind individuell die Wahrscheinlichkeit berechnet, dass bei Darbietung des Stop-Signals eine Reaktion erfolgt ist (p [Reaktion ׀ Stop-Signal]) und mit der Anzahl der Reaktionszeiten in der sortierten Verteilung multipliziert (z. B. wenn die Reaktions-wahrscheinlichkeit p [Reaktion ׀ Stop-Signal] im kürzesten SOA .10 wäre und die sortierte Verteilung 100 RZ umfassen würde, dann würde die Reaktionszeit ausgewählt, die an 10.

Stelle in der sortierten Verteilung liegt [.10 x 100 = 10]). Um die Stop-Signal-Reaktionszeit für das betreffende SOA-Intervall zu ermitteln, wurde in einem letzten Schritt der entsprechende SOA-Wert von dem ausgewählten Wert der Go-Signal Reakti-onszeit subtrahiert. Um die mittlere Stop-Signal-ReaktiReakti-onszeit zu bestimmen, wurden die Stop-Signal-Reaktionszeiten, die für alle vier SOA-Intervalle berechnet wurden, gemittelt.

Die mittlere Stop-Signal-Reaktionszeit entspricht hierbei der geschätzten Zeit, die benötigt wird, um eine laufende Reaktion erfolgreich zu inhibieren. Dementsprechend bedeuten niedrige MSSRZ-Werte eine hohe Bereitschaft und Fähigkeit zu inhibitorischer Kontrolle.

Für die statistische Datenanalyse zur Prüfung der Hypothesen und Forschungsfragen wurde die so berechnete MSSRZ Variable mit -1 multipliziert. Demzufolge entsprachen höhere Werte einer höherer Bereitschaft und Fähigkeit zu inhibitorischer Kontrolle. Die Daten zur Erfassung der inhibitorischen Kontrolle konnten für 38 Jungen und 49 Mädchen aus Deutschland und für 31 Jungen und 35 Mädchen aus Indien ausgewertet werden.