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2.3 I NHIBITORISCHE K ONTROLLE

2.3.1 Formen der Inhibition

In der Entwicklungspsychologie sind inhibitorische Kontrollprozesse Gegenstand der Temperamentsforschung. Rothbart und Kollegen (Rothbart & Bates, 2006; Rothbart, Ellis,

& Posner, 2004) definieren Temperament als biologisch bedingte individuelle Unterschie-de in Unterschie-der Reaktivität und Selbstregulation, die im Entwicklungsverlauf reifungsbedingten und erfahrungsabhängigen Veränderungen (z. B. Erziehung) unterliegen. Individuelle Un-terschiede in der Reaktivität bestehen bezüglich der Reizschwelle sowie Intensität und Dauer emotionaler, verhaltensbezogener oder physiologischer Reaktionen auf Umweltrei-ze. Selbstregulation (d. h. effortful control) ist als Temperamentsmerkmal definiert, das Prozesse einschließt (z. B. inhibitorische Kontrolle), die der Regulation individueller Reak-tionen (z. B. emotionales Erleben und Verhalten) auf Umweltreize dienen.

Hinsichtlich der Reaktivität lassen sich zwei biologisch verankerte, motivationale Verhaltenssysteme unterscheiden, die Annäherungs- oder Vermeidungstendenzen aktivie-ren (behavioral activation system / behavioral inhibition system; Derryberry & Rothbart, 1997). Das Aktivierungssystem löst Annäherungsverhalten in Situationen aus, die mit posi-tiven Verstärkern (d. h. Belohnungsreizen) assoziiert sind. Das Vermeidungssystem

akti-viert die Hemmung von Verhalten bei Reizen, die unbekannt sind oder Bestrafung bezie-hungsweise Nichtbelohnung signalisieren. Individuelle Unterschiede in der Reaktivität sind entwicklungspsychologisch bedeutsam, da sie biologisch bedingt sind, früh in der Ontogenese auftreten und eine moderate Stabilität im Entwicklungsverlauf aufweisen. In-dividuelle Unterschiede bestehen hinsichtlich der Stärke des Verhaltensaktivierungs- und Hemmungssystems (d. h. bezüglich der Sensitivität für Belohnung und Bestrafung) (Hen-derson & Wachs, 2007). Im ersten Lebensjahr zeigen sich zum Beispiel individuelle Ver-haltensunterschiede, inwieweit sich Kleinkinder mit Neugier und Interesse unbekannten Objekten nähern oder ängstlich reagieren und auf Distanz gehen (Putnam & Stifter, 2002).

Das Verhaltensaktivierungssystem steht mit der Entwicklung von Persönlichkeitsmerkma-len wie Extraversion (z. B. positive emotionale Expressivität) in Verbindung und hängt im Entwicklungsverlauf mit Impulsivität zusammen. Das Verhaltenshemmungssystem ist da-gegen mit der Entwicklung von Ängstlichkeit (z. B. Vermeidung von unbekannten Situati-onen) assoziiert (Rothbart, Ahadi, & Evans, 2000).

Bezugnehmend auf das Temperamentsmodell von Rothbart und Kollegen grenzen Ei-senberg et al. (2011) individuelle Unterschiede hinsichtlich der Reaktivität auf Umweltrei-ze von ProUmweltrei-zessen intentionaler Selbstregulation (d. h. effortful control) ab. Rothbart und Bates (2006, S. 129) definieren effortful control als ein mehrdimensionales Konstrukt exekutiver Aufmerksamkeitskontrolle: “[…] the efficiency of executive attention – includ-ing the ability to inhibit a dominant response and / or to activate a subdominant response, to plan, and to detect errors […]”. Gemäß dieser Definition beinhaltet das Konstrukt effortful control neben der Fähigkeit zur intendierten Hemmung einer dominanten Reakti-on, die Fähigkeit zur Handlungsplanung sowie Denk-, Planungs-, und Handlungsfehler zu erkennen und zu korrigieren (Eisenberg et al., 2011; Rothbart & Bates, 2006).

Reaktive Prozesse sind primär affektbasiert und aktivieren reflexive Annäherungs- oder Vermeidungstendenzen, die auf einfachen Reiz-Reaktions-Verbindungen beruhen.

Exekutive Prozesse, einschließlich inhibitorischer Kontrolle, ermöglichen dagegen die in-tentionale Regulation von Emotionen und Verhalten; das heißt die Initiierung und Auf-rechterhaltung zielgerichteten Verhaltens, um ein angestrebtes Ziel zu erreichen (Eisenberg et al., 2011; siehe auch Metcalfe & Mischel, 1999). Die Fähigkeit zu inhibitorischer Kon-trolle ist eine Voraussetzung, um einem Verhaltensimpuls nicht unüberlegt, oder ungeach-tet negativer Handlungsfolgen, nachzugeben. Angst vor Bestrafung kann das Verhaltens-hemmungssystem aktivieren und dazu motivieren, ein Verbot einzuhalten. Exekutive Kontrollprozesse erlauben jedoch auch die Regulation negativer Emotionen (z. B. Angst)

und somit die Überwindung einer Verhaltenshemmung in Situationen, die Vermeidungs-tendenzen aktivieren. Individuelle Unterschiede im Verhalten beruhen auf unterschiedlich starken Ausprägungen von Prozessen der Reaktivität und Selbstregulation sowie ihrer Wechselwirkung. Exekutive Handlungskontrolle (d. h. effortful control) ermöglicht eine flexible und intentionale Regulation von Emotionen und Verhalten. Personen mit einer hohen Bereitschaft und Fähigkeit zu exekutiver Handlungskontrolle können spontan in Situationen reagieren, in denen impulsives Verhalten sozial akzeptiert ist. Sie sind jedoch auch in der Lage unerwünschte Reaktionen zu inhibieren, wenn dies erforderlich ist, um individuelle oder soziale Ziele zu erreichen.

Reaktive und exekutive Kontrollprozesse repräsentieren theoretisch-konzeptuell und aus empirischer Sicht eigenständige Temperamentsaspekte, die miteinander in Wechsel-wirkung stehen. Insbesondere neurophysiologische Studien haben die Annahme bestätigt, dass eine Unterscheidung zwischen reaktiven Prozessen (d. h. reaktive Verhaltenshem-mung) und exekutiven Kontrollprozessen (d. h. effortful control) theoretisch sinnvoll ist.

Reaktive Prozesse sind neuroanatomisch in subkortikalen Systemen (z. B. Amygdala) ver-ankert, die an der Entstehung emotionaler Reaktionen (z. B. Angst bei Bestrafungsreizen) beteiligt sind. Selbstregulatorische Prozesse sind mit neurobiologischen Strukturen im Frontalhirn (u. a. anteriorer Gyrus cinguli) assoziiert (Blair & Dennis, 2010; Eisenberg et al., 2011; Henderson & Wachs, 2007).

In der entwicklungspsychologischen Literatur besteht ein weitgehender Konsens, dass die Bereitschaft und Fähigkeit zu inhibitorischer Kontrolle (d. h. Bereitschaft und Fähig-keit eine dominante Reaktion zu inhibieren) eine zentrale Rolle für die emotionale und soziale Entwicklung spielt (z. B. Eisenberg et al., 2011; Kopp, 1982; Murray &

Kochanska, 2002). Die teils uneinheitliche theoretische Konzeptualisierung und unter-schiedliche methodische Operationalisierungen inhibitorischer Kontrolle stellen in der entwicklungspsychologischen Forschung jedoch nicht zu vernachlässigende Schwierigkei-ten dar (Diamond, 2013; Zhou, Chen, & Main, 2012). Nach Rothbart und Bates (2006) ist inhibitorische Kontrolle auf theoretisch-konzeptueller Ebene ein Teilaspekt des exekutiven Aufmerksamkeitssystems. Häufig erfolgte die Erfassung inhibitorischer Kontrolle in ent-wicklungspsychologischen Studien mittels Fragebögen (d. h. Fremdeinschätzung durch Bezugspersonen). Die Auswertung von Fragebogendaten mittels explorativer Faktorenana-lysen ergab einen Faktor effortful control, auf dem unter anderem die Skala inhibitorische Kontrolle lud (siehe Children’s Behavior Questionnaire; Ahadi, Rothbart, & Ye, 1993;

Putnam & Rothbart, 2006; Rothbart, Ahadi, Hershey, & Fisher, 2001).

Bei der Erfassung inhibitorischer Kontrolle mittels Beobachtungs- oder Verhaltens-maßen kamen ganz unterschiedliche Verfahren zum Einsatz (z. B. Belohnungsaufschub, Go/No-Go Aufgabe, Resistance to temptation Aufgaben; für eine Übersicht siehe Garon, Bryson, & Smith, 2008; Spinrad et al., 2007). Eine von Kochanska et al. (1996) entwickel-te Testbatentwickel-terie erfassentwickel-te zum Beispiel die Fähigkeit, leise zu sprechen, eine Reaktion zu un-terdrücken oder eine Verhaltensreaktion zu modulieren. Faktorenanalysen ergaben alters-unabhängig (bei Kindern zwischen 3 und 6 Jahren) mindestens zwei Faktoren, die neben der Modulation motorischer Reaktionen (d. h. Verlangsamung motorischer Aktivität) kon-sistent inhibitorische Kontrolle als eigenständigen Faktor abbildeten (Dennis et al., 2007;

Murray & Kochanska, 2002).

In der kognitiven Psychologie sind inhibitorische Kontrollprozesse unter dem theore-tischen Konzept der exekutiven Funktionen Gegenstand der Forschung (Diamond, 2013;

Zhou et al., 2012). Exekutive Funktionen sind kognitive Prozesse, die der Planung, Initiie-rung und Regulation zielgerichteten Verhaltens dienen (Miyake et al., 2000). Kontrovers wird auch hier die Frage diskutiert, inwieweit exekutive Funktionen ein einheitliches Kon-strukt darstellen (z. B. Huizinga, Dolan, & van der Molen, 2006). Auf der Basis konfirmatorischer Faktorenanalysen schlussfolgerten Miyake et al. (2000), dass im Er-wachsenalter exekutive Funktionen ein mehrdimensionales Konstrukt repräsentieren.

Demnach lassen sich drei weitgehend voneinander unabhängige Funktionen unterscheiden:

Updating (d. h. Kodierung und Überwachung von Informationen im Arbeitsgedächtnis), shifting (d. h. Wechsel zwischen Aufgaben oder Tätigkeiten) und inhibition (d. h. Hem-mung dominanter Reaktionen). Die Untersuchung exekutiver Funktionen bei Kindern zwi-schen zwei und sechs Jahren mittels konfirmatorischer Faktorenanalysen ergab eine Einfaktorenstruktur (Wiebe et al., 2008), wobei sich die Modellpassung nicht signifikant von der Zwei- bzw. Dreifaktorenlösung unterschied. Eine metaanalytische Studie legt je-doch nahe, dass im Vorschulalter altersabhängig differentielle Zusammenhänge zwischen exekutiven Funktionen (u. a. inhibitorischer Kontrolle) und Verhaltensproblemen bestehen (Schoemaker, Mulder, Deković, & Matthys, 2013). Die Befunde von Schoemaker et al.

(2013) deuten daraufhin, dass in der Kindheit ein mehrdimensionales Modell exekutiver Funktionen eine höhere ökologische Validität besitzt als ein eindimensionales Modell.

Inhibitorische Kontrolle (d. h. intendierte Hemmung einer dominanten Reaktion) ist von anderen inhibitorischen Prozessen wie Interferenzkontrolle oder kognitiver Inhibition abzugrenzen (Miyake et al., 2000; Nigg, 2000). Interferenzkontrolle bezieht sich auf die Inhibition von Prozessen der Informationsverarbeitung (z. B. visuelle oder auditive Reize),

die das Arbeitsgedächtnis beeinträchtigen können (Hasher & Zacks, 1988). Eine Form der Inhibition, die nicht Prozessen intentionaler Kontrolle unterliegt, lässt sich bei der Bearbei-tung sogenannter Negative Priming-Aufgaben beobachten. In diesen Aufgaben sind die Probanden instruiert bei der Bearbeitung einer Aufgabe zunächst einen irrelevanten Reiz zu ignorieren. In einem unmittelbar darauf folgenden Durchgang sollen sie jedoch auf den zuvor ignorierten Reiz reagieren. Hierbei zeigte sich, dass die kurz darauf folgende kogni-tive Verarbeitung des zuvor ignorierten Reizes beeinträchtigt ist, wenn dieser bereits zuvor präsentiert wurde (Nigg, 2000).

Im Gegensatz zur Interferenzkontrolle oder inhibitorischen Prozessen, die sich bei Negative Priming-Aufgaben beobachten lassen, beinhaltet die hier untersuchten Form inhibitorischer Kontrolle die intentionale Hemmung einer dominanten Reaktion (Logan, 1994; siehe auch Diamond, 2013; Nigg, 2000). Logan (1994) definiert inhibitorische Kon-trolle als die Fähigkeit, eine bereits initiierte Reaktion zu unterdrücken; zum Beispiel wenn sich eine Situation oder die Bewertung einer Situation plötzlich ändert. Ein Alltagsbeispiel wäre eine Person, die im Begriff ist eine Straße zu überqueren, aber stoppt und nicht wei-terläuft, da die Ampel unerwartet auf Rot gesprungen ist (Diamond, 2013). Die Erfassung der von Logan (1994) beschriebenen Form inhibitorischer Kontrolle beruht auf dem Stop-Paradigma. Bei der Stop-Aufgabe sollen Probanden eine Primäraufgabe bearbeiten, indem sie zum Beispiel durch das Drücken einer Taste (z. B. links, rechts) auf einen Zielreiz (z. B. Kreis, Quadrat) reagieren. Die Probanden erhalten ebenfalls die Instruktion, beim Auftreten eines Stop-Signals die Reaktion auf den Zielreiz nicht auszuführen, das heißt die dominante Reaktion zu hemmen (für eine genaue Beschreibung des Stop-Paradigmas siehe Abschnitt 3.2.4).