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2.2 V ERHALTENSSTEUERUNG UND I NTERNALISIERUNG VON V ERHALTENSREGELN

2.2.2 Aspekte der Internalisierung von Verhaltensregeln

Die Internalisierung von Verhaltensregeln ist eng mit der soziomoralischen Entwick-lung verbunden. Aus psychologischer Sicht beinhaltet das Konzept der Moral kognitive (z. B. Gerechtigkeitsüberzeugungen) und affektiv-motivationale (z. B. Schuldgefühle) As-pekte und umfasst Handlungsphänomene wie kooperatives Verhalten oder das Unterlassen

von Handlungen, die andere Personen schädigen (Krebs, 2008). Entwicklungspsychologi-sche Forschungsansätze legen ganz unterschiedliche Schwerpunkte hinsichtlich der Unter-suchung von Entwicklungsbedingungen für die Internalisierung von Verhaltensregeln (Keller & Malti, 2008; Thompson et al., 2006).

Kognitive Ansätze, maßgeblich vertreten durch Jean Piaget und Lawrence Kohlberg, betonen, dass die Motivation soziale Normen zu befolgen von bereichsspezifischen kogni-tiven Entwicklungsprozessen abhängig ist. Gemeinsam ist diesen Ansätzen, dass die Ent-wicklung moralischen Denkens im Mittelpunkt steht. Die EntEnt-wicklung von Moralvorstel-lungen ist durch zwei wesentliche Entwicklungsveränderungen gekennzeichnet. Gemäß dem Stufenmodell der moralischen Entwicklung wird eine egozentrische Perspektive, die primär an persönlichen Bedürfnissen ausgerichtet ist, zunächst durch eine Orientierung an sozialen Erwartungen der Gruppe (z. B. Autoritätspersonen) abgelöst. Im weiteren Ent-wicklungsverlauf treten an die Stelle von Konformitätsnormen (z. B. Konformität mit Bräuchen, Gesetzen oder Gruppenkonsens) allgemeingültige ethische Prinzipien. Ent-scheidend für die Erfassung des Entwicklungsstandes anhand hypothetischer Dilemmata ist dabei nicht die Entscheidung, die eine Person trifft, sondern die Begründung ihres Han-delns in hypothetischen Situationen (siehe z. B. Übersicht in Keller, 2005).

Die ursprünglich angenommene universelle Gültigkeit des Modells hat sich jedoch als nicht haltbar erwiesen. Die Art der Begründung und die in einer Kultur erreichte Stufe der moralischen Entwicklung variierten in Abhängigkeit des soziokulturellen Kontextes. Wäh-rend US-Amerikaner ihre individuellen Rechte betonten, verwiesen indische Jugendliche und Erwachsene häufiger auf soziale Erwartungen und Verpflichtungen, wenn sie begrün-den sollten, warum ein Verhalten falsch oder richtig ist (Shweder et al., 1987). In affektiv-motivationalen Theorien steht die Erforschung moralischer Emotionen (z. B. Scham, Schuld), ihrer Entstehungsbedingungen und ihrer Funktion für die Bereitschaft zur Befol-gung von Verhaltensregeln im Mittelpunkt (Keller & Malti, 2008). Sogenannte „bewusste“

Emotionen (self-conscious emotions) sind für die moralische Entwicklung von Bedeutung, da sie mit kognitiven Bewertungsprozessen (d. h. Selbstbewertungen) verbunden sind (Ei-senberg, 2000; Hoffman, 2000).

Das Interesse Internalisierungsprozesse bereits im Kleinkind- und Vorschulalter zu untersuchen, hat in den letzten Jahren stetig zugenommen, da Kinder in diesem Alter ent-gegen traditioneller Annahmen weit mehr als nur eine rein egozentrische Sichtweise auf ihre Welt haben (Thompson et al., 2006). Sozial-kognitive Ansätze betonen, dass das Be-folgen sozialer Regeln nicht ausschließlich durch Vermeidung negativer Sanktionen oder

Belohnungen von Autoritätspersonen zu erklären ist (siehe Abschnitt 2.2.1). In der vorlie-genden Arbeit erfolgt die Untersuchung der Bereitschaft und Fähigkeit zur Internalisierung und Befolgung von Verhaltensregeln aus einer Selbstregulationsperspektive (Kochanska, 1994). Selbstreguliertes Handeln erfordert Standards, an denen das Verhalten ausgerichtet ist (Bandura, 1986; Baumeister & Vohs, 2007). Zentral ist die hier bereits skizzierte An-nahme, dass die im Entwicklungsverlauf wachsende Bereitschaft und Fähigkeit zur Befol-gung und Internalisierung von Verhaltensregeln, mit einer Internalisierung von Regulati-onsprozessen einhergehen (Bandura, 1986; Kopp, 1982; Ryan & Deci, 2000). Angeleitet durch Bezugspersonen lernen Kinder in sozialen Interaktionen ihr Verhalten an sozialen Erwartungen auszurichten und zu regulieren. Eine erfolgreiche Internalisierung sozialer Verhaltensstandards resultiert im Entwicklungsverlauf schließlich in einer hohen Bereit-schaft und Fähigkeit Verhaltensregeln auch in Abwesenheit von Bezugspersonen zu befol-gen (Kopp, 1982).

Das Befolgen von Verhaltensregeln kann durch soziale Sanktionen oder antizipierte Selbstbewertungen motiviert sein (Bandura, 1986, 1991). Im Entwicklungsverlauf ist die Bereitschaft Verhaltensregeln zu befolgen zunächst abhängig von den Reaktionen der Be-zugspersonen (z. B. Lob), die unmittelbar in einer Situation erfolgen. Selbstreguliertes Verhalten zeichnet sich dadurch aus, dass es an internalisierten Standards ausgerichtet ist und eigene Handlungen Gegenstand von Selbstbewertungen sind. Verhalten, das mit inter-nalisierten Standards übereinstimmt, wird positiv beurteilt. Entspricht das eigene Verhalten nicht den Ansprüchen und Erwartungen an sich selbst, erfolgen negative Bewertungsreak-tionen (Bandura, 1991, 2006). Selbstbewertungen können in EmoBewertungsreak-tionen resultieren, die bei Regelverletzungen dazu motivieren, Fehlverhalten einzugestehen oder Wiedergutmachung zu leisten (Baumeister, Stillwell, & Heatherton, 1994; Tangney, Stuewig, & Mashek, 2007). Die Internalisierung von Verhaltensregeln geht einher mit der Aneignung von Wis-sen über angemesWis-senes Verhalten und der Entwicklung relativ stabiler, situationsspezifi-scher Verhaltensroutinen (Kopp, 1982; Rossano, 2012; siehe auch Heikamp, 2014).

Die Untersuchung der Entwicklung der Bereitschaft und Fähigkeit zur Befolgung und Internalisierung von Verhaltensregeln in der vorliegenden Arbeit knüpft an Vorarbeiten von Kochanska und Kollegen an (z. B. Aksan & Kochanska, 2005; Kochanska & Aksan, 2006; Kochanska et al., 1994). Hinsichtlich der Internalisierung von Verhaltensregeln un-terscheiden Kochanska et al. (1994) zwischen einer affektiven Komponente (affective

discomfort) und einer Verhaltenskomponente (active moral regulation).4 Die affektive Komponente umfasst negative emotionale Reaktionen (z. B. Schuldgefühle), die infolge eigenen Fehlverhaltens auftreten. Die Verhaltenskomponente, die hier im Mittelpunkt steht, kommt in der Bereitschaft und Fähigkeit eines Kindes zum Ausdruck, Verhaltensre-geln in Abwesenheit von Bezugspersonen zu befolgen. Dies umfasst einerseits die Bereit-schaft und Fähigkeit proaktiv Tätigkeiten zu initiieren oder selbständig auszuführen (z. B.

Haushaltspflichten wie Aufräumen) und andererseits die Kontrolle unerwünschter Verhal-tensreaktionen (z. B. Einhalten von Verboten). Neben der Bereitschaft und Fähigkeit zu internalisierter Verhaltenssteuerung umfasst die hier thematisierte Internalisierung von Verhaltensregeln auch die Frage, wie Kinder mit eigenen Regelverstößen umgehen. Das Verletzen von Verhaltensregeln löst auch dann selbstbewertende Reaktionen (z. B. Schuld, Scham) aus, wenn das Fehlverhalten unentdeckt bleibt (z. B. Kochanska, Gross, Lin, &

Nichols, 2002; siehe auch Tomasello & Vaish, 2013). Dies kann bedeuten, eigene Regel-verstöße einzuräumen oder Versuche zu unternehmen, für selbstattribuiertes Fehlverhalten Wiedergutmachung zu leisten, wenn ein Schaden für eine andere Personen entstanden ist (Hoffman, 2000). Darüber hinaus stellt die Sensibilität für Regeln und Vorschriften bei Kindern im Vorschulalter einen weiteren Aspekt der Internalisierung von Verhaltensregeln dar (Kochanska et al., 1994). Neben internalisierter Verhaltenssteuerung sind Schuldein-geständnis, Wiedergutmachung und Betroffenheit gegenüber Regelverletzungen anderer Personen Verhaltensaspekte der Internalisierung von Verhaltensregeln, da ein entspre-chendes Verhalten signalisiert, dass ein Kind sich den Verhaltensregeln bewusst ist und sich ihnen verpflichtet fühlt (Tomasello & Vaish, 2013).

Die vorliegende Arbeit befasst sich also zum einen mit der Bereitschaft und Fähigkeit von Kindern Verhaltensregeln zu befolgen und zum anderen mit Verhaltensreaktionen von Kindern auf selbstattribuierte oder durch andere verursachte Regelverstöße. Verhaltens-standards im Sinne von Normen sind gegenseitige Erwartungen und Verpflichtungen, wie sich eine Person in einer bestimmten Situation verhalten sollte, die allen Mitgliedern einer Gruppe bekannt sind. Normen sind nicht ein Ergebnis individueller Überzeugungen,

4 Kochanska et al. (1994; siehe auch Aksan & Kochanska, 2006; Kochanska & Aksan, 2004) bezeichnen die Verhaltenskomponente als „moralisches Verhalten“ (moral conduct) und verwenden den Begriff „Gewissen“

(conscience) für das übergeordnete Konzept, das die beiden Komponenten verbindet. Der Begriff der Moral ist komplex und mehrdeutig, insbesondere da kulturspezifische Maßstäbe bestehen, was moralisch falsch oder richtig ist (Krebs, 2008; aus philosophischer Sicht siehe Birnbacher, 2009). Da in der vorliegenden Arbeit nur ein Aspekt „moralischen Verhaltens“ (d. h. Bereitschaft und Fähigkeit zur Befolgung und Interna-lisierung von Verhaltensregeln) im Mittelpunkt steht, sind die Begriffe „Gewissen“ und „Moral“ für den vorliegenden Untersuchungsgegenstand zu weit gefasst und werden daher nicht verwendet.

dern sind soziale Konventionen, die handlungsleitend wirken, da sie auf sozialer Überein-kunft beruhen und für alle Gruppenmitglieder verbindlich sind. Kinder lernen bereits im Vorschulalter, dass allgemeingültige Verhaltensregeln existieren, und versuchen Normen Geltung zu verschaffen, wenn sie Regelüberschreitungen durch andere Personen beobach-ten (Rakoczy & Schmidt, 2013; Tomasello &Vaish, 2013). Im Folgenden erfolgt eine Dar-stellung der einzelnen Aspekte der Internalisierung von Verhaltensregeln.

Internalisierte Verhaltenssteuerung

Bereits sehr früh sind Kinder mit einer Vielzahl ganz unterschiedlicher Verhaltenser-wartungen und Regeln konfrontiert. Eltern sprechen Verbote aus, um zu verhindern, dass Kinder sich verletzen oder Schaden anrichten. Kinder sollen aber auch lernen, eigene Be-dürfnisse aufzuschieben, wenn eine Bezugsperson nicht sofort verfügbar ist. Durch die Vermittlung von Verhaltensregeln lernen Kinder, Bedürfnisse anderer Personen zu respek-tieren und erfahren, dass ihren eigenen Handlungszielen Grenzen gesetzt sind (Gralinski &

Kopp, 1993).

In den ersten beiden Lebensjahren haben elterliche Anforderungen die Funktion, Kin-der vor möglichen Gefahren zu schützen und in familiäre Routinen und Rituale einzube-ziehen (Gralinski & Kopp, 1993; Kopp, 1987; Smetana, Kochanska, & Chuang, 2000).

Aufgrund der fortschreitenden motorischen Entwicklung und der fehlenden Fähigkeit eines Kindes Gefahrensituationen zu erkennen, steht zunächst die Sicherheit des Kindes im Vor-dergrund. Verhaltensregeln haben aber auch das Ziel zu verhindern, dass Kinder Schaden anrichten und beinhalten daher auch das Lernen erster sozialer Umgangsformen (z. B.

nicht beißen, treten). Hinsichtlich der Bereitschaft und Fähigkeit Verhaltensregeln zu be-folgen unterscheidet Kopp (1987) vier Formen der Verhaltenssteuerung, die in den ersten drei Lebensjahren auftreten. Zum einen ist dies die Bereitschaft und Fähigkeit unerwünsch-tes Verhalten zu unterdrücken oder eine Tätigkeit auszuführen, um elterlichen Aufforde-rungen nachzukommen. Zum anderen zählen hierzu die Fähigkeit regelkonformes Verhal-ten auch in Abwesenheit von Bezugspersonen zu initiieren und die InVerhal-tensität von VerhalVerhal-ten einer Situation angemessen zu modulieren (z. B. leise sprechen).

Mit Beginn des zweiten Lebensjahres lernen Kinder Verhalten selbständig zu initiie-ren, um sich an Verhaltensregeln zu halten, ohne dass es einer expliziten Aufforderung durch Bezugspersonen bedarf. Dies kann als ein qualitativer Sprung in der Entwicklung der Verhaltenssteuerung bezeichnet werden, da das Verhalten Ausdruck der Entwicklung eines ersten Verständnisses für Verhaltensregeln ist. Ein Kind lernt, dass bestimmte

Objek-te mit VerboObjek-ten belegt sind, und kann sich selbst instruieren, entsprechend zu handeln, um ein Verbot einzuhalten (z. B. sich selbständig von Gefahrenquellen fernzuhalten). Eine weitere Form der Verhaltensteuerung ist die Verhaltensmodulation. Wenn ein Kind dazu aufgefordert wird, ist es in der Lage, die Intensität seines Verhaltens zu verändern (z. B.

leise sprechen). Dies erfordert die Fähigkeit eine Situation richtig zu interpretieren, zu ent-scheiden welche Intensität angemessen ist und die Handlung entsprechend anzupassen. Mit Beginn des zweiten Lebensjahres entwickeln Kinder ein zunehmendes aktives und passives Sprachverständnis. Dies ermöglicht, ein Kind nicht nur non-verbal (z. B. durch Zeigeges-ten), sondern auch verbal anzuleiten und das Verhalten eines Kindes zu strukturieren (Kaler & Kopp, 1990; Kopp, 1987).

Im dritten Lebensjahr gewinnt die Vermittlung sozialer Konventionen und Förderung der Selbständigkeit eines Kindes an zunehmender Bedeutung, wenn erste soziale Bezie-hungen außerhalb der Familie (z. B. mit Peers) entstehen. Verhaltensregeln werden elabo-rierter, wenn Kinder Begründungen für Regeln verstehen. Ferner entwickeln Kinder die Fähigkeit, ihr Verhalten flexibel an kontextspezifische Verhaltensregeln anzupassen. Auch wenn es auf dem Spielplatz erlaubt ist, herumzutoben, lernen Kinder, dass es hingegen erwartet wird, in einem Restaurant still sitzen zu bleiben. Im Verlauf des dritten und des vierten Lebensjahres unternehmen Eltern Anstrengungen, dass ein Kind selbständig Ver-haltensregeln befolgt, ohne dass es einer Aufforderung und Kontrolle durch Bezugsperso-nen bedarf (Kopp, 1982, 1987).

Abgestimmt auf die sich entwickelnden Bereitschaft und Fähigkeit zur Selbstregulati-on kommunizieren BezugspersSelbstregulati-onen zunehmend elaborierter werdende Verhaltensregeln.

Im Kleinkindalter steht die Sicherheit eines Kindes im Mittelpunkt. Mit der voranschrei-tenden kognitiven und sprachlichen Entwicklung gewinnen Verhaltenserwartungen an Be-deutung, die erhöhte Anforderungen an die Selbständigkeit eines Kindes stellen (z. B. selb-ständiges Anziehen; Gralinski & Kopp, 1993). Generell fällt es Kindern schwerer, Vor-schriften zu befolgen, die die Ausführung einer Tätigkeit beinhalten, als Verbote umzuset-zen (Kochanska et al. 1998; Kochanska, Coy, & Murray, 2001). Diese Befunde lassen sich durch veränderte Verhaltenserwartungen im Entwicklungslauf und der Entwicklung der Fähigkeit zur Selbstregulation erklären. Einerseits fordern Bezugspersonen früh in der Entwicklung von ihren Kindern das Einhalten von Verboten ein, um sie vor gefährlichen Situationen zu schützen (Gralinski & Kopp, 1993; Kochanska et al., 1998). Andererseits beansprucht die Aufrechterhaltung einer zielgerichteten Tätigkeit komplexere Prozesse der

Selbstregulation, als die Inhibierung unerwünschten Verhaltens (Kochanska & Aksan, 1995; Kochanska et al., 2001).

Schuldeingeständnis und Wiedergutmachung

Die Bereitschaft eigenes Fehlverhalten einzugestehen (d. h. Schuldeingeständnis) und einen verursachten Schaden zu kompensieren (d. h. Wiedergutmachung), als Aspekte der Internalisierung von Verhaltensregeln, hängen mit der Entwicklung selbstbewertender Emotionen zusammen. Die wahrgenommene Diskrepanz zwischen eigenem Handeln und sozialen Standards (z. B. beim Übertreten von Verhaltensregeln) kann das Erleben negati-ver Emotionen wie Schuld oder Scham auslösen. Beide Emotionen haben eine zentrale Funktion für die Internalisierung von Verhaltensregeln, da sie Bewertungsprozesse aktivie-ren und selbstreguliertes Handeln motivieaktivie-ren.

Das Erleben von Scham geht einher mit einer negativen Bewertung des Selbst und dem Gefühl der sozialen Abwertung durch andere Personen, mit deren Augen eine Person sich selbst betrachtet und erkennt, nicht dem eigenen Idealbild zu entsprechen. Da das ei-gene Selbstbild in Frage gestellt ist, neigen Personen zu sozialem Rückzug, um sich ver-meintlichen oder tatsächlichen negativen Bewertungen durch andere Personen zu entziehen und ein positives Selbstwertgefühl zu bewahren (Fischer & Mascolo, 2007; Tangney et al., 2007). Steht beim Erleben von Scham die Bewertung der eigenen Person durch andere im Mittelpunkt, empfindet eine Person Schuld, wenn ein bestimmtes Verhalten Gegenstand negativer Bewertung ist (Baumeister et al., 1994; Wong & Tsai, 2007).

Wie bereits thematisiert, sind das zweite und das dritte Lebensjahr durch Veränderun-gen bezüglich der Selbstkonzeptentwicklung und der Entwicklung von Selbstregulation und damit einhergehendem Kompetenzerleben gekennzeichnet (Harter, 2012; Kopp, 1982). Im Alter von 18 Monaten beginnen Kinder – zumindest in Independenz-orientierten Sozialisationskontexten – sich selbst im Spiegel zu erkennen und ein Bewusstsein über sich selbst als eigenständige Personen mit individuellen Eigenschaften und Fähigkeiten zu entwickeln (Kärtner, Keller, Chaudhary, & Yovsi, 2012; Stipek, Gralinski, & Kopp, 1990).

Die Entwicklung der Fähigkeit sich selbst zu erkennen ist die Basis, um sich selbst anhand von Eigenschaften zu beschreiben und zu bewerten (z. B. brav, unartig), und hängt mit dem Erleben selbstbewertender Emotionen zusammen (Stipek et al., 1990).

Barrett, Zahn-Waxler und Cole (1993) beobachteten 2-jährige Kinder beim Spielen mit einer Puppe, die so präpariert war, dass sie nach einiger Zeit kaputt ging. Davon über-zeugt, dass sie den Schaden selbst verursacht haben, ließen die Kinder in ihrem Verhalten

Anzeichen von Scham (z. B. Vermeiden von Blickkontakt, mimischer Ausdruck von Ver-legenheit) und Schuld erkennen (z. B. Versuche den Schaden zu reparieren). Die Kinder, die eine Interaktion (z. B. Blickkontakt) mit der Versuchsleiterin nach dem Missgeschick eher vermieden, unternahmen weniger Versuche den Schaden zu reparieren und machten die Versuchsleiterin seltener auf das Missgeschick aufmerksam. Je stärker der wahrge-nommene Schaden mit dem Erleben von Schuldgefühlen bei Kindern im Alter von 2 Jah-ren einherging, desto höher war das erreichte Niveau bezüglich der Internalisierung von Verhaltensregeln zwei Jahre später (Kochanska et al., 2002).

Bevor selbstbewertende Emotionen im Entwicklungsverlauf auftreten und Kinder da-zu motivieren verursachten Schaden da-zu kompensieren oder Fehlverhalten einda-zugestehen erfolgen Bewertungsreaktionen zunächst durch Bezugspersonen. Sobald sich Kinder im ersten Lebensjahr als Urheber eigener Handlungen erleben, zeigen sie ein ausgeprägtes Interesse, zielgerichtete Effekte in ihrer Umwelt herbeizuführen (Freude am Effekt; Heck-hausen, 1987; siehe auch Heikamp, Trommsdorff, & Fäsche, 2013). Anhand der Reaktio-nen von BezugspersoReaktio-nen lerReaktio-nen Kinder, dass nicht jedes Verhalten sozial erwünscht ist.

Frühe Formen von Scham zeigen Kinder, wenn sie aus Freude am Effekt Schaden verursa-chen (z. B. Spielzeug beschädigen) und Bezugspersonen nicht, wie erwartet, mit Lob rea-gieren, sondern durch negative Emotionen oder Zurechtweisung Missbilligung zum Aus-druck bringen (Fischer & Mascolo, 2007).

Das Erleben von Schuldgefühlen und die Bereitschaft und Fähigkeit Fehlverhalten einzugestehen und Wiedergutmachung zu leisten stehen dagegen mit der Entwicklung von Empathie und der Fähigkeit zur Perspektivenübernahme in Zusammenhang (Zahn-Waxler

& Robinson, 1995). Schuldgefühle resultieren aus dem Empfinden von Empathie für eine andere Person in Verbindung mit der Überzeugung durch eigenes Handeln für das Leid einer anderen Person ursächlich verantwortlich zu sein (Baumeister et al., 1995; Eisenberg, 2000). Elterliche Responsivität (z. B. Trost, Unterstützung) und emotionale Expressivität fördern die Entwicklung von Empathie, da Kinder lernen, emotionale Bedürfnisse anderer Personen zu erkennen und darauf angemessen zu reagieren (Davidov & Grusec, 2006b;

Zhou et al., 2002). Das Wissen, dass Überzeugungen, Bedürfnisse und Absichten das Han-deln anderer Personen leiten, versetzt Kinder in die Lage zu verstehen, dass ihr HanHan-deln Konsequenzen für andere Personen hat (Zahn-Waxler & Robinson, 1995). Eine Person, die sich schuldig fühlt, akzeptiert ihre Verantwortung für ein Verhalten, das internalisierte Standards verletzt hat, und verspürt das Bedürfnis, das Verhalten ungeschehen zu machen (Eisenberg, 2000). Schuldgefühle signalisieren einer Person die Verletzung internalisierter

Verhaltensstandards und motivieren Verhalten (z. B. Schuldeingeständnis, Wiedergutma-chung), das eine fortstehende Verpflichtung gegenüber sozialen Normen zum Ausdruck bringt. Schuld als eine selbstbewertende Emotion hat eine soziale Funktion, da sie die Be-reitschaft soziale Verhaltensregeln zu befolgen fördert und dadurch zur Aufrechterhaltung sozialer Beziehungen beiträgt (Baumeister et al., 1994).

Reaktionen auf Regelverletzungen durch andere Personen

Im Alter zwischen 2 und 3 Jahren lassen Kinder einen Ordnungssinn und Sinn für Re-geln erkennen, wenn sie selbst Erwartungshaltungen gegenüber ihrer Umwelt zum Aus-druck bringen. Ziel elterlicher Sozialisationsbemühungen ist es häufig, zu vermitteln, dass die Beschädigung eigenen und fremden Eigentums unerwünscht ist (Gralinski & Kopp, 1993). Im Alter von zweieinhalb Jahren zeigen Kinder daher ein besonderes Interesse für beschädigte Objekte, indem sie zum Beispiel deren Fehlerhaftigkeit kommentieren und spontan versuchen, den Schaden zu reparieren. Gleichzeitig präferieren Kinder in diesem Alter unbeschädigte gegenüber beschädigten Objekten, die nicht sozial erwünschten Stan-dards entsprechen (Kochanska, Casey, & Fukumoto, 1995).

Kinder sind nicht nur bereit Regeln als strukturierende Aspekte sozialer Interaktionen zu akzeptieren und zu befolgen, sondern greifen auch ein, wenn andere Personen Verhal-tensregeln verletzen. In einer Studie von Vaish, Missana und Tomasello (2011) interve-nierten 3-jährige Kinder und reagierten mit Protest, wenn ein Spielpartner absichtlich die Zeichnung einer dritten, abwesenden Person zerstörte. Nach Rückkehr des geschädigten Spielpartners teilten die Kinder das Vergehen mit und brachten ihre Betroffenheit durch prosoziales Verhalten (z. B. Trost) gegenüber dem Opfer zum Ausdruck.

Kinder zeigen nicht nur ein Verständnis für allgemeingültige Normen (z. B. andere Personen nicht schädigen), sondern bestehen auch auf der Einhaltung sozialer Konventio-nen, deren Verletzung keine negativen Folgen für die eigene Person oder andere hat. So weisen Kinder einen Spielpartner zurecht, der Spielregeln nicht befolgt, und protestieren gegen Regelverstöße (Rakoczy, Warneken, & Tomasello, 2008). Kinder im Alter von 3 Jahren unterscheiden dabei bereits zwischen willkürlich festgelegten sozialen Konventio-nen und allgemeingültigen Normen, die das Wohlergehen anderer PersoKonventio-nen berühren (Rakoczy & Schmidt, 2013). In einer Studie von Schmidt, Rakoczy und Tomasello (2012) protestierten Kinder gegen normabweichendes Verhalten (d. h. jemandem Schaden zufü-gen), unabhängig davon, ob es sich bei dem Täter um ein Gruppenmitglied oder einen Au-ßenstehenden handelte. Die Gruppenzugehörigkeit (d. h. ingroup / outgroup

Unterschei-dung) war jedoch dafür entscheidend, inwieweit Kinder eine Verletzung sozialer Konven-tionen tolerierten. Die Kinder reagierten eher nachsichtig, wenn Außenstehende Konventi-onen (d. h. Spielregeln) verletzten. Dagegen protestierten die Kinder, wenn Gruppenmit-glieder Regeln nicht befolgten, und versuchten etablierten Gruppenstandards durch Einbe-ziehung einer Autoritätsperson (d. h. Versuchsleiter) Geltung zu verschaffen (Schmidt, Rakoczy, & Tomasello, 2012).

Kinder lernen ab dem dritten Lebensjahr, dass andere Personen und sie selbst Angehö-rige einer sozialen Gruppe sind, in der bestimmte Verhaltensregeln gelten, die für alle Gruppenmitglieder verbindlich sind. Auch wenn Verhaltensregeln (d. h. soziale Konventi-onen) willkürlich festgelegt sind, haben sie einen normativen Charakter, wenn sie allge-mein als Gruppenstandards akzeptiert und als verbindlich anerkannt sind (Schmidt et al., 2012; siehe Übersicht in Tomasello & Vaish, 2013).