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In den ersten beiden Abschnitten werden die Ergebnisse zu Geschlechts- und Kultur-unterschieden bezüglich der Internalisierung von Verhaltensregeln, Verhaltenssteuerung und inhibitorischer Kontrolle diskutiert. Im Anschluss daran erfolgt eine Diskussion der Ergebnisse zu der Frage, inwieweit inhibitorische Kontrolle mit der Internalisierung von Verhaltensregeln und Verhaltenssteuerung zusammenhängt. Dabei steht auch die Frage im Mittelpunkt, inwieweit Geschlecht und Kultur die Zusammenhänge zwischen den unter-suchten Variablen moderieren.

5.1.1 Geschlechtsunterschiede

Verhaltenssteuerung und Internalisierung von Verhaltensregeln

Die Ergebnisse bestätigten weitgehend die in den Hypothesen 1a bis 1d und Hypothe-se 2 formulierten Annahmen zu Geschlechtsunterschieden bezüglich der Internalisierung von Verhaltensregeln und der Bereitschaft und Fähigkeit zur Verhaltenssteuerung. Konsis-tent mit den in der Literatur berichteten empirischen Befunden ergaben sich in der

vorlie-genden Studie signifikante Geschlechtsunterschiede bezüglich der Internalisierung von Verhaltensregeln. Insgesamt schätzten deutsche und indische Mütter Mädchen hinsichtlich des Niveaus der Internalisierung von Verhaltensregeln höher ein als Jungen. In Erweite-rung bisheriger Studien erfolgten die Analysen getrennt für die einzelnen Aspekte der Internalisierung von Verhaltensregeln. Aus Sicht der Mütter zeigten Mädchen im Ver-gleich zu Jungen in beiden Kulturen ein höhere Bereitschaft und Fähigkeit zur Befolgung von Verhaltensregeln in Abwesenheit von Bezugspersonen und waren eher bereit, für ei-gene Regelverstöße Wiedergutmachung zu leisten. Mädchen reagierten im Vergleich zu Jungen eher mit Besorgnis auf Regelverletzungen durch andere Personen. Keine signifi-kanten Geschlechtsunterschiede ergaben sich hingegen hinsichtlich der Bereitschaft und Fähigkeit eigenes Fehlverhalten einzugestehen.

Bei Daten, die auf Fremdeinschätzungen basieren, stellt sich generell die Frage, in-wieweit Geschlechterrollenstereotype die Beurteilung des Verhaltens beeinflussen (Cross et al., 2011; Else-Quest et al., 2006). In der vorliegenden Untersuchung spricht gegen diese Annahme, dass deutsche und indische Mütter in ihren Einschätzungen übereinstimmten, dass die Bereitschaft und Fähigkeit zur Internalisierung von Verhaltensregeln für Mädchen im Vergleich zu Jungen höher ist. Die berichteten Geschlechtseffekte waren signifikant, unabhängig davon, ob die Analysen auf Basis der unstandardisierten Originalwerte oder auf Grundlage der ipsativierten Werte erfolgten.

Ganz entscheidend ist jedoch, dass die im Labor beobachtete Bereitschaft und Fähig-keit zur Verhaltenssteuerung die Einschätzungen der Mütter bestätigten. In beiden Aufga-ben zeigten Mädchen im Vergleich zu Jungen eine höhere Bereitschaft und Fähigkeit zur Befolgung von Verhaltensregeln. Die Effektstärken für Geschlecht waren für Fragebogen- und Beobachtungsdaten gleich hoch ausgeprägt, fielen insgesamt aber klein aus. Die Be-funde stimmen mit den Ergebnissen von metaanalytischen Studien überein, wonach Ge-schlechtseffekte hinsichtlich der Mehrzahl psychologischer Variablen eher schwach ausge-prägt sind (Hyde, 2005). Da Beobachtungsstudien im Vergleich zu Befragungen ver-gleichsweise selten sind, sind die Kombination von Fragebogen- mit Beobachtungsverfah-ren und ihre Erhebung in unterschiedlichen Sozialisationskontexten als besondere Stärken der vorliegenden Studie anzusehen.

Obwohl diesbezüglich keine Hypothese formuliert wurde, wären kulturspezifische Geschlechtseffekte wenig überraschend gewesen. Während Deutschland durch egalitäre Geschlechterrollen geprägt ist, repräsentiert Varanasi einen Sozialisationskontext, in dem traditionelle Rollenvorstellungen vorherrschen (Derné, 1995; Williams & Best, 1990).

Die Befundlage zu der Frage, inwieweit in Indien Sozialisationsprozesse die Entwick-lung von Geschlechtsunterschieden beeinflussen ist allerdings sehr inkonsistent. Einerseits herrscht die Ansicht vor, dass die Erziehung indischer Eltern im Vorschulalter durch Nach-sicht und Toleranz gegenüber den Bedürfnissen eines Kindes gekennzeichnet ist (Mishra et al., 2005). Andererseits wird in der Literatur auch betont, dass Mütter ihre Töchter im Ge-gensatz zu Söhnen früher dazu anleiten, Pflichten im elterlichen Haushalt zu übernehmen, um sie auf ihre zukünftige Rolle als Ehefrau und Mutter vorzubereiten (Bhogle, 1999). Die vorliegenden Befunde bestätigten nicht die in der Literatur diskutierte Annahme, dass für indische Mädchen im Vergleich zu Mädchen in Independenz-orientierten Sozialisations-kontexten (z. B. Deutschland) bereits im Vorschulalter ein stärkerer Sozialisationsdruck hinsichtlich der Verhaltenssteuerung besteht.

Bezugnehmend auf Bjorklund und Kipp (1996) ließe sich argumentieren, dass die Be-reitschaft und Fähigkeit zur Verhaltenssteuerung bei Mädchen im Vergleich zu Jungen aufgrund evolutionsbiologischer Anpassungsprozesse kulturunabhängig stärker ausgeprägt ist. Einige in der Literatur berichtete Befunde werfen die Frage nach der Bedeutung ge-schlechtsspezifischen Erziehungsverhaltens für die Entwicklung von Geschlechtsunter-schieden in der Internalisierung von Verhaltensregeln auf. Im Vorschulalter setzen Mütter bei Jungen im Vergleich zu Mädchen eher Strategien der Machdurchsetzung (d. h. Kon-trolle) ein, um zu erreichen, dass sie Verhaltensregeln befolgen (Kochanska et al., 2003).

Andere Befunde ergaben dagegen, dass im Kleinkindalter die Interaktion mit Jungen in Disziplinarkontexten häufiger durch „warme“ sprachliche Kommunikation (d. h. Vokalisa-tion) der Mütter gekennzeichnet ist als bei Mädchen (Ahl, Fausto-Sterling, García-Coll, &

Seifer, 2013). Diese Befunde lassen jedoch die Frage unbeantwortet, inwieweit Erzie-hungspersonen auf Geschlechtsunterschiede im Verhalten der Kinder reagieren (z. B. er-höhtes Aktivitätsniveau von Jungen im Vergleich zu Mädchen; Eaton & Enns, 1986) oder geschlechtsspezifisches Erziehungsverhalten die Entwicklung von Geschlechtsunterschie-den ursächlich beeinflusst. Kulturvergleichende Studien im Längsschnitt könnten darüber Auskunft geben, inwieweit im Entwicklungsverlauf Geschlechtsunterschiede ab- oder zu-nehmen. Da die Rollenverteilung in der Familie in Indien stark ausgeprägt ist, ließe sich annehmen, dass für Mädchen im Vergleich zu Jungen im weiteren Entwicklungsverlauf ein zunehmend stärker werdender Sozialisationsdruck besteht, Verhaltensregeln zu befolgen und zu internalisieren.

Inhibitorische Kontrolle

Bezugnehmend auf metaanalytische Befunde wurde im Rahmen von Hypothese 3 ge-prüft, inwieweit Mädchen im Vergleich zu Jungen eine höhere Bereitschaft und Fähigkeit zu inhibitorischer Kontrolle zeigen. Entgegen der Ergebnisse metaanalytischer Studien (Else-Quest et al., 2006) ergaben sich keine signifikanten Geschlechtsunterschiede hin-sichtlich der Fähigkeit zu inhibitorischer Kontrolle. Die Befunde der vorliegenden Studie stimmen vielmehr mit der von Bjorklund und Kipp (1997) formulierten Hypothese überein, dass Geschlechtsunterschiede hinsichtlich der Regulation von Emotionen und sozialem Verhalten (z. B. Befolgen von Verhaltensregeln) stärker ausgeprägt sind als für inhibitorische Kontrollprozesse.

Die Befunde metaanalytischer Studien deuten darauf hin, dass die Stärke der berichte-ten Geschlechtseffekte stark von den gewählberichte-ten Methoden abhängig ist. Erfolgt die Erfas-sung inhibitorischer Kontrolle mittels Fragebogenverfahren (z. B. Fremdeinschätzung durch Eltern oder Lehrer) liegen die berichteten Geschlechtseffekte deutlich höher als wenn Verhaltensmaße zum Einsatz kommen (Else-Quest et al., 2006). Relativ klare Hin-weise liegen jedoch vor, dass Geschlechtsunterschiede bezüglich inhibitorischer Kontrolle im Kindesalter stärker ausgeprägt sind und im Entwicklungsverlauf hinsichtlich ihrer Stär-ke abnehmen.

Zusammenfassung

Die Befunde der vorliegenden Arbeit leisten einen Beitrag zu der Frage, inwieweit Geschlechtsunterschiede bezüglich der Bereitschaft und Fähigkeit zur Befolgung und Internalisierung von Verhaltensregeln bei Kindern im Vorschulalter bestehen. Unabhängig von den verwendeten Verfahren (d. h. Beobachtung, Fremdbeurteilung durch die Mütter) bestanden zwischen Jungen und Mädchen aus zwei unterschiedlichen Sozialisationskon-texten signifikante Unterschiede bezüglich der Bereitschaft und Fähigkeit zur Befolgung und Internalisierung von Verhaltensregeln. Die Frage, inwieweit biologische oder soziali-sationsbedingte Faktoren für die Entwicklung von Geschlechtsunterschieden bezüglich der Internalisierung von Verhaltensregeln relevant sind, bedarf weiterer Untersuchungen. Wei-terführend stellt sich die Frage, auf welche mediierenden Variablen sich die beobachteten Geschlechtsunterschiede bezüglich der Internalisierung von Verhaltensregeln zurückführen lassen. Im Rahmen zukünftiger Analysen wäre es daher erforderlich, eingehender zu prü-fen, inwieweit zum Beispiel Aspekte der Selbstregulation (z. B. Emotionsregulation,

inhibitorische Kontrolle) Zusammenhänge zwischen Geschlecht und Internalisierungspro-zessen vermitteln.

5.1.2 Kulturunterschiede

Verhaltenssteuerung und Internalisierung von Verhaltensregeln

Ausgehend von einer inkonsistenten Befundlage wurden auf der Basis theoretischer Annahmen Hypothesen hinsichtlich kultureller Unterschiede in der Bereitschaft und Fä-higkeit zur Befolgung und Internalisierung von Verhaltensregeln formuliert. Aufgrund der Betonung individueller Handlungsfähigkeit, Selbständigkeit und Eigenverantwortung in Independenz-orientierten Sozialisationskontexten lautete die Hypothese, dass im Vorschul-alter die Bereitschaft und Fähigkeit zur Befolgung und Internalisierung von Verhaltensre-geln bei deutschen im Vergleich zu indischen Kindern höher ausgeprägt ist (Hypothesen 4a bis 4d). Die Prüfung der Hypothesen hinsichtlich kultureller Unterschiede in den Aspekten der Internalisierung ergab ein einheitliches Bild. Für drei der vier untersuchten Aspekte der Internalisierung waren die Kultureffekte in der erwarteten Richtung signifikant. Die Mütter berichteten, dass deutsche im Vergleich zu indischen Kindern eine höhere Bereitschaft und Fähigkeit zur Befolgung von Verhaltensregeln zeigten und eher mit Besorgnis auf Regel-verstöße durch andere Personen reagierten. Überdies waren deutsche Kinder eher bereit, eigenes Fehlverhalten durch Wiedergutmachungsleistungen auszugleichen als indische Kinder.

Diese Befunde stehen zunächst einmal im Gegensatz zu der in der Literatur diskutier-ten Annahme, dass in Interdependenz-orientierdiskutier-ten Sozialisationskontexdiskutier-ten Eigenschafdiskutier-ten eines Kindes, wie Gehorsam und Respekt, einen hohen Stellenwert haben. Interdependenz-orientierte Sozialisationsstrategien zielen primär auf die Förderung der Akzeptanz von Verhaltensregeln ab, um ein Kind darauf vorzubereiten, sich in eine soziale Gruppe oder Gemeinschaft optimal einzufügen (z. B. Chao & Tseng, 2002; Kağitçibaşi, 2007). Die Zahl empirischer Studien zu kulturellen Unterschieden bezüglich der Bereitschaft und Fähigkeit zur Befolgung und Internalisierung von Verhaltensregeln ist überschaubar. Vorliegende Studien haben jedoch die Annahme bestätigt, dass Kinder aus Interdependenz-orientierten Sozialisationskontexten (z. B. China) bereits im Kleinkindalter eine höhere Bereitschaft und Fähigkeit zur Verhaltenssteuerung zeigen als Kinder aus Sozialisationskontexten, in denen Eltern independente Wertorientierungen betonen (z. B. Kanada; Chen et al., 2003).