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Teil IV: Ergebnisse der Untersuchung

9.1 Gemeinschaftsschule Am Walde

9.1.2 Fall Finn

9.1.2.3 Kompetenzentwicklung im zweiten Jahr

9 Fallbezogene Darstellung der Ergebnisse

Lernen, was sich auch in anderen Sequenzen zeigt, z.B. indem er das Logbuch nicht als Instrument und das Setzen von Zielen nicht als Strategie zur Planung seines Lernprozesses versteht, obwohl er im Unterschied zu Laura im ersten Jahr die Wochenzielsetzung im Logbuch als Richtlinie sowie als Kontrolle für die Lernzeitstunden nutzt (vgl. FI 415ff., 438). Es hat den Anschein, als nutze Finn metakognitive Lernstrategien (Logbuch, Selbsteinschätzungsbogen) zur Planung und Überwachung, ohne es zu wissen oder es als hilfreich für das fachliche Lernen sowie die Entwicklung von Selbststeuerungs-kompetenzen wahrzunehmen. Finn scheint eine Lehrkraft, ein Setting oder vielleicht auch Mitschülerinnen und -schüler zu benötigen, die ihm Sinn und Zweck des selbstgesteuerten Lernens verdeutlichen, sodass er die durchaus vorhandene Nutzung metakognitiver Lernstrategien auch als nützlich für seinen schulischen Erfolg wahrnehmen und sich dadurch als kompetent erfahren kann.

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Misserfolge erlebt als es vermutlich beim Besuch einer Schule der Fall wäre, die sich nicht am Konzept des selbstgesteuerten Lernens orientiert. Beim selbstgesteuerten Lernen benötigt er jedoch Unterstützung, die er im zweiten Jahr genau in dem Maße bekommt, wie er sie benötigt. Seine Coachlehrerin ermöglicht ihm eine kontinuierliche Zusammenarbeit mit einem leistungsstarken Schüler, die sehr erfolgreich verläuft. Seit der Zusammenarbeit mit diesem Mitschüler empfindet Finn keine Angst mehr davor, im Unterricht nicht mitzukommen, weil er immer bei diesem nachfragen kann:

Ich kann dann ja nochmal nachfragen oder so, wenn ich es nicht mitbekommen habe, bei Moritz [FI 215f.] […] Seit Moritz neben mir sitzt oder seit Moritz in unserer Klasse ist, schaffe ich meine Lernzeitaufgaben vom Wochenplan. Ohne Moritz habe ich nur die Hälfte geschafft. Wenn es hoch kommt. Also schon ganz gut der Junge. [FII 471–474]

Neben einer optimalen Nutzung der Lernumgebung bzw. der sozialen Ressourcen in Form eines leistungsstarken Lernpartners sorgt die Coachlehrerin Frau Meitner dafür, dass Finns Kompetenzerleben gestärkt wird. Sie honoriert Finns gute Leistungen, und zwar nicht wie aus dem Elternhaus gewohnt über ein Belohnungssystem. Vielmehr erlebt Finn nun „die motivierenden Sätze der Lehrer (im Logbuch; Anm. PH): „‚Weiter so Finn‘ oder so was“

(FII 515f.), als Ermunterung, sich weiter anzustrengen. Ebenso scheint Finn sich durch ein autonomieanerkennendes Feedback bestärkt zu fühlen, in welchem die Lehrerin seine Stärken thematisiert und herausfordert:

Ich habe mir ein paar Ziele vorgenommen und da meinte Frau Meitner noch, dass ich das noch ändern soll. Das ist mir irgendwie gar nicht eingefallen. […] Ich glaube, das ging um den sozialen Umgang, oder so […] Dass ich anderen mal sagen soll, dass sie nicht so viele Beleidungen fallen lassen sollen oder irgendwie so. […] Ich sage mal so, Frau Meitner ist eine richtig gute Lehrerin. Die macht auch mehr, als sie muss. Das Gegenteil von Herrn Harnack. [FII 640-644, 651f.]

Interessant ist, dass Finn im Unterschied zum ersten Jahr nun auch das Handeln einiger Lehrkräfte bewertet: An dieser Stelle spricht er seiner Lehrerin für ihr Verhalten ein Lob aus, an anderen Stellen kritisiert er aber auch sehr emotional die „faulen“ Lehrkräfte, denen die Schülerinnen und Schüler sowie deren Lernen „egal“ seien (vgl. z.B. FII 207–210, 271–

276, 293–307). Eine mögliche Lesart ist, dass Finn sich nun traut, Lehrkräfte zu kritisieren, sie nicht mehr hierarchisch unanfechtbar einordnet, sondern für das Recht einsteht, optimal gefördert zu werden. Hinzu kommt, dass er nun genauer zu wissen scheint, was er von Lehrkräften erwartet: eine Begleitung seines Lernprozesses (vgl. FII 207–210). So

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gelesen spricht auch diese Veränderung für ein verstärktes Einbringen seiner eigenen Vorstellungen und Wünsche beim Lernen. Außerdem zeigt sich, dass Finn in der heterogenen Lerngruppe laut der Lehrerin als Vorbild fungieren kann. So erfährt er in diesem Umfeld, dass er selbst im sozialen Bereich vorbildlich handelt, während er auf fachlicher Ebene Mitschülerinnen und Mitschüler als Vorbilder nutzen kann.

Des Weiteren zeigt sich an dem oben aufgeführten Zitat, dass Finn im Unterschied zum ersten Interview diesmal auch eigens gesetzte Ziele erwähnt. Im zweiten Jahr fällt das Wort

„Ziel“ in Finns Interview auffällig häufig; er benutzt es im Zusammenhang mit dem Logbuch, den Wochen- und Monatsplänen und beim Schüler-Eltern-Lehrer-Gespräch als Orientierungshilfe. Ausgerichtet an den Zielen und den Wochenplanaufgaben plant und überwacht Finn sein Lernen nun selbst. Im Unterschied zum Jahr davor, in dem zwar die Setzung von Zielen genannt wurde, die Schilderung konkreter Situationen aber darauf hindeutet, dass er in den Lernzeitstunden eher planlos drauflos arbeitet, scheint er sich nun – u.a. durch die Orientierung an den Wochen- und Monatsplänen – in der Lernzeit systematisch Erfolgserlebnisse organisieren zu können:

Von den schweren Aufgaben schaffe ich vielleicht von fünf Aufgaben eine oder zwei Aufgaben. Da muss ich lange überlegen, wie das so funktioniert. Und dann mache ich lieber von den zehn leichten Aufgaben alle zehn, weil dann kann ich auch etwas nachweisen, was ich schon so gemacht habe. Dann habe ich auch schon ein paar Aufgaben vom Wochen- und Monatsplan. Dann habe ich wenigstens schon mal was. Und die Schweren mach ich dann eh mit Moritz. [FII 326–331]

Finn legt ein instrumentell orientiertes Vorgehen an den Tag: Er will möglichst viele Aufgaben des Wochenplans „schaffen“ – deswegen entscheidet er sich für die weniger anspruchsvollen. Das Wort „schaffen“ benutzt er im zweiten Jahr ebenfalls auffällig häufig (z.B. FII 401–408; FII 465–474). Auch wenn ihn die Bearbeitung vieler einfacher Aufgaben scheinbar zufrieden stellt, so wäre denkbar, dass er größere Erfolgserlebnisse hätte, wenn er die Erfahrung machen wurde, dass er auch schwerere Aufgaben alleine lösen kann. Auch hier lässt sich die in der Anfangssequenz herausgearbeitete Orientierung wiederfinden: In der Schule geht es darum, möglichst viele Aufgaben zu bewältigen.

Seine Zielsetzung „Wochenpläne schaffen“ hilft Finn dabei, sich erfolgreich zum Lernen zu motivieren: Außer einer kleinen Pause am Montagmorgen, um die Erlebnisse vom Wochenende mit seinen Freunden zu teilen, sei er „in den Lernzeitstunden immer am Arbeiten“ (FII 313–315). Wie auch Laura stört ihn die Lautstärke um ihn herum dabei nicht mehr (vgl. FII 447–451). Finns Erfahrungen im zweiten Jahr machen deutlich, dass er

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wie Laura von stärkeren Verbindlichkeiten und klaren Anforderungen durch die Wochenpläne und das System der Coachgruppen profitiert, auch wenn er – anders als Laura – die Veränderungen im zweiten Jahr nicht explizit als positiv bezeichnet – abgesehen der lobenden Erwähnung seiner Coachlehrerin. Vielmehr nimmt er die verbindlichen Strukturen des zweiten Jahres als höhere Anforderung wahr und führt die Verschlechterung seiner Noten auf die „Versuchskaninchen“-Rolle und den „Larifari“-Unterricht im ersten Jahr zurück (FII 60f.).

Trotz seines zielorientierten Arbeitens und der erfolgreichen Zusammenarbeit mit Moritz zeigen sich weiterhin Probleme mit der Umsetzung von Zielen in Fächern, die ihm schwer fallen. Finn berichtet beispielsweise von seinem Plan, sich zuhause auf jede Englischstunde vorzubereiten, indem er guckt, was in der nächsten Stunde drankommt. Dieses Ziel erreicht er allerdings nicht, weil er nicht genügend Ressourcen dafür bereitstellt (vgl. FII 342–356). Es gelingt ihm damit zwar, sich eine Strategie zu überlegen; er kann diese jedoch nicht umsetzen. Übertragen auf seine metakognitiven Fähigkeiten heißt das: Es gelingt ihm während seines Lernprozesses, seine Schwächen zu erkennen und mögliche Lösungswege zu finden, er reguliert sein Verhalten aber (noch) nicht dementsprechend. Dieses Lernverhalten weist darauf hin, dass Finns Kompetenzen oder sein Wille, sich zum Lernen zu motivieren, trotz guter Ansätze zu diesem Zeitpunkt begrenzt sind – zumindest außerhalb der Schule.

In der Lerngruppe positioniert sich Finn selbstbewusster als im Jahr zuvor: Ähnlich wie Laura im zweiten Jahr nimmt er nicht mehr nur ein einseitiges Helfen wahr, sondern stellt fest, dass die Grenzen zwischen Haupt- und Gymnasialschülerinnen und -schülern verschwimmen:

Ich find es auch gut, dass jetzt mal Gymnasiasten sehen, dass Hauptschüler nicht so dumm sind. Oder dass auch mal die Hauptschüler sehen, dass Gymnasiasten auch mal was falsch machen. Irgendwie so, dass die sich so kennenlernen. [FII 818–821]

9.1.2.4 Zusammenfassung