• Keine Ergebnisse gefunden

Teil II: Theoretische Grundlagen der Untersuchung

5.3 Förderung selbstgesteuerten Lernens im individualisierten Unterricht

5.3.1 Förderung selbstgesteuerten Lernens durch expositorische Lernumgebungen

Es stellt sich nun die Frage, wie expositorische Lernumgebungen gestaltet sein müssen, damit die Schülerinnen und Schüler erfolgreich selbstgesteuert lernen können. Es gibt sehr viele Qualitätskataloge für guten Unterricht, deren Kriterien zu großen Teilen auch auf expositorisch gestaltete Lernumgebungen übertragen werden können. Eine viel beachtete Zusammenstellung von Qualitätskriterien für guten Unterricht bieten z.B. Meyer, Helmke oder auch Hattie (vgl. Meyer 2004; Helmke 2006: 42ff.; Hattie 2013: 26ff.). In dieser Arbeit soll jedoch der Versuch unternommen werden, von Boekaerts Modell des selbstgesteuerten

5 Lerntheoretische Überlegungen zum Lernen an Gemeinschaftsschulen

Lernens ausgehend die Gestaltung expositorischer Lernumgebungen zu analysieren.

Deshalb wird auf diese Kataloge nicht weiter eingegangen.

In Kapitel 5.1.2 wurde anhand des Modells der Selbststeuerung von Boekaerts deutlich, dass die Entstehung von Motivation für selbstgesteuertes Lernen eine entscheidende Rolle spielt, denn die Steuerung des Selbst (Motivationssteuerung) ist die äußere Schicht des Modells, die alle weiteren Schichten ummantelt. So lässt sich in Anlehnung an Boekaerts festhalten, dass es Schülerinnen und Schülern ohne eine erfolgreiche Steuerung ihres Selbst weder gelingt, ihren Lernprozess erfolgreich selbst zu überwachen, noch einen geeigneten Verarbeitungsmodus zu finden. Auch die in Kapitel 5.1.1 zitierte Definition von Schiefele und Pekrun zum Begriff Selbststeuerung zeigt die große Bedeutung der Lernmotivation für die Entwicklung von Fähigkeiten zum selbstgesteuerten Lernen: Nach dieser ist die Ergreifung von Selbststeuerungsmaßnahmen abhängig von der Art der Lernmotivation (vgl. Schiefele/Pekrun 1996: 258, vgl. Kapitel 5.1.1).

Die Entstehung von Lernmotivation muss daher in Lernumgebungen, die die Selbststeuerung fördern sollen, in besonderem Maße gefördert werden. Zur Erinnerung:

Die Steuerung des Selbst umfasst die Fähigkeit der Lernenden, sich an der Gestaltung des Lernprozesses mit eigenen Wünschen, Bedürfnissen und Erwartungen aktiv zu beteiligen (vgl. Boekaerts 1999: 451). Insofern muss individualisierter Unterricht, der die Selbststeuerung der Lernenden fördern will, Wünschen, Erwartungen und Bedürfnissen von Schülerinnen und Schülern Raum geben, d.h. ihnen den Rückbezug auf das Selbst ermöglichen. Auch Deci und Ryan kommen im Rahmen ihrer Selbstbestimmungstheorie der Motivation zu dem Schluss, dass intrinsische Lernmotivation und selbstgesteuertes Lernen in einem engen Zusammenhang zu sehen sind. Sie vertreten die These, dass

„hochqualifiziertes Lernen nur durch ein vom individualisierten Selbst ausgehendes Engagement erreicht werden kann“ (Deci/Ryan 1993: 233). Die Entstehung von Lernmotivation kann somit gewissermaßen als Vorbereitung für effektives Lernen verstanden werden und benötigt Lernumgebungen, die selbstgesteuertes Lernen fördern (vgl. auch Mandl/Geier 2004: 568). Diese Lernumgebungen sollten nach Deci und Ryan die Befriedigung der psychischen Grundbedürfnisse Kompetenzerfahrung, Selbstbestimmung und soziale Eingebundenheit ermöglichen:

Wir gehen also davon aus, dass der Mensch die angeborene motivationale Tendenz hat, sich mit anderen Personen in einem sozialen Milieu verbunden zu fühlen, in diesem Milieu effektiv zu wirken (zu funktionieren) und sich dabei persönlich autonom und initiativ zu erfahren (Deci/Ryan 1993: 229).

5 Lerntheoretische Überlegungen zum Lernen an Gemeinschaftsschulen

Folgt man dieser Annahme, so gilt für jede Lernumgebung, dass sie Kompetenzerfahrung, Selbstbestimmung und soziale Eingebundenheit ermöglichen sollte, damit Lernmotivation sowie Interesse an den zu lernenden Inhalten und damit hochqualifiziertes Lernen entstehen kann. Schiefele und Streblow haben in Anlehnung an Deci und Ryan folgende förderliche Bedingungen den psychischen Grundbedürfnissen zugeordnet:

Grundbedürfnisse Förderliche Bedingungen für die Entstehung von intrinsischer Motivation durch …

Kompetenzerfahrung • Rückmeldung, Bestätigung

• Lebensweltbezug

• Struktur/Klarheit (gutes Verständnis möglich)

• Individuelle Lernbegleitung Autonomieerfahrung/

Selbstbestimmung

• Mitbestimmung

• Handlungsspielräume

• Selbstbewertung

• Ankopplung an übergeordnete Ziele Soziale

Eingebundenheit/

Sicherheit

• Partnerschaftliches Schüler-Lehrer-Verhältnis:

Thematisierung des Lernens selbst

• Teamarbeit

Abbildung 5: Förderliche Bedingungen für die Entstehung intrinsischer Motivation. In Anlehnung an Schiefele/Streblow 2006 (238–242)

Bezieht man die von Schiefele und Streblow herausgearbeiteten förderlichen Bedingungen aus der Graphik auf expositorisch gestaltete Lernumgebungen, so stellt sich die Frage, inwiefern diese auf Selbststeuerung ausgerichteten Lernumgebungen dazu beitragen können, die Grundbedürfnisse Kompetenzerfahrung, Selbstbestimmung und soziale Eingebundenheit zu befriedigen. Es lässt sich festhalten, dass eine expositorisch gestaltete Lernumgebung Kompetenzerfahrung ermöglichen kann, wenn sie gut strukturiert ist, Rückmeldung im Rahmen individueller Lernbegleitung bietet sowie Aufgaben zur Verfügung stellt, die verständlich formuliert und nach Möglichkeit lebensweltbezogen sind. Das Bedürfnis nach Selbstbestimmung und Autonomie hingegen scheint vielmehr in exploratorischen Lernumgebungen erfüllt zu werden: Hier finden sich im Vergleich zu expositorischen Lernumgebungen die größeren Handlungsspielräume für selbstbestimmtes Lernen.

Allerdings weisen Bohl/Kucharz nach einer Zusammenführung verschiedenster empirischer Untersuchungen darauf hin, dass Lernende schneller als vermutet Selbstbestimmung empfinden: So reicht es, um ein Gefühl der Selbstbestimmung bei

5 Lerntheoretische Überlegungen zum Lernen an Gemeinschaftsschulen

Lernenden zu evozieren, oft schon aus, auf organisatorischer Ebene inhaltliche Wahlmöglichkeiten anzubieten und ein individuelles Lerntempo zu ermöglichen (vgl.

Bohl/Kucharz 2010: 70f.; Hartinger 2006). Ebenso scheint das Gefühl von Selbstbestimmung davon abhängig zu sein, ob sich die Lehrkräfte bei der Kontrolle der Lernaufgaben autonomieunterstützend verhalten (vgl. Hartinger 2006: 286; Deci/Ryan 1993: 231; Hattie 2013: 180f.). Folgt man diesen Erkenntnissen, so kann davon ausgegangen werden, dass Lernende nicht nur in exploratorischen Lernumgebungen, sondern auch – zumindest ihrem eigenen Empfinden nach – in expositorischen Lernumgebungen Selbstbestimmung empfinden können, da auch Letztere durchaus nach den genannten Kriterien (Wahl des Lerntempos, Wahl der Aufgabeninhalte, autonomieunterstützende Lernbegleitung) gestaltbar sind (vgl. Mandl/Geier 2004: 572ff.).

Anhand der folgenden Graphik nach Bohl/Kucharz kann die Ausgestaltung einer expositorischen Lernumgebung weiter konkretisiert werden. Die Graphik bildet verschiedene Dimensionen von Öffnung des Unterrichts ab, die bereits in Kapitel 4.2.1 thematisiert wurden.

Abbildung 6: Dimensionen der Öffnung von Unterricht nach Bohl (vgl. Bohl/Kucharz 2010: 19)

Im Folgenden soll die Graphik anhand von Beispielen genauer erläutert werden, die Bohl und Kucharz zur Erklärung ihres Modells nutzen (vgl. Bohl/Kucharz 2010: 20-25): Unter der organisatorischen Dimension kann die freie Bestimmung über die Zeit oder die Reihenfolge der zu bearbeiteten Aufgaben verstanden werden. Eine methodische Dimension kann die Entscheidung sein, auf welche Art und Weise gearbeitet wird – z.B.

ob im Team oder alleine. Den Quantensprung bezüglich der Unterscheidung der Begrifflichkeiten „Öffnung von Unterricht und Selbstorganisation“ sowie „offener Unterricht und Selbstbestimmung“ sehen Bohl/Kucharz in der inhaltlichen Dimension –

5 Lerntheoretische Überlegungen zum Lernen an Gemeinschaftsschulen

in der Graphik erkennbar an der gestrichelten Linie. So könnten Lernende im Rahmen der inhaltlichen Dimension des geöffneten Unterrichts z.B. eine Aufgabe aus mehreren Angeboten auswählen und diese in Selbstorganisation selbstgesteuert bearbeiten. Erst wenn die Schülerinnen und Schüler selbstbestimmt mitentscheiden, welches Thema sie bearbeiten wollen, kann hingegen von offenem Unterricht gesprochen werden. Die politisch-partizipative Dimension beinhaltet ein noch stärkeres Mitwirken der Lernenden;

Bohl/Kucharz nennen hier beispielsweise die eigenständige Durchführung eines Klassenrats (vgl. Bohl/Kucharz 2010: 25).

Bringt man die Begrifflichkeit expositorische Lernumgebungen mit den Dimensionen der Öffnung von Unterricht nach Bohl und Kucharz zusammen, so umfassen die expositorischen Lernumgebungen in erster Linie die organisatorische und die methodische Dimension, da es vielmehr um Selbstorganisation bzw. –steuerung als um wirkliche Selbstbestimmung geht. Es bleibt jedoch an die Studien zu erinnern, die belegen, dass Lernende schneller als gedacht Selbststimmung empfinden, bezogen auf das Modell von Bohl/Kucharz also bereits im Rahmen der organisatorischen und methodischen Dimension (vgl. vorherigen Abschnitt).

Außerdem bleibt festzuhalten, dass mit dem Grad der Öffnung nicht automatisch eine Aussage über die Qualität des Unterrichts getroffen wird. Bohl und Kucharz weisen ausdrücklich darauf hin, dass ein Unterricht mit hohem Offenheitsgrad qualitativ schlecht sein kann, wenn in ihm schwächere Lernende orientierungslos sind oder die Lernumgebung nicht differenziert und anspruchsvoll vorbereitet ist (vgl. Bohl/Kucharz 2010: 27). Diese Bemerkung lässt das Gedankenspiel zu, das Modell als ein Entwicklungsstufenmodell zu lesen: Denn auch wenn Bohl und Kucharz es nicht explizit als ein solches präsentieren, so lässt sich festhalten, dass es sinnvoll sein kann, den Schülerinnen zunächst das Handwerkszeug zum selbstgesteuerten und selbstorganisierten Lernen im geöffneten Unterricht mitzugeben, bevor selbstbestimmtes Handeln im offenen Unterricht gefordert bzw. ermöglicht wird. Diese These lässt sich mit den Ergebnissen von Reinmann und Mandl stützen: Ihre Studien zeigen, dass gerade leistungsschwächere Schülerinnen und Schüler durch fehlende Strukturen schnell überfordert werden (vgl.

Reinmann/Mandl 2006: 634ff.). Selbstbestimmtes Lernen in einem offenen Unterricht muss demnach vorbereitet werden, indem Kompetenzen zur Selbststeuerung erworben werden.

An den vorherigen Ausführungen wird deutlich, dass der Lehrkraft in expositorischen Lernumgebungen eine entscheidende Rolle zukommt, da sie die Verantwortung für das passende Maß an Offenheit im Unterricht trägt (vgl. Bastian/Combe 1997: 231f.). Dieses

5 Lerntheoretische Überlegungen zum Lernen an Gemeinschaftsschulen

kann wiederum einen entscheidenden Einfluss auf das Kompetenzerleben und damit auf die Lernmotivation der Lernenden haben:

Wenn Schüler/innen die Freiräume so nutzen, dass dadurch eine optimale Passung zwischen Aufgabenanforderung und Fähigkeit entsteht (z.B. durch die geeignete Wahl der Schwierigkeit, des Bearbeitungsweges, der Bearbeitungsdauer oder der Hilfe durch Lernpartner/innen), so kann dies sicherlich dazu beitragen, dass die empfundene Kompetenz steigt. Andererseits ist nicht gesichert, dass die Schüler/innen die Freiräume so „passend“ nutzen – dies gilt im besonderen Maße, wenn die Fähigkeit zum Entscheiden und Auswählen nicht unterstützt wird (Hartinger 2006: 285).

Im folgenden Kapitel soll deshalb noch einmal explizit auf das Spannungsverhältnis von Struktur und Offenheit, oder – anders gesagt – auf das Zusammenspiel von Selbst- und Fremdsteuerung und damit auf die Rolle der Lehrkraft in einer die Selbststeuerung fördernden Lernumgebung eingegangen werden. In diesem Rahmen wird auch die Befriedigung des Grundbedürfnisses der sozialen Eingebundenheit und des Kompetenz-erlebens im Sinne Decis und Ryans eine Rolle spielen.

5.3.2 Förderung selbstgesteuerten Lernens durch soziale Interaktion mit der