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Teil II: Theoretische Grundlagen der Untersuchung

4.2 Individualisierter Unterricht als Umgang mit Heterogenität

4.2.1 Begriffsbestimmung „individualisierter Unterricht“

Begriffe wie Individualisierung, individualisierter Unterricht, individuelle Förderung, Differenzierung, differenzierter Unterricht oder Umgang mit Heterogenität dominieren derzeit die Schuldiskussion in Deutschland (vgl. Haag/Streber 2014: 11). Doch was wird genau unter individualisierten Unterricht verstanden und wie lässt sich der Begriff Individualisierung gegenüber anderen Begriffen abgrenzen?

Sichtet man die Literatur zu diesem Thema, so wird deutlich, dass individualisierter Unterricht immer den Anspruch hat, die Heterogenität einer Lerngruppe anzuerkennen und auf die einzelnen Individuen mit passenden Lernangeboten zu reagieren (vgl. Hellrung 2010: 40ff.; Trautmann/Wischer 2012: 121). In diesem Sinne formulieren Von der Groeben/Kaiser folgende pädagogische Setzung, die ihrer Ansicht nach individualisiertem Unterricht zugrunde liegen muss: „Alle Schülerinnen und Schüler sollen in der Schule

‚mitkommen‘, mit Freude lernen und individuell bestmögliche Leistungen erreichen können.“ (von der Groeben/Kaiser 2012: 10). Alles, was dazu dient diesen Grundsatz in Schul- und Unterrichtsrealität umzusetzen, verstehen von der Groeben/Kaiser demnach unter Individualisierung.

Diese Setzung haben auch die an der Pilotphase Gemeinschaftsschule Berlin beteiligten Schulen übernommen: Durch selbstständiges Lernen und die Unterstützung individueller und selbstgesteuerter Lernwege soll eine maximale Leistungsentwicklung ermöglicht werden (vgl. Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft 2007). Doch wie kann ein solcher Anspruch in der Praxis umgesetzt werden?

Um sich dieser Frage zu nähern, lohnt es sich, Merkmale individualisierten Unterrichts aus der erziehungswissenschaftlichen Fachliteratur zusammenzuführen. Hellrung hat eine

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entsprechende Literaturanalyse vorgenommen und hält vier Merkmale fest, mit denen individualisierter Unterricht identifiziert und dargestellt werden kann: Binnendifferenzierung, Kompetenzorientierung, Aufgabenorientierung und Lernprozessorientierung. Sie kommt damit zu folgender Definition, die auch der vorliegenden Arbeit als Grundlage dient:

Er [individualisierter Unterricht, Anm. PH] ist ein Setting, in dem die Heterogenität von Lerngruppen anerkannt wird (also binnendifferenziert gearbeitet wird), in dem der Gruppenunterricht zugunsten einer individuellen Bearbeitung von Aufgaben durch die Lernenden in den Hintergrund tritt und in dem eine Unterstützung der Lernenden nicht nur in Bezug auf bestimmte fachlich-inhaltliche Lernziele, sondern in Bezug auf Kompetenzerwerb und mit Blick auf ihren gesamten Lernprozess erfolgt (vgl. Hellrung 2010: 42).

Den zentralen Stellenwert bei den von Hellrung genannten Merkmalen von Individuali-sierung nimmt der Begriff der Binnendifferenzierung (auch: innere Differenzierung) ein. Nach Trautmann/Wischer soll im Gegensatz zur äußeren Differenzierung, also der dauerhaften Aufteilung der Schülerinnen und Schüler auf verschiedene Kurse oder gar Schulen bei der temporären Aufteilung in Teilgruppen innerhalb der bestehenden Lerngruppe (Binnendifferenzierung) und bei der speziellen Anpassung der Aufgaben an die Ausgangslagen der einzelnen Lernenden angeknüpft werden (vgl. Trautmann/Wischer 2012: 120). Individualisierter Unterricht wird damit häufig als besonders konsequente Form differenzierten Unterrichts eingeordnet (vgl. Wiater 2011: 105; Kunze/Solzbacher 2010:

329). Auch Bräus Verständnis steht damit im Einklang:

Die einzelnen Gruppen, Partner oder Einzelpersonen können dann je nach ihren Voraussetzungen unterschiedliche Aufgaben bearbeiten, in einem unterschiedlichen Lerntempo vorangehen oder in Ziel und Anforderungen differieren. Bei individualisiertem Lernen können Ziele, Methoden, Hilfen oder Aufgaben zeitweilig für jeden Einzelnen in der Klasse verschieden sein (Bräu 2005: 130).

Die weiteren von Hellrung als wesentlich für individualisierten Unterrichts identifizierten Merkmale Aufgaben-, Lernprozess-, Kompetenzorientierung können als notwendige Folgen einer konsequenten Binnendifferenzierung verstanden werden: Wenn lehrerzentrierte Instruktionsphasen eine ergänzende Funktion bekommen und „der Bezug der Schülerinnen und Schüler zum Lerngegenstand vor allem über die Aufgaben hergestellt wird“ (Hellrung 2010: 41), findet zwangsläufig eine Aufgabenorientierung statt. Gleichzeitig wird bei einer individuellen Bearbeitung unterschiedlicher Aufgaben durch die Lernenden

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eine intensive Begleitung und Unterstützung durch die Lehrperson entscheidend. Nach der Definition Hellrungs beinhaltet individualisierter Unterricht demnach immer auch individuelle Förderung. Individuelle Förderung definiert Kunze wie folgt:

Unter individueller Förderung werden alle Handlungen von Lehrerinnen und Lehrern verstanden, die mit der Intention erfolgen bzw. die Wirkung haben, das Lernen der einzelnen Schülerin/des einzelnen Schülers unter Berücksichtigung ihrer/seiner spezifischen Lernvoraussetzungen, -bedürfnisse, -wege, -ziele und -möglichkeiten zu unterstützen (Kunze 2008: 19).

Da jedoch die Lehrperson nicht dazu in der Lage ist, alle Schülerinnen und Schüler jederzeit beim Lernen individuell zu unterstützen, ist es notwendig, dass die Lernenden in diesem Zuge auch lernen, ihren Lernprozess verstärkt selbst zu steuern (Merkmal Lernprozessorientierung). Als ein weiteres entscheidendes Merkmal definiert Hellrung die Kompetenzorientierung (vgl. Hellrung 2010: 40f.). Kompetenzorientierung ermöglicht,

Wissen und Können so zu vermitteln, dass keine ‚trägen‘ und isolierten Kenntnisse und Fähigkeiten entstehen, sondern anwendungsfähiges Wissen und ganzheitliches Können, das z.B. reflektive und selbstregulative Prozesse einschließt“ (Klieme/Hartig 2007: 13).

Versucht man nun „individualisierten Unterricht“ – genauer: die für diese Arbeit gewählte Definition von Hellrung – gegenüber ähnlichen Ansätzen abzugrenzen, so weisen zwei weitere Begriffe eine auffällige Nähe zum Konzept des individualisierten Unterricht auf:

Der reformpädagogisch-bildungstheoretisch geprägte Begriff „offener Unterricht“ und der

„adaptive Unterricht“ aus der pädagogisch-psychologischen Lehr-Lern-Forschung. Trotz hoher Übereinstimmung der drei Konzepte sind jedoch Unterschiede auszumachen, die im Folgenden kurz erläutert werden sollen.

Die Idee des offenen Unterrichts stammt (wie der Begriff der Individualisierung) aus der reformpädagogischen und bildungstheoretischen Tradition. Bohl/Kucharz nennen als wesentliches Bestimmungsmerkmal offenen Unterrichts eine konsequente Mit- und Selbstbestimmung der Schüler in inhaltlicher und/oder politisch partizipativer Hinsicht.

Damit korrespondiert das Verständnis offenen Unterrichts mit dem Begriff der Selbstbestimmung (vgl. Bohl/Kucharz 2010: 19). Trotz diverser Überschneidungen der Konzepte des individualisierten und offenen Unterrichts bezüglich der Unterrichtsgestaltung und der damit einhergehenden hohen Bedeutung des selbstgesteuerten Lernens weisen Bohl und Kucharz darauf hin, dass Individualisierung im Extremfall „auch nahezu fremdbestimmt“ sein kann (Bohl/Kucharz 2010: 26). Ein Beispiel für eine weitgehend fremdbestimmte Individualisierung seien Aufgaben mit

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deklarativem Charakter, die der Lehrende den Lernvoraussetzungen eines Lernenden entsprechend bestimmt und die vom Lernenden organisatorisch-methodisch eigenständig bearbeitet werden. Für diese Form der Beteiligung wählen Bohl/Kucharz den Begriff des geöffneten Unterrichts, da die Möglichkeit zur Selbststeuerung im individualisierten Unterricht

„eine Öffnung, aber noch keinen offenen Unterricht“ darstelle (ebd.: 19).

Der reformpädagogische und bildungstheoretische Gedanke der Offenheit ist nicht identisch mit den Prinzipien Differenzierung und Individualisierung, sondern geht darüber hinaus, indem er besonderen Wert auf die Mit- und Selbstbestimmungsmöglichkeiten legt (ebd.: 26).

Bohl/Kucharz identifizieren somit offenen Unterricht mithilfe des Begriffs Selbstbestimmung, und geöffneten Unterricht mit den Begriffen Selbstorganisation oder Selbststeuerung und setzen offenen Unterricht bewusst nicht mit Individualisierung gleich (vgl. auch Kapitel 6.2.1 dieser Arbeit).

Unter dem aus der pädagogisch-psychologischen Forschung stammenden Begriff des adaptiven Unterrichts wird die Anpassung des Lernangebots an die individuellen Voraussetzungen der Lernenden verstanden. Ein adaptiver Unterricht kann deshalb sowohl ein individualisierter als auch ein offener Unterricht sein. Ebenfalls wird die Lehrkraft als Vermittlerin von Wissen nicht ausgeschlossen, wenn es dem Lernprozess eines Lernenden von Nutzen ist (vgl. Bohl et al. 2009: 8; vgl. Beck et al. 2008: 40). Damit ist adaptiver Unterricht ein Unterricht, der über variable Angebote versucht, auf die verschiedenen Lernvoraussetzungen der Schülerinnen und Schüler einzugehen. Durch die Konzentrierung auf die Passung zwischen Lernangebot und Lernvoraussetzungen weist der adaptive Unterricht hohe Ähnlichkeiten mit dem individualisierten Unterricht auf. Einen Unterschied macht der Stellenwert der Selbststeuerung aus der im individualisierten Unterricht höher ist als im adaptiven Unterricht (vgl. Bohl et al. 2009: 8f.). Auch wenn Individualisierung im Ausnahmefall einen Lehrervortrag für einen einzelnen Lernenden einschließen kann, steht in einem individualisierten Unterricht, der in der Regel von einem konstruktivistischen Lernverständnis getragen wird, die Selbststeuerung des Lernprozesses seitens der Schülerinnen und Schüler im Zentrum (vgl. Hellrung 2010: 67). Gleichzeitig ist es Konsens, dass individualisierter Unterricht in der Schule immer im Wechselspiel mit anderen Unterrichtsformen wie lehrerzentrierten Phasen (Fokus auf Vermittlung von Inhalten), Gesprächen im Klassenverband oder auch projektähnlichen Phasen (Fokus auf Kooperation) angeboten werden sollte.

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Für diese Arbeit wurde bewusst der Begriff des individualisierten Unterrichts gewählt, um die Aufmerksamkeit auf Unterrichtsphasen zu richten, in denen die Lernenden – allein oder in Kleingruppen –selbstgesteuert lernen. Diese Schwerpunktsetzung lässt sich im Konzept des individualisierten Unterrichts am deutlichsten wiederfinden.