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Teil IV: Ergebnisse der Untersuchung

9.1 Gemeinschaftsschule Am Walde

9.1.3 Fall Belinda

9.1.3.3 Kompetenzentwicklung im zweiten Jahr

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Belindas Wunsch nach einer stärkeren Begleitung bei den zu bearbeitenden Lernzeitaufgaben zeigt, dass Belinda hier noch stark auf Fremdsteuerung ihres Lernprozesses angewiesen ist. Wie Finn spricht sie davon, Druck zu brauchen, um erfolgreich lernen zu können. Möglicherweise versteht sie unter „Druck“ eine klare Orientierung in Bezug auf die Erwartungen. In diesem Zusammenhang schreibt sie der Lernzeit den Grund für ihre schlechten Lernleistungen zu, da sie aufgrund dieser Unterrichtsform keine Hausaufgaben mehr unter Aufsicht der Eltern und der Großmutter zuhause erledigen muss (vgl. BI 447f.). Belinda scheint wenig Erfahrung mit selbstgesteuertem Lernen gesammelt zu haben, und auch das Schüler-Eltern-Lehrer-Gespräch erlebt sie im Unterschied zu Laura nicht als Unterstützung bei der Lernzielsetzung oder der Selbstreflexion. Stattdessen fühlt sie gegenüber ihren Eltern und ihrer Coachlehrerin einen Rechtfertigungsdruck. Dies kann damit zusammenhängen, dass es ihr bisher nicht gelungen ist, überschaubare Zielsetzungen wie die ordentliche Führung eines Hefters zu erreichen (vgl. BI 288–291). Denn auch wenn sie immer wieder davon spricht, wie wichtig es für die Zukunft sei, gut in der Schule zu sein, zeigt ihr geschildertes Verhalten, dass es ihr nicht gelingt, Aufmerksamkeit, Zeitnutzung und Anstrengungen so zu managen, dass sie ihre Lernziele erreichen kann (Steuerung des Selbst). Wichtiger ist und bleibt für sie die Kommunikation mit den Freundinnen:

Ich habe mir vorgenommen, dass ich meine Hefter ordentlicher führe und dass ich mich besser konzentriere. Aber jetzt, da meine beste Freundin wieder öfter da ist, quatschen wir richtig wieder mehr und die Hefter vergesse ich auch manchmal zuhause. [BI 288–290]

Belindas Zugang zum selbstgesteuerten Lernen wird durch das offene, wenig strukturierte Setting nicht gefördert. Es fehlt eine Unterstützung beim selbstgesteuerten Lernen, um metakognitive und motivationale Selbststeuerungskompetenzen auszubauen. Das Logbuch kann sie ohne Unterstützung beim Lernen in der Lernzeit nicht nutzen:

Das Hausaufgabenheft war besser als das Logbuch. Da haben wir einfach reingeschrieben, was wir machen müssen, und nicht, was wir gemacht haben. Das bringt ja gar nichts, wer will das wissen? [BI 261–265]

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Ich habe jetzt immer andere Sachen vor. Mich mit Freunden treffen. Internet, PC, Musik hören und so. [BII 78–87]

So stellen die längsten Erzählpassagen Erlebnisse außerhalb des Unterrichts dar; zum einen erzählt sie ausführlich von einem durch einen Jungen verursachten Treppensturz ihrerseits in der Schule, zum anderen von ihrer ersten Liebesbeziehung. Die Schilderung eines normalen Schulalltags verläuft entlang der Pausen und der Beziehung zu Mitschülerinnen und Mitschüler:

Gehe zur Schule. Treffe mich mit einer Freundin, mit der ich zusammen gehe.

Die Stunden fangen an. Ich mache meistens nicht mit. Spiele mit dem Handy rum oder so. Hofpause sind immer so bestimmte Gruppen zusammen. Also z.B.

Bernd, Sebastian und Piet zusammen. Und dann die anderen. Wir sind jetzt mit den Siebten in der Hofpause. Das war schon immer. Aber wir sind jetzt mit den Siebten befreundet. Die meisten aus den Achten. Das finde ich schon gut. [BII 197–201]

Belinda nimmt die Gemeinschaftsschule im zweiten Jahr jedoch auch als eine Schule wahr, an der im Rahmen der Lernzeit selbstgesteuertes Arbeiten ermöglicht und gefördert wird (vgl. BII 928ff.). Diese explizite Nennung könnte darauf hindeuten, dass das selbstgesteuerte Lernen für sie an Bedeutung gewonnen hat. Es hat den Anschein, als habe sie sich im ersten Jahr überwiegend auf das zwischenmenschliche Miteinander konzentriert, im zweiten Jahr jedoch Raum gefunden, um auch anderes wahrzunehmen: Die Lernzeit mit ihrem Ziel des selbstgesteuerten Lernens. Die Möglichkeit der eigenständigen Überwachung ihres Lernprozesses wird für die Entwicklung ihres Bildungsgangs nun für sie interessant:

Ich finde die Lernzeit besser, weil man da selbstständig arbeiten kann und nicht die ganze Zeit dem Lehrer zuhören muss. […] Weil man da auch schneller vorankommt und auf sich selber angewiesen ist. […] Weil man da selber einschätzen kann, wo man Hilfe braucht und wo nicht. [BII 652–657]

Neben der veränderten Wahrnehmung der Lernzeit als Raum zur Selbstorganisation und Autonomieerfahrung zeigt sich auch eine strategische Entwicklung bezüglich Belindas Selbststeuerung: Belinda nutzt jeden Morgen das Logbuch, um ihre Lernzeitstunden durch Zielsetzungen zu planen:

Wenn es morgens ist, mache ich als erstes mein Logbuch. Mein Tagesziel schreiben. Was ich mir in der ersten Stunde vornehme. Danach fange ich mit den

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Aufgaben an, die wir haben. Dann mache ich irgendwann eine Pause […] und dann mache ich weiter. [BII 532–535]

Im Unterschied zum vorherigen Schuljahr sieht sie in der Arbeit mit dem Logbuch nun einen Sinn, auch wenn sie reflektiert, dass es ihr noch schwerfällt, den Erfolg ihres Lernprozesses selbstständig zu beobachten und einzuschätzen. Hatte sie im ersten Jahr noch lakonisch festgestellt „Das bringt gar nichts, wer will das denn wissen“, differenziert sie jetzt auf der lernstrategischen Ebene:

Das Logbuch ist wie ein Hausaufgabenheft, aber irgendwie besser. Weil man sich da ein Ziel für die Woche vornehmen und einschätzen kann: „Habe ich das geschafft oder nicht geschafft?“ […] Aber da muss man sich erst mal rein versetzen. […] Ist halt sehr schwierig sich selber einzuschätzen. Ich frage Freundinnen, wie sie mich einschätzen. Und dann schreibe ich das hin. Meistens ist das richtig eingeschätzt. [BII 662–666, 532–535, 673–692)

Belinda schätzt die Möglichkeit, die Umsetzung ihrer Ziele eigenständig zu beobachten und zu reflektieren. Dieses neu entwickelte Interesse an übergeordneten Lernstrategien könnte damit zusammenhängen, dass das Setting mit dem Instrument Logbuch eine kontinuierliche Anwendung von Selbstbeobachtung und Selbsteinschätzung einfordert:

Der „Nutzungszwang“ führt dazu, dass Belinda sich ihre Freundin zur Hilfe nimmt und feststellt, dass die Einschätzung ihrer Freundin mit ihrer eigenen übereinstimmt. Das Zusammenspiel zwischen Fremdsteuerung durch das Setting („Du musst das Logbuch nutzen“) und der mithilfe von Fremdeinschätzung vorgenommenen Selbsteinschätzung scheint dabei zu einem Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten zur Selbsteinschätzung zu führen („Und meistens ist das richtig eingeschätzt“). Es zeichnet sich bei Belinda durch die Logbuchnutzung also eine Entwicklung von metakognitiven Fähigkeiten ab, die zu einer wachsenden Handlungskontrolle führen könnte. Zumindest für Zugang zur Selbsteinschätzung benötigt sie jedoch externe Unterstützung durch ihre Freundinnen.

Des Weiteren entwickelt Belinda im zweiten Jahr eine Motivationsstrategie: Sie plant Unterstützung und Beratung von Lernzeitpartnerinnen explizit für ihren Lernprozess ein.

Dabei sucht sie sich Teampartnerinnen, die sie nicht vom Lernen abhalten, sondern denen es gelingt, sie zum Lernen zu motivieren (vgl. BII 691, 623–626). Die Entwicklung dieser Motivierungsstrategie kann als eine bewusste Reaktion auf ihre Selbstbeobachtung verstanden werden, dass sie sich zum einen von unmotivierten Lernpartnerinnen leicht ablenken lässt, zum anderen eine Aktivierung von außen benötigt, um sich zum Lernen zu motivieren. Damit schirmt sie sich erfolgreich von Ablenkungen ab.

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Anhand der vorherigen Passagen lässt sich Belindas Orientierungsrahmen weiter ausdifferenzieren: Die soziale Interaktion mit den Peers verhilft ihr bei der Entwicklung von Kompetenzen zur Selbststeuerung. Ihr Bedürfnis nach sozialer Sicherheit und Kommunikation beeinflusst somit auch ihren Zugang zu Lernstrategien. Im Unterschied zu Laura spricht sie beispielsweise nicht von Strategien der Informationsbeschaffung jenseits von Lernpartner und Lehrkraft (z.B. Nutzung von Materialien und Büchern) oder Strategien bezüglich des Zeitmanagements. Dennoch sind auch bei Belinda erste Ansätze zu finden, die über kommunikative Lernstrategien hinausgehen: Die bereits erwähnte Nutzung des Logbuchs zur Zielsetzung zu Beginn des Schultages zeigt beispielsweise, dass sie beginnt, dieses Instrument zur Planung ihres Lernens zu nutzen. Außerdem zeigt die Art und Weise, wie sie über ihr Lernen spricht, selbstreflexive Züge sowie Versuche eines veränderten Lernverhaltens:

Wir sollten Aufgaben im Workbook machen. Die habe ich nicht verstanden.

Dann habe ich mich hingesetzt und es nochmal durchgelesen und nochmal im Buch nachgeguckt, was die Wörter heißen und dann habe ich was hingeschrieben und dann war es richtig. Ich bin meistens so: Ich gebe schnell auf und konzentriere mich nicht richtig. Setze mich dann hin und schreibe irgendwas. Und dann gebe ich das einfach so ab. [BII 577–583]

Trotz dieser reflektierten Sicht auf ihr Lernen, dem Versuch eines veränderten Umgangs mit Schwierigkeiten und der Entwicklung motivationaler und metakognitiver Lern-strategien zeigen Belindas Erfahrungen aber auch weiterhin, dass es ihr oft nicht gelingt, ohne intensive Begleitung, Unterstützung und Aktivierung von außen die Lernzeitaufgaben selbstgesteuert zu bewältigen (vgl. z.B. BII 338–341, 822ff.): Sie traut sich nicht zu, Aufgaben ohne fremde Hilfe lösen zu können und verschiebt Lernprobleme auf weit entfernte Nachhilfestunden (vgl. BII 353f.). Dadurch versteht sie viele Lerninhalte nicht, was zu „Panik“ vor und in Klausuren führt (BII 831–834). All dies sind Anzeichen für eine schwache Handlungskontrolle und damit Anzeichen für eine mangelnde Fähigkeit, sich eigenständig zum Lernen zu motivieren. Es zeigt sich, dass Belinda weiterhin in besonderem Maße jemanden braucht, der sie beim Lernen begleitet. Das wird auch an ihrer Beschreibung eines guten Unterrichts deutlich: „Wenn die Lehrer kommen, wenn man Fragen hat“ (BII 428). Die soziale Interaktion mit der Lehrkraft spielt für Belinda demnach ebenfalls eine entscheidende Rolle. An ihrer Gemeinschaftsschule sieht sie diese individuelle Betreuung in den Lernzeitstunden im zweiten Jahr verstärkt gegeben:

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Wenn wir uns melden, kommen die Lehrer eigentlich gleich. Vor allem in der Lernzeit. Da kommen die und erklären das gleich. […] In einer Lernzeit, da hatte ich Matheaufgaben und andauernd Fragen. Und da ist Frau Meinert dauernd zu mir gekommen und hat mir alle Aufgaben erklärt. Und die war auch nicht genervt oder so. [B II 747–757]

Wie Laura und Finn erfährt sie im zweiten Jahr einen verbesserten Unterricht, der insbesondere auf einer passenden individuellen Betreuung fußt. Sie stellt im Unterschied zum ersten Jahr fest: „Wenn man Fragen hat, sagen sie nicht mehr, dass man später fragen soll. Sondern kommen gleich zu einem“ (BII 43f.). Außerdem verschafft ihr der Rückgriff auf das Wissen der leistungsstärkeren Schülerinnen und Schüler Sicherheit: „War froh, dass ich mit dem in einer Gruppe zusammengearbeitet habe. Weil der es mir wenigstens erklären konnte“ (vgl. BII 307ff., 936ff.). So zeigt Belindas Erfahrung, dass sie an der Gemeinschaftsschule eine hilfreiche Lernunterstützung durch leistungsstärkere Mitschülerinnen und Mitschüler wahrnimmt. Gleichzeitig zeigt sich, dass sie trotz sich entwickelnder Lernstrategien noch Probleme damit hat, die Anforderung des selbstgesteuerten Lernens zu bewältigen und deshalb „Sehnsucht“ nach einer Regelschule hat:

Weil man da ja auch Hausaufgaben aufbekommt und nicht wie hier Lernzeit-aufgaben. Weil Hausaufgaben muss man ja machen. Lernzeitaufgaben nicht. Da denke ich, dass ich das konsequenter machen würde. [BII 108–110]

Mithilfe der Analyseergebnisse zu den förderlichen und hinderlichen Bedingungen sowie der Kompetenzentwicklung in beiden Jahren lässt sich abschließend die am Anfang skizzierte Orientierung näher bestimmen:

9.1.3.4 Zusammenfassung