• Keine Ergebnisse gefunden

Teil IV: Ergebnisse der Untersuchung

9.1 Gemeinschaftsschule Am Walde

9.1.2 Fall Finn

9.1.2.2 Kompetenzentwicklung im ersten Jahr

Vergleicht man Finns Äußerungen zu Beginn der Pilotphase mit jenen von Laura, so fällt als erstes auf, dass Finn im Unterschied zu Laura die Mitwirkung an der Steuerung seines eigenen Lernprozesses auf der Ebene des kommunikativen Wissens nicht bewusst thematisiert. Er spricht weder von Überforderung hinsichtlich der Anforderung Selbststeuerung noch geht er davon aus, dass er als Schüler seinen Lernprozess aktiv mitgestalten soll. Dies zeigt beispielsweise seine Beschreibung des Schüler-Eltern-Lehrer-Gesprächs, in dem er sich – anders als Laura – als Objekt definiert:

Da berichten die Lehrer den Eltern, wie sich das Kind so benommen hat. Welche Noten es hat. […] Was es noch verbessern kann und was schon gut geklappt hat.

[FI 450–454]

Auf die Nachfrage, ob in dem Gespräch immer nur die Lehrer etwas sagen, antwortet Finn,

„auch die Eltern sollen sagen, wie sich das Kind so zuhause verhält“ (FI 464). Erst als erneut explizit mit der Frage: „Und du gar nicht?“ nach seiner Rolle im Gespräch gefragt wird, erwähnt Finn die Besprechung eines Selbsteinschätzungsbogens, doch auch diesbezüglich legt er den Schwerpunkt auf die Einschätzung der Lehrkräfte:

Wir sollen uns auch selbst einschätzen und das dann [im Gespräch; Anm. PH]

vorlesen. Und dann sagen die Lehrer, was daran stimmt und was daran nicht stimmt. [FI 471–474]

Ebenso verhält Finn sich zu der Frage, welche Ziele er sich bis zum kommenden Schüler-Eltern-Lehrer-Gespräch gesetzt habe. Hier orientiert sich Finn ebenfalls an den Zielen, die ihm seine Klassenlehrerin genannt hat (vgl. FI 487–489). Die Planung und Überwachung seines Lernprozesses überlässt er damit der Lehrkraft. Ihm fehlt metakognitives Wissen über die Anforderungen in einer auf Selbststeuerung ausgerichteten Lernumgebung.

9 Fallbezogene Darstellung der Ergebnisse

Auch wenn die vorherigen Ausführungen zunächst vermuten lassen, dass Finn die Lernzeit mit der Möglichkeit, individualisiert und selbstgesteuert zu lernen, nicht mag, so schätzt er diese als eine Unterrichtsphase, in der „man sich auch ein bisschen entspannen“ und „ohne Lehrer arbeiten kann“ (FI 744f.). Dies kann damit zusammenhängen, dass ihm die Möglichkeit, die Anzahl an Aufgaben und damit das Tempo in der Lernzeit eigenständig steuern zu können, den Druck nimmt, den er bisher mit Schule verbunden hat (vgl. auch FI 379f., 395):

Und wenn ich es nicht schaffe, dann ist auch nicht so schlimm, weil ich es mir ja vornehme. Da sagt jetzt nicht der Lehrer: „Mach jetzt drei Seiten“. Das nehme ich mir ja vor. [FI 366–370]

Der Unterricht ist jetzt so viel entspannter. Durch die Lernzeit, wo man sich auch ein bisschen entspannen kann, finde ich. Wo man auch mal ohne Lehrer arbeiten kann. [FI 743–745]

Diese Äußerungen differenzieren die in der Anfangssequenz von Finn thematisierte Unterscheidung zwischen Regel- und Gemeinschaftsschule weiter aus. Finn erlebt durch die Lernzeit die Möglichkeit zur Selbstorganisation seines Lernprozesses. So kann er stärker seinem eigenen Lernrhythmus folgen, indem er Arbeitsort, -inhalte und -tempo selbst bestimmt (vgl. dazu auch FI 519f.). Finn erlebt sich in der Lernzeit als Mitgestalter seines Lernprozesses. Anders als Laura spricht Finn in diesem Kontext nicht von Strukturen, die bei der Bewältigung der Lernanforderung „Selbststeuerung“ fehlen, obwohl er ein Lerner ist, dem ein strukturiertes, klares Vorgehen beim Lernen hilft (vgl. FI 211–

217) und obwohl deutlich wird, dass er in manchen Stunden der Lernzeit auch nicht genau weiß, was zu tun ist. Eine mögliche Lesart wäre, dass Finn im Gegensatz zu Laura die Freiheiten genießt, die ihm das unstrukturierte, offen gehaltene Setting bietet, möglicherweise auch, weil Finn im Unterschied zu Laura nicht das Ziel verfolgt, ein selbstgesteuerter, erfolgreicher Lerner zu werden, der seine Schullaufbahn mit dem Abitur abschließt.

Dennoch zeigen seine Erfahrungen trotz der als entlastend empfundenen Tempo-, Aufgaben- und Lernpartnerwahl in den Lernzeitstunden auch, dass er unter Druck gerät, wenn er der Anforderung, alle Aufgaben zu bearbeiten, gerecht werden will:

Dann schlage ich einfach in den Lösungen nach und schreibe einfach ab. Dann frage ich nächste Stunde, wie das geht und so. Wir müssen ja auch so einen Unterrichtsstoff schaffen. Den müssen wir dann nachholen, also zuhause oder in der nächsten Lernzeitstunde. [FI 278–281]

9 Fallbezogene Darstellung der Ergebnisse

Hier zeigt sich erneut Finns in der Anfangssequenz herausgearbeitete Orientierung zu den Themen Schule, Lernen und Selbststeuerung: Auch in der Lernzeit erlebt Finn einen Druck, Unterrichtsstoff schaffen zu müssen. Er macht dabei die Erfahrung, dass es ihm nicht gelingt, diesen Anforderungen zu genügen.

Den Lehrkräften an der Gemeinschaftsschule stellt Finn im ersten Jahr ein positives Zeugnis aus: Sie seien besser vorbereitet als in der Grundschule und schafften es, trotz anspruchsvoller Inhalte, den Unterricht verständlich zu gestalten (vgl. FI 747). Die Lehrkräfte fordert Finn in der Lernzeit anscheinend wenig heraus: Weder kritisiert er sie wie Laura, noch nutzt er sie bei Schwierigkeiten als Lernbegleiter. Im Vergleich zur Grundschule nimmt er weniger individuelle Betreuung wahr und begründet dies mit den

„Störern“, die viel Aufmerksamkeit der Lehrkräfte in Anspruch nähmen (FI 315–317).

Geleichzeitig nimmt Finn die heterogene Lerngruppe in der Lernzeit jedoch auch als hilfreich wahr. Statt der Lehrkräfte nutzt er Mitschülerinnen und Mitschüler als Lernhelfer (vgl. auch FI 709–711):

Dann gucke ich entweder in den Lösungen nach und schreibe ab, oder ich frage die besten Schüler aus unserer Klasse, wie das geht. Die wissen das meistens und erklären es mir. Die können zum Teil auch besser erklären als unsere Lehrerin.

[FI 264–267]

Seine Erfahrungen zeigen zudem, dass es ihm gelingt, sein Lernen in der heterogenen Gruppe so zu organisieren, dass er erfolgreich sein Pensum bewältigen kann: Er distanziert sich vom unproduktiven Arbeiten in großen Gruppen und organisiert sich in einem Zweierteam, was ihm Rücksprachen ermöglicht und zu große Ablenkung erspart (vgl.

FI 529–541).

Zudem nutzt Finn das Logbuch zur Planung, Überwachung, Selbsteinschätzung und Kontrolle seines Lernprozesses sowie als Merkheft dafür, wann Tests, Arbeiten oder andere Termine anstehen (vgl. FI 408–422). Allerdings nimmt er das Logbuch wie Laura nicht bewusst als hilfreich für sein Lernen wahr. Trotz vorheriger differenzierter Schilderung des Logbucheinsatzes antwortet Finn auf die Frage, ob ihm das Logbuch beim Lernen helfe:

Man schreibt eigentlich nur rein, was man gemacht hat. Das ist ja nichts, was mit Mathe oder so zu tun hat. Das ist wie ein Hausaufgabenheft. Bloß, dass man da rein schreibt, was man gemacht hat und so. [FI 442f.]

Lernen verbindet Finn demnach in erster Linie mit der Aneignung von Fachinhalten und nicht mit der Steuerung seines Lernprozesses. Er äußert keine Metaperspektive auf sein

9 Fallbezogene Darstellung der Ergebnisse

Lernen, was sich auch in anderen Sequenzen zeigt, z.B. indem er das Logbuch nicht als Instrument und das Setzen von Zielen nicht als Strategie zur Planung seines Lernprozesses versteht, obwohl er im Unterschied zu Laura im ersten Jahr die Wochenzielsetzung im Logbuch als Richtlinie sowie als Kontrolle für die Lernzeitstunden nutzt (vgl. FI 415ff., 438). Es hat den Anschein, als nutze Finn metakognitive Lernstrategien (Logbuch, Selbsteinschätzungsbogen) zur Planung und Überwachung, ohne es zu wissen oder es als hilfreich für das fachliche Lernen sowie die Entwicklung von Selbststeuerungs-kompetenzen wahrzunehmen. Finn scheint eine Lehrkraft, ein Setting oder vielleicht auch Mitschülerinnen und -schüler zu benötigen, die ihm Sinn und Zweck des selbstgesteuerten Lernens verdeutlichen, sodass er die durchaus vorhandene Nutzung metakognitiver Lernstrategien auch als nützlich für seinen schulischen Erfolg wahrnehmen und sich dadurch als kompetent erfahren kann.