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Teil IV: Ergebnisse der Untersuchung

10.3 Schulische Lernumgebungen und die Entwicklung von

10.3.1 Dimension 1: Struktur des Unterrichtssettings

Eine förderliche Struktur des Unterrichtssettings zeichnet sich in individualisierten Unterrichts-phasen durch transparente Anforderungsstrukturen, die Möglichkeit zur Selbstorganisation in Bezug auf Tempo und Inhalt, eine Unterstützung durch Lerninstrumente sowie deren Einbeziehung in die Lernprozessberatung aus. Alle Schülerinnen und Schüler werden einbezogen und es gibt eine Nachfragekultur.

Zur Erläuterung des ersten Aspekts a) Lerninstrumente werden nur Äußerungen der Lernenden der Gemeinschaftsschule Am Walde aufgegriffen, da nur hier Lerninstrumente in den individualisierten Unterrichtsphasen genutzt werden. Unter den Aspekten b) individualisierte Unterrichtsphasen und c) gleichschrittige Unterrichtsphasen befinden sich hingegen in erster Linie Äußerungen der Lernenden der Gemeinschaftsschule Wiesental.

a) Lerninstrumente Wochenplan und Logbuch Gemeinschaftsschule Am Walde

An der Gemeinschaftsschule Am Walde gibt es das individualisierte Lernsetting „Lernzeit“, in dem die Schülerinnen und Schüler anhand eines Wochenplans Aufgaben zu verschie-denen Schulfächern selbstgesteuert bearbeiten. Der Wochenplan wird im ersten Jahr der Pilotphase als Din-A4-Blatt an einer Pinnwand im Klassenraum ausgehängt. Zur Unterstützung des selbstgesteuerten Lernens existiert ein Logbuch, das bei der Planung, Durchführung und Reflexion des Lernprozesses helfen soll (siehe Kap. 2.1 zur ausführlichen Beschreibung des Schulsettings; Kap. 5.2.2 zur ausführlichen Beschreibung von Lerninstrumenten im individualisierten Unterricht).

Erstes Jahr

An der Schule Am Walde lässt sich die geringe Entwicklung von Selbststeuerungskompe-tenzen im ersten Jahr mit der fehlenden Nutzung der vorhandenen Lerninstrumente erklären. Die Schülerinnen und Schüler können das Logbuch zur „individuellen Planung, Kontrolle und Rechenschaftslegung der eigenen Ziele und der eigenen Arbeit“ (vgl.

Logbuch der Schule Am Walde 2009/2010) zunächst nicht nutzen. Belinda bringt die Perspektive der Lernenden im ersten Jahr mit der nachfolgenden Äußerung auf den Punkt.

Das Hausaufgabenheft war besser als das Logbuch. Da haben wir einfach reingeschrieben, was wir machen müssen, und nicht, was wir gemacht haben. Das bringt ja gar nichts, wer will das wissen? Frau Meitner guckt eh nur kurz rauf, unterschreibt und gut ist. [BI 261–265]

10 Fallübergreifende Darstellung der Ergebnisse

Belindas Beschreibung macht deutlich, dass die Lernenden in der genauen Auflistung ihrer Tätigkeiten ohne fehlende Einbindung der Ergebnisse in die Lernprozessberatung seitens der Lehrkraft keinen Sinn sehen. Alle drei Lernenden nehmen das Logbuch im ersten Jahr nicht als Unterstützung bei der Planung, Überwachung und Regulation ihres Lernprozesses wahr.

Ebenso keine Wirkung auf die Entwicklung von Selbststeuerungskompetenzen hat der Wochenplan, der die Lernaufgaben beinhaltet, die in den individualisierten Lernzeiten bearbeitet werden sollen. Auch hier zeigen die Rekonstruktionen aus dem ersten Jahr, dass dieses Instrument die Schülerinnen und Schüler beim selbstgesteuerten Lernen kaum unterstützt. Auch wenn die Lernenden Bezug zum Wochenplan aufnehmen müssen, um überhaupt Aufgaben in der Lernzeit bearbeiten zu können, so taucht das Wort

„Wochenplan“ in Finns und Belindas Erzählungen zum Lernen in den individualisierten Unterrichtsphasen gar nicht auf. Laura nimmt den Wochenplan zwar als „Plan“ (LI 75) wahr, aufgrund der wenig präsenten Erscheinung und der fehlenden Einbettung seitens der Lehrkräfte in die Lernprozessberatung erlebt sie ihn jedoch nicht als Unterstützung beim selbstgesteuerten Lernen:

Wir haben das nicht so genau strukturiert. Mir fehlt immer so was, wo ich sehen kann: „Das habe ich schon in der Woche gemacht und das muss ich noch machen“.

Dann sind die Arbeitsblätter immer irgendwie weg und dann, das ist alles immer so ein bisschen komisch. Dann sitzt man da so in der Lernzeit und überlegt: „Mmh was hab ich jetzt gemacht, was hab ich nicht gemacht?“ Zwar hängt da ein Plan in unserer Klasse, aber irgendwie übersieht man den so leicht, weil er auch ziemlich klein ist und man daran nicht so oft erinnert wird. [LI 71–77]

Durch die fehlende Strukturierung der Arbeit durch den Wochenplan und deren Koordinierung mithilfe des Logbuchs erlebt sich Laura in den Lernzeitstunden als wenig kompetent: Ihr gelingt das Lernen in diesem individualisierten Setting nicht, was zur Demotivation führt. Auffällig ist, dass Belinda und Finn diese fehlenden Strukturen im ersten Jahr nicht problematisieren und dies auch nicht zu einer Demotivation führt; bei ihnen ist sogar im ersten Jahr eine Entwicklung motivationaler Kompetenzen zu erkennen (vgl. Tabelle 11, Kap. 11.1.1). Bei Finn ist dieses darauf zurückzuführen, dass er in den individualisierten Lernphasen nur einen geringen Leistungsdruck empfindet und sich deshalb in diesen als kompetent erlebt: Zum einen, weil er ausschließlich sich selbst Rechenschaft ablegen muss, zum anderen, weil er sein Arbeitstempo selbst bestimmen kann:

10 Fallübergreifende Darstellung der Ergebnisse

Und wenn ich es nicht schaffe, dann ist auch nicht so schlimm, weil ich es mir ja vornehme. Da sagt jetzt nicht der Lehrer: „Mach jetzt drei Seiten.“ Das nehme ich mir ja vor. [FI 366–370]

Der Unterricht ist jetzt so viel entspannter. Durch die Lernzeit, wo man sich auch ein bisschen entspannen kann, finde ich. Wo man auch mal ohne Lehrer arbeiten kann. [FI 743–745]

Belinda hingegen schätzt die freie Wahl der Lernpartner in der Lernzeit (vgl. Aspekt f):

Lernteams). Es bleibt zu klären, ob die anders geartete Wahrnehmung der Lernumgebung und die daraus resultierende unterschiedliche Auswirkung auf das eigene Kompetenz-erleben von Laura und Finn auf die sich unterscheidenden Orientierungsrahmen der Lernenden zurückzuführen ist (vgl. 11.3).

Zweites Jahr

Die Rekonstruktionen der Schülererfahrungen zeigen, dass das Logbuch und der Wochen-plan im zweiten Jahr zur Entwicklung metakognitiver sowie motivationaler Kompetenzen beitragen. Die nun eingeführten verbindlicheren Strukturen (siehe Kapitel 9.1) sorgen dafür, dass der Wochenplan für Finn und Laura das bedeutende Element der individuali-sierten Unterrichtsphasen wird, um ihr Lernen zu planen, zu überwachen und zu regulieren. Für Belinda nimmt der Wochenplan einen geringeren Stellenwert ein. Zwar wird deutlich, dass sie ihn als Grundlage zur Gestaltung ihrer Lernzeitstunden wahrnimmt, sie orientiert sich aber im Vergleich weniger stark an der Zielsetzung, alle Lernaufgaben des Wochenplans zu erledigen. Der Frage, ob der Unterschied zwischen den Lernenden mit den jeweiligen Orientierungsrahmen zu erklären ist, wird weiter in Kapitel 11.2 nach-gegangen.

Ebenfalls nutzen alle drei Lernenden im zweiten Jahr das Logbuch für die Planung ihrer Lernzeitstunden. Die Nutzung des Logbuchs ist im zweiten Jahr der entscheidende Grund dafür, dass sich metakognitive Kompetenzen entwickeln können. Stellvertretend für alle beschreibt Belinda das Vorgehen wie folgt:

Wenn es morgens ist, mache ich als erstes mein Logbuch. Mein Tagesziel schreiben. Was ich mir in der ersten Stunde vornehme. [BII 532f.] Das Logbuch ist wie ein Hausaufgabenheft, aber irgendwie besser. Weil man sich da ein Ziel für die Woche vornehmen und einschätzen kann: „Habe ich das geschafft oder nicht geschafft?“ [BII 662–666]

Dabei nutzt Belinda die Expertise ihrer Mitschülerinnen, um der Anforderung, ihren Lernerfolg eigenständig einzuschätzen, gerecht zu werden. In Kooperation mit den

10 Fallübergreifende Darstellung der Ergebnisse

Mitschülerinnen entwickeln sich also auch bei Belinda metakognitive Fähigkeiten durch den Umgang mit dem Logbuch. Sowohl Laura als auch Finn sprechen zudem explizit die motivationale Dimension an, welche die Arbeit mit Wochenplan und Logbuch beinhaltet.

Dazu Laura:

Wenn man sich ein Tagesziel ins Logbuch schreibt, dann denkt man schon immer: „Ja, das möchte ich jetzt auch erfüllen.“ [LII 380-385]

Es stellt sich die Frage, warum das Logbuch und der Wochenplan nicht bereits im ersten Jahr von den Lernenden zur Steuerung ihres Lernprozesses genutzt werden können. Die Rekonstruktion zeigt, dass im ersten Jahr ein verbindlicher Umgang der Lehrkräfte mit Logbuch und Wochenplan zu fehlen scheint. Darauf verweisen folgende Zitate:

[Die Lehrerin, Anm. PH] guckt eh nur kurz [auf das Logbuch; Anm. PH] drauf und gut ist

Aber irgendwie übersieht man den [Wochenplan, Anm. PH] so leicht, weil er auch ziemlich klein ist und man daran nicht so oft erinnert wird.

Die fehlende Einbindung der Instrumente in die Lernprozessbegleitung im ersten Jahr – von den Schülerinnen und Schülern auch wahrgenommen als fehlendes Interesse der Lehrkräfte an deren Nutzung – scheint damit ein Grund dafür zu sein, weshalb das selbstgesteuerte Lernen im ersten Jahr fallübergreifend weniger gut funktioniert als im zweiten Jahr (vgl. dazu auch Aspekt d) Lernprozessberatung).

Eine weitere Lesart wäre, dass die Schülerinnen und Schüler im Verlauf des Jahres zunächst einmal Sinn und Zweck des Logbuchs sowie des Wochenplans im Rahmen der individualisierten Unterrichtsphasen für sich erfahren müssen und erst durch die Routine und vielleicht auch den Zwang, das Logbuch nutzen zu müssen, dessen Funktionen entdecken und nutzen können.

b) individualisierte und c) gleichschrittige Unterrichtsphasen Gemeinschaftsschule Wiesenufer

An der Gemeinschaftsschule Wiesenufer steht die Entwicklung eines jahrgangsüber-greifenden Konzepts noch aus, sodass die Lehrkräfte dort zu Beginn der Pilotphase ihren eigenen Umgang mit heterogenen Lerngruppen entwickeln müssen. Dieser macht sich im klassischen Fachunterricht durch vermehrte Freiarbeitsphasen mit differenzierten Aufgaben bemerkbar (siehe Kap. 2.2 zur ausführlichen Beschreibung des Settings). Da innerhalb der Äußerungen der Lernenden nicht klar zwischen individualisierten und

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gleichschrittigen Unterrichtsphasen getrennt wird, folgt auch die Darstellung der Ergebnisse dieser Logik.

Erstes Jahr

Die Lernenden der Gemeinschaftsschule Wiesenufer können im ersten Jahr durch Phasen individualisierten Lernens im Fachunterricht erste Erfahrungen mit Selbststeuerung sammeln; sie bearbeiten in ihrem individuellen Tempo Aufgabenblätter und kontrollieren diese mithilfe von Lösungsblättern eigenständig. In diesen Phasen gelingt es nur dem leistungsstarken Schüler Faruk, das Arbeitsmaterial selbstständig zu bearbeiten und zu kontrollieren, indem er bereits vorhandene Lernstrategien zu Steuerung seines Lernprozesses anwendet. Die Lernumgebung trägt damit zur Entwicklung von meta-kognitiven Kompetenzen bei und ermöglicht es Faruk, sich als kompetent zu erleben.

Gamze gelingt es im ersten Jahr kaum, metakognitive Kompetenzen zu entwickeln. Zwar ist ein reflexiver Blick auf ihr Lernen rekonstruierbar; sie stellt fest, dass ihr das Lernen im Team besonders gut gelingt und dass ihr die eigenständige Kontrolle ihrer Fehler schwerfällt, jedoch lassen sich keine metakognitiven Lernstrategien rekonstruieren, die sie im individualisierten Setting anwendet oder sich aneignet. Die individualisierte Lernsituation selbst motiviert sie jedoch durch den hohen Faktor der Kommunikation mit den Mitschülerinnen und Mitschülern. Karim kann in der individualisierten Lernumgebung keine metakognitiven und motivationalen Kompetenzen entwickeln. Er ist mit der eigenständigen Bearbeitung der Aufgabenblätter überfordert und schreibt von den Lösungsblättern ab. In den lehrerzentrierten Phasen erklären die Lehrkräfte ausführlich die Lerninhalte und beziehen alle Schülerinnen und Schüler mit ein, sodass alle befragten Lernenden angeben, dem gemeinsamen Unterricht folgen und sich als kompetent erleben zu können (vgl. dazu auch Dimension 3: Interaktion mit der Lehrkraft). Dazu stellvertretend Äußerungen von Gamze und Karim:

Ich verstehe es jetzt besser als vorher, weil vorher es nur wenig erklärt wurde und jetzt wird es mehr erklärt. [GI 66f.]

Melden tu ich mich jetzt auch öfter. Früher habe ich mich immer nie getraut. [GI 130]

Früher war ich eher schüchtern, habe mich fast nicht getraut etwas zu sagen, das hat sich verändert […] durch meine Lehrerinnen und Lehrer. Die haben mich viel rangenommen und dadurch habe ich mich immer mehr getraut was zu sagen. [KI 292–295]

10 Fallübergreifende Darstellung der Ergebnisse Zweites Jahr

Im zweiten Jahr zeigt sich übergreifend für die Lernenden, dass die Struktur der Lernumgebung die Entwicklung von Fähigkeiten zur Selbststeuerung sowohl auf metakognitiver als auch auf motivationaler Ebene verhindert. Die Rekonstruktion der Lernentwicklungen weist darauf hin, dass es der Schule nicht mehr gelingt, die Schülerinnen und Schüler individuell zu fördern und eine Passung zwischen den Anfor-derungen und den individuellen Leistungsständen der Lernenden herzustellen (zum Begriff der Passung vgl. Kapitel 5.2.1). Faruk und Gamze erleben beide in lehrerzentrierten Unterrichtsphasen eine Unterforderung, Gamze ebenso auch eine Überforderung:

Ich langweile mich, wenn die Lehrer zu viel sprechen […] und tausendmal das Gleiche sagen, weil einer das nicht versteht, wir aber schon viel weiter sind und immer warten müssen, bis die anderen fertig sind. [GII 245–248] […]

Es gibt auch richtig gute Schüler in unserer Klasse, die sind weiter als wir. Unsere Lehrerin muss uns das dann tausendmal erklären, weil wir überhaupt nichts verstehen. Und ich glaube, das stresst den Lehrer dann auch und dann machen sie einfach weiter. [GII 108–111]

Zudem zeigt sich bei Faruk, dass die individualisierten Unterrichtsphasen seinem Leistungstand nicht gerecht werden. Zwar bearbeitet Faruk weiterhin alle Aufgaben und wird damit den Anforderungen gerecht, jedoch können sich seine hohen Selbststeuerungs-potenziale und sein hohes Leistungsvermögen nicht ausreichend entfalten, weil die entsprechenden Angebote fehlen. Folgende Zitate weisen auf eine fehlende Passung zwischen Lernangebot und Lernvoraussetzungen hin:

Na, also ich war weit, also ich war weiter als die anderen. Die hatten vielleicht die halbe Seite und ich dreiviertel. Und dann habe ich halt Pause gemacht, also ich lag sozusagen mit dem Kopf auf dem Tisch, bis die anderen so weit waren wie ich.

[FaII 337–339]

Ich hab dann immer so – also ich sitz ja neben einem Freund, der heißt Omar, er ist auch gut in der Schule. Und wir langweilen uns halt die letzten 10 Minuten, also wir haben Freizeit. Das ist eigentlich gut, bloß die Aufgaben könnten ein bisschen schwerer sein, finde ich. [FII 79–82]

Faruk passt sich an die für ihn eigentlich zu niedrigen Lernanforderungen an. Andersherum ausgedrückt: Das Lernsetting knüpft nicht an sein vorhandenes Potenzial zur

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Selbststeuerung an. Ob diese Reaktion auf das unterfordernde Setting auch auf seinen Orientierungsrahmen zurückzuführen ist, wird in Kapitel 11.3 untersucht.

Gamze kann in den individualisierten Unterrichtsphasen ihre metakognitiven Kompetenzen weiter ausbauen: Das selbstgesteuerte Lernen ermöglicht ihr, eigenständig zu prüfen, ob sie die Lerninhalte verstanden hat. Damit kann sie selbst ihre inhaltlichen Stärken und Schwächen identifizieren. Karim kann auch im zweiten Jahr keine Fähigkeiten zur Selbststeuerung entwickeln. Warum Gamze im Unterschied zu Karim und Faruk im zweiten Jahr metakognitive Kompetenzen zur Selbststeuerung entwickeln kann, lässt sich möglicherweise mit ihrem Orientierungsrahmen begründen (vgl. Kapitel 11.3).

--Abbildung 21: Förderliche Bedingungen bezüglich der Dimension Struktur des Unterrichtssettings (eigene Darstellung)