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Teil III: Methodologische Grundlagen der Untersuchung

8.4 Auswertungsmethode

8.4.1 Formulierende und reflektierende Interpretation

Im Folgenden stelle ich das Vorgehen bei der formulierenden und reflektierenden Interpretation vor und gehe – falls Abweichungen von den empfohlenen Schritten vorliegen – auf Besonderheiten des Vorgehens bei dieser Forschungsarbeit ein. Im Rahmen der formulierenden Interpretation wird das Orientierungsschema, d.h. das Was eines Interviewtextes herausgearbeitet. Die Forscherin/der Forscher verbleibt mit der Analyse also auf der Ebene des theoretischen Wissens (vgl. Nohl 2009: 47). Im ersten Schritt geht es bei der formulierenden Interpretation darum, sich einen Überblick über das Datenmaterial zu verschaffen, indem ein thematischer Verlauf der Interviewthemen erstellt wird. Im Anschluss daran werden nach folgenden Kriterien die Textstellen ausgewählt, die transkribiert werden sollen:

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1. Textstellen, die jene Themen behandeln, die vorab von Forscherseite festgelegt wurden;

2. Textstellen, innerhalb derer sich die Befragten besonders ausführlich, engagiert und metaphorisch dicht zu Themen geäußert haben;

3. Textstellen, die Themen aufweisen, die in allen Interviews vorkommen.

Da im Falle des vorliegenden Forschungsvorhabens bereits eine Transkription des gesamten Interviews vorlag, beschränkte sich dieser Arbeitsschritt auf die Auswahl der transkribierten Textstellen, die die genannten Kriterien erfüllten.

Der zweite Schritt der umfasst die thematische Zusammenfassung des Datenmaterials und wird formulierende Feininterpretation genannt. Dieser Teil der Auswertung wird in der vorliegenden Untersuchung durch die Wahl der Interviewmethode leitfadengestütztes Interview beeinflusst, da der Leitfaden bereits die meisten Themen vorgibt und somit die Gliederung nach Themen strukturiert. Nach Nohl stellt dies jedoch kein Problem dar, sofern noch die Zusatzthemen ergänzt werden, die von den Befragten im Rahmen des Interviews selbst eingebracht wurden (vgl. Nohl 2009: 46f.). In der formulierenden Feininterpretation wird das Gesagte durch die Forscherin/den Forscher in eigenen Worten zusammengefasst.

Dabei bleiben die Forschenden vollständig im Rahmen des zu interpretierenden Textes, was zum Beispiel die Beibehaltung der Themenreihenfolge oder die Markierung von Themen beinhaltet, die erst aufgrund von Nachfragen angesprochen wurden (vgl. Nohl 2013: 8).

Im Rahmen der reflektierenden Interpretation wird rekonstruiert, wie eine Handlung hergestellt wird, d.h. in welchem Orientierungsrahmen ein Thema bzw. ein Problem abgehandelt wird (vgl. Bohnsack/Nentwig-Gesemann/Nohl 2007: 14f.). Die Konzentration darauf, wie das Untersuchungsthema von den Interviewten abgehandelt wird und weniger die Frage danach, was zum Untersuchungsgegenstand gesagt wird, macht die Besonderheit der dokumentarischen Methode aus (vgl. Kapitel 8.4). Um zwischen dem wie und dem was zu unterscheiden, kommt in reflektierenden Interpretation der Textsortentrennung eine entscheidende Rolle zu.

Die für diese Forschungsarbeit gewählte Interviewtechnik des episodischen Interviews produziert in erster Linie die Textsorten Erzählung und Beschreibung, aber auch die Textsorten Argumentation und Bewertung. Das Vorhandensein von argumentativen und bewertenden Passagen kann der Interviewsituation zugeschrieben werden: Der/die Interviewte will der interviewenden Person darlegen, warum er/sie auf eine bestimmte Art und Weise gehandelt hat (vgl. Bohnsack 2007: 60). Diese Textsorten verweisen auf das kommunikative, theoretische Wissen und damit auf das Orientierungsschema der

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interviewten Person. Die erzählenden und beschreibenden Sequenzen des Interviews offenbaren hingegen konjunktives, atheoretisches Wissen. Sie lassen auf die impliziten Erfahrungen der Akteure, die ihrer Handlungspraxis zugrunde liegen, und damit auf den Orientierungsrahmen der interviewten Person schließen (vgl. Kapitel 9.4).

Allerdings weist Nohl darauf hin, dass die Textsortentrennung eine analytische ist und damit nicht die Wirklichkeit abbildet: Gerade das Zusammenspiel von Erzählung/

Beschreibung und Argumentation/Bewertung in erzählgenerierenden Interviews macht deutlich, dass die Menschen in beiden Ebenen der Sprache leben. Und auch wenn die dokumentarische Methode dem konjunktiv-atheoretischem Wissen, wie es in Erzählungen und Beschreibungen artikuliert wird, besonderes Augenmerk schenkt, so kann ebenso kommunikativ-theoretisches Wissen dokumentarisch analysiert werden: Auch an diesem lässt sich herausarbeiten, wie jemand seine Handlungsweisen rechtfertigt bzw. bewertet, sodass hier ebenso Rückschlüsse auf den Orientierungsrahmen möglich sind (vgl. Nohl 2009:

49f.). Dies deckt sich mit Bohnsacks Erkenntnis, dass sich der Orientierungsrahmen gerade in der Auseinandersetzung mit den Orientierungsschemata „immer wieder reproduziert und konstruiert“ (Bohnsack 2012: 126; vgl. Kapitel 8.4).

Nach der Textsortentrennung beginnt in einem zweiten Schritt der reflektierenden Interpretation die komparative Analyse in ihrem vollen Ausmaß: Textsequenzen, die konjunktiv-atheoretisches Wissen beinhalten, werden daraufhin verglichen, wie die Interviewten mit dem Untersuchungsthema oder mit Teilaspekten davon umgehen, aus welchem Orientierungsrahmen heraus sie also das Untersuchungsthema bearbeiten. Diese Konzentration auf das Wie zeigt, dass es im Analyseverfahren der dokumentarischen Methode nicht um die Abbildung gesellschaftlicher Realität geht, sondern vielmehr darum, wie diese Realität von den Interviewten hergestellt wird. Für das gemeinsame Dritte (Tertium Comparationis), das den Vergleich strukturiert, bietet es sich bei leitfadengestützten Interviews an, zunächst die Themen auszuwählen, die das Interview strukturieren (vgl. Nohl 2012: 49f.). Um den Orientierungsrahmen und damit die implizite Regelhaftigkeit von Erfahrungen rekonstruieren zu können, ist es daran anschließend notwendig, über eine Sequenz von erzählten Handlungen hinweg Kontinuitäten innerhalb eines Falles zu identifizieren und diese im Rahmen des Forschungsprozess immer wieder mit anderen Fällen zu vergleichen (vgl. Nohl 2012: 45):

Dieser Orientierungsrahmen lässt sich in seiner Signifikanz dann empirisch valide erfassen, wenn er von anderen, differenten Orientierungsrahmen, innerhalb derer dieselbe Problemstellung, dasselbe Thema auf andere Art und Weise bearbeitet wird, abgegrenzt werden kann. Für die Sequenzanalyse bedeutet dies, dass die im

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ersten Fall aufeinander folgenden zweiten und weiteren Erzählabschnitte mit den zweiten und weiteren Erzählabschnitten anderer Fälle verglichen werden. Deshalb ist der Vergleich mit anderen Fällen, in denen dieselben Themen auf eine andere Art und Weise bearbeitet werden, für die dokumentarische Methode konstitutiv (Nohl 2012: 6).

Nach Bohnsack kann der Orientierungsrahmen insbesondere durch die Herausarbeitung positiver und negativer Vergleichs- bzw. Gegenhorizonte identifiziert und infolgedessen auch von anderen Orientierungsrahmen abgegrenzt werden. Bohnsack spricht davon, dass ein Orientierungsrahmen gleichsam zwischen Gegenhorizonten „aufgespannt“ sei (Bohnsack 2012: 131f.). Des Weiteren kommt bei der Rekonstruktion des Orientierungsrahmens den Textstellen eine besondere Aufmerksamkeit zu, die durch eine besondere „metaphorische Dichte“ (Bohnsack 2007: 233) gekennzeichnet sind. Dies können Passagen sein, in denen die interviewte Person etwas besonders ausführlich, oft oder emotional erzählt oder tatsächlich metaphorische Formulierungen benutzt. Wenn eine Schülerin beispielsweise eine Passage mit der Metapher einleitet, bezüglich des selbstgesteuerten Lernens „ins kalte Wasser geschubst“ worden zu sein, so kann die semantische Analyse dieser Formulierung nach Bohnsack in besonderem Maße zur Rekonstruktion des Orientierungsrahmen beitragen.

Um den Schritt der komparativen Analyse bei der Rekonstruktion von Orientierungs-rahmen zu verdeutlichen, soll im Folgenden ein Beispiel aus diesem Forschungsvorhaben gegeben werden. So kommt der Anfangssequenz der Interviews zur Herausarbeitung des Orientierungsrahmens eine besondere Bedeutung zu. Die Hervorhebung der Anfangssequenz im Rahmen der Analyse lässt sich mit Schützes Methodologie biographischer und narrativer Interviews begründen (vgl. Schütze 1977). Dadurch, dass sich zu Beginn der Befragung weder die Interviewten durch bisherige Erzählungen in Zugzwang bringen konnten, noch die Interviewerin durch den Leitfaden Einfluss auf den Erzählfluss nehmen konnte, ergibt sich für die Interviewten die Möglichkeit, weitgehend unbeeinflusst einen eigenen inhaltlichen Schwerpunkt zu setzen (vgl. Nohl 2009: 23f.). Die Einstiegspassage des leitfadengestützten Interviews dieses Forschungsvorhabens ist dafür bewusst offen gestaltet. Ihr liegen zwei Fragen zugrunde, die auf die Generierung einer Erzählung abzielen: „Als erstes möchte ich Dich bitten, Dich zurück an Deine Grundschulzeit zu erinnern. Kannst Du Dich erinnern, wie es war, zur Schule gekommen zu sein? Erzähl mal davon.“ und: „Wenn Du Deine vorherige Schule mit der jetzigen, der Gemeinschaftsschule vergleichst, was ist jetzt anders? Erzähl mal.” Es hat sich gezeigt, dass die Anfangssequenz bei vielen Fällen einen entscheidenden Hinweis auf den

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Orientierungsrahmen bezüglich der Themen Schule, Lernen und Selbststeuerung der jeweiligen Schülerinnen bzw. Schüler gibt und damit auf die Art und Weise, wie sie in der Schule handeln, bzw. welcher Orientierungsrahmen ihrem Handeln zugrunde liegt. Im Folgenden soll ein Ausschnitt aus der Analyse der Anfangssequenz verdeutlichen, wie durch ein fallvergleichendes Vorgehen unterschiedliche, dem Handeln zugrunde liegende Orientierungsrahmen sichtbar werden.

Laura Finn Belinda

1.Äußerung

„Als ich zur Schule gekommen bin“ o.ä.

2. Äußerung „Ich war da einfach nur aufgeregt und hab mich gefreut: Neue Freunde kennenlernen und vor allem rechnen, schreiben und lesen lernen.“

„War was Neues im

Gegensatz zu Kindergarten, jetzt nicht

mehr zu spielen oder so, sondern hinsetzen und tun, was der Lehrer sagt.“

„Ging so. Manchmal keine Lust gehabt, weil ich da immer Mobbingopfer war.“

Abbildung 13: Ausschnitt aus der Analyse der Anfangssequenz (in Anlehnung an Nohl 2009: 53)

Es zeigt sich, dass die zwei Schülerinnen und der Schüler nach einer durch den Leitfaden bedingten, ähnlichen Ausgangsäußerung mit ihrer zweiten Äußerung unterschiedliche Themen zentrieren. Finn zieht beispielsweise den positiven Gegenhorizont Kindergarten heran, um die strikten Rahmenbedingungen in den Fokus seiner Schulerfahrungen zu stellen. Belinda hingegen erinnert sich an ihre Mobbingerfahrungen und stellt damit das soziale Miteinander in der Schule ins Zentrum. Laura thematisiert zwar auch das soziale Miteinander – das Kennenlernen neuer Freunde – ins Zentrum ihrer Erzählung stellt sie jedoch ihre Freude daran, rechnen, schreiben und lesen zu lernen. Bereits an diesem kleinen Beispiel lässt sich zeigen, inwiefern ein vergleichendes Vorgehen bei der Analyse eines Einzelfalls Kontrastfolien schafft, die über den Vergleichshorizont der Forschenden selbst hinausgehen. Ebenso wird an dem vergleichenden Vorgehen das Ziel der reflektierenden Analyse deutlich: Über eine Abfolge von Handlungen hinweg sollen Kontinuitäten identifiziert und die implizite Regelhaftigkeit von Erfahrungen rekonstruiert werden (vgl. Nohl 2009: 51). Dem somit aus der Anfangssequenz herausgearbeiteten Orientierungsrahmen wird bei der Analyse der weiteren Textstellen nachgegangen, sodass der Orientierungsrahmen eines Falls einerseits mithilfe des Kontrasts anderer Sequenzen aus demselben Interview und andererseits durch den Kontrast mit Sequenzen aus Interviews mit anderen Fällen geschärft werden kann.

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Zusammenfassend lässt sich festhalten: Im Rahmen der beiden Auswertungsschritte formulierende und reflektierende Interpretation werden die Transskripte durch die Berücksichtigung der Textsortentrennung in einzelne Sequenzen zergliedert und mithilfe der komparativen Analyse ausführlich interpretiert. Der dritte Schritt nach der formulierenden und reflektierenden Interpretation umfasst nach Bohnsack die Diskurs- oder Fallbeschreibung, in der alle Sequenzen eines Falls wieder zu einem zusammenhängenden Text zusammengefügt werden. Da in der vorliegenden Forschungsarbeit keine Gruppen- sondern Einzelinterviews geführt worden sind, liegen Fallbeschreibungen vor (vgl. Kapitel 9). Die Fallbeschreibungen beinhalten die inhaltliche Wiedergabe der Äußerungen der Befragten (Was wird gesagt?), gleichzeitig wird anhand der inhaltlichen Wiedergabe der gewählte Modus Operandi, also die Art und Weise des Handelns und damit der rekonstruierte Orientierungsrahmen der interviewten Person verdeutlicht (Wie wird es gesagt?). Mit den Fallbeschreibungen dieser Arbeit soll Antwort auf die erste Forschungsfrage gefunden werden:

Forschungsfrage 1:

1. Welche Orientierungsrahmen bezüglich der Themen Schule, Lernen und Selbststeuerung lassen sich aus den Äußerungen der Lernenden rekonstruieren und welchen Einfluss haben diese auf die Wahrnehmung, Nutzung und Gestaltung der Lernumgebung und damit auf die Entwicklung von Selbststeuerungskompetenzen?

Der Frage danach, inwiefern die individuellen Orientierungsrahmen der einzelnen Fälle zu fallübergreifenden Orientierungsrahmen und damit zu Typen abstrahiert und spezifiziert werden können, wird im folgenden Kapitel unter der dokumentarischen Begrifflichkeit der

„sinngenetischen Typenbildung“ nachgegangen.