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4.1.1 Die Effektivität der Rehabilitation

4.1.1.1 Inhaltliche Dimension: Was bedeutet Effektivität in der Geriatrie?

Unter dem Begriff der Effektivität wird allgemein der Grad der Zielerreichung einer Handlung bezeichnet; eine Handlung ist demnach um so effektiver, je mehr sie dazu beiträgt, vorgegebene Ziele zu erreichen.184 Als globale Ziele des Gesundheitswe-sens gelten die Erhaltung, Wiederherstellung und Verbesserung von Gesundheit und Lebensqualität.185 Zu klären ist, welches die spezifischen Ziele der Geriatrie

183 Während in der Praxis – nicht zuletzt aus Praktikabilitätsgründen – ein eher kurzer Zeitraum und eine moderat gefasste inhaltliche Perspektive vorzuherrschen scheinen, werden auch Evaluationskon-zepte vorgeschlagen, die einen inhaltlich möglichst weit gefassten Begriff der Effektivität mit einem möglichst späten Evaluationszeitpunkt zu verknüpfen suchen. Vgl. Görres et al. (1991), die klinikinter-ne Erfolgsfaktoren auf kurzfristig messbare bio-medizinische Faktoren verengen und breiter gefasste – d.h. psychologische und soziale Elemente umfassende – alltagsrelevante Erfolgskriterien mit einem späteren Erhebungszeitpunkt verknüpfen.

184 Gerade in der englischsprachigen medizinischen Forschung wird häufig unterschieden zwischen

‚Efficacy‘ und ‚Effectiveness‘. Dabei bezeichnet erste die Effektivität unter idealen Bedingungen – d.h.

perfekt geschulte Mitarbeiter, uneingeschränkte Compliance der Patienten etc. – während mit Effekti-vität die EffektiEffekti-vität im klinischen Alltag gemeint ist. Vgl. zu dieser Unterscheidung Drummond et al.

(1997: 7), Mandelblatt et al. (1996: 137). Im Rahmen dieser Arbeit kann es immer nur um die ‚Effecti-veness‘ gehen.

185 Zum Ziel ‚Gesundheit‘ vgl. § 1 SGB V. Zum Begriffspaar ‚Gesundheit und Lebensqualität‘ vgl.

Hoffmann (1998).

früh spät

eng weit

Zeitliche Dimension

Inhaltliche Dimension Funktioneller Zustand bei

Entlassung

Lebensqualität nach 12 Monaten

sind und wie weit der Gesundheitsbegriff inhaltlich zu fassen ist, wenn es darum gehen soll, die Effektivität stationärer geriatrischer Rehabilitation abzubilden.

Die verschiedenen Ziele und Aufgabenbereiche der Rehabilitation wurden schon in Kapitel 2 erläutert. Eine allgemein akzeptierte, endgültige und empirisch fassbare Definition dessen, was Geriatrie im Allgemeinen und geriatrische Rehabilitation im Besonderen überhaupt ist und leisten soll, gibt es allerdings noch nicht.186

Verschiedene Autoren sprechen sich für eine umfassende Zieldefinition geriatrischer Rehabilitation aus. So liegt für Meier-Baumgartner (1992: 11) das Ziel geriatrischer Rehabilitation in der „Verbesserung der Gesamtsituation des Patienten nach einer Erkrankung sowie die Wiedereingliederung in Familie und Gesellschaft, und damit die Vermeidung von Institutionalisierung.“ Steinhagen-Thiessen & Borchelt (1999:

167) teilen dieses Ziel, stellen aber fest, dass die „Erfassung und Beurteilung der

‚funktionellen‘ Gesundheit [...] ein besonderes Charakteristikum der Geriatrie [ist], das sie gerade von anderen medizinischen Spezialgebieten unterscheidet.“ Eine Durchsicht geriatrischer Studien zeigt auch, dass in der Geriatrie primär funktionelle Parameter zur Beurteilung des Rehabilitationserfolgs herangezogen werden.187 Da-bei bedeutet funktionelle Gesundheit, dass der Patient selbstständig das erledigen kann, was als die grundlegenden Aktivitäten des täglichen Lebens bezeichnet und häufig mit ADL – für Activities of Daily Living – abgekürzt wird.

Dieser Fokus soll auch im Rahmen der hier vorliegenden Arbeit beibehalten werden.

Zum einen wird so die Vergleichbarkeit der Ergebnisse dieser Arbeit mit denen an-derer Untersuchungen sichergestellt. Zum anderen lässt sich so der Datenerhe-bungsaufwand erheblich reduzieren und dennoch der Kernbereich geriatrischer Ar-beit erfassen. Um die Beschränkung auf diesen zentralen Aspekt der Geriatrie deut-lich zu machen, ist im Folgenden – auch wenn nicht ausdrückdeut-lich erwähnt – mit Ef-fektivität immer die EfEf-fektivität in Bezug auf die Verbesserung der Selbstständigkeit in Dingen des täglichen Lebens – kurz: ADL-Effektivität – gemeint.

186 Vgl. dazu die Diskussion um die Charakteristika geriatrischer Patienten in Kapitel 2 dieser Arbeit.

187 Vgl. Duncan et al. (2000), Sulter et al. (1999), Meier-Baumgartner (1992). Diese Praxis der Fokus-sierung auf funktionelle Parameter wird von Vertretern eines breiten Ansatzes Meier-Baumgartner (1992: 3) kritisiert: „Zu wenig breit scheint mir nach der Literaturdurchsicht auch das Ziel der geriatri-schen Rehabilitation bei Effektivitätsmessungen gefasst zu werden.“

Ein weiterer, regelmäßig verwendeter ‘Erfolgsindikator‘ ist die Entlassung des Patienten nach Hause;

vgl. Meier-Baumgartner (1992: 2), Duncan et al. (2000), Huusko et al. (2000). Verschiedene Autoren – etwa Meier-Baumgartner (1991: 133) und Fagerberg et al. (2000: 2583) – haben allerdings überzeu-gend argumentiert, dass dieser Indikator nicht valide ist: Entlassung nach Hause muss nicht unbedingt mit einer effektiven Rehabilitation deckungsgleich sein, weil der Entlassungsort abhängig ist von vielen anderen Faktoren, etwa dem Vorhandensein einer guten sozialen und ambulant

pflegerisch-therapeutischen Infrastruktur. Der Indikator wird hier deshalb nicht verwendet.

Zur Messung der funktionellen Fähigkeiten eines Patienten wird in dieser Studie der Barthel-Index188 in der deutschen Übersetzung nach AGAST Arbeitsgruppe Geriatri-sches Assessment (1995) verwendet. Der Barthel-Index (BI) – in dieser Studie zu Beginn und am Ende der Rehabilitation erhoben – ist Duncan et al. (2000: 740) zu-folge der am häufigsten benutzte, subjektiv evaluierte Index im Bereich der Schlag-anfallforschung zur Messung der funktionellen Selbstständigkeit von Patienten in den Aktivitäten des tägliche Lebens. Wie die Tab. 4-1 zeigt, besteht der Barthel-Index aus insgesamt 10 verschiedenen, unterschiedlich stark gewichteten Items.

Punkte

Quelle: AGAST Arbeitsgruppe Geriatrisches Assessment (1995) Tab. 4-1: Die Konstruktion des Barthel-Index

Die erreichten Punktwerte für die einzelnen Items werden aufsummiert; so können maximal – bei völliger Selbstständigkeit des Patienten in den grundlegenden Aktivi-täten des täglichen Lebens – 100 Punkte und minimal – bei völliger Abhängigkeit des Patienten – 0 Punkte erreicht werden.

Das Messniveau des BI ist somit prinzipiell ordinal, er wird aber in Studien regelmä-ßig wie eine metrische Variable behandelt. In Studien, die das ordinale Datenniveau des BI berücksichtigten, wurden häufig Grenzwerte festgelegt, um so den Zustand von Patienten binär als gut oder schlecht kategorisieren zu können.

Als Mittelweg zwischen einer quasi metrischen und der binären Verwendung des BI gibt es darüber hinaus noch Ansätze, den BI in mehrere Gruppen einzuteilen.

188 Vgl. Mahoney & Barthel (1965).

Der Barthel-Index wurde schon mehrfach – auch speziell für Schlaganfall-Patienten – getestet und weist eine gute Reliabilität und Validität auf. Dennoch ist auch mit seiner Verwendung eine Reihe von Problemen verbunden, die im Folgenden be-schrieben werden sollen.

Zunächst einmal beklagen Sulter et al. (1999: 1539): „Curiously, although the BI is widely used, few studies have been conducted on the clinical relevance of the sum scores.“189 Es schließt sich unmittelbar die Frage an, wie der BI ausgewertet werden soll: Wie oben schon erwähnt wurde, ist das Messniveau der einzelnen Items des BI ordinal, in der Praxis wird der BI allerdings regelmäßig wie eine metrische Variable behandelt.190 Sulter et al. (1999: 1539) kritisieren diese Praxis: „We found it cumber-some that prestigious journals accepted presentations of results in mean and me-dian BI values, which are completely inappropriate statistical endpoints.“ In An-knüpfung an Schnell et al. (1992:151ff.) wird hier jedoch die Verwendung des BI zunächst als pragmatisch gerechtfertigt betrachtet; zudem werden Kontrolluntersu-chungen auf ordinalem Messniveau durchgeführt.

Wenn man nun zwar die Summenscores verwenden, den ordinalen Charakter der Variablen jedoch berücksichtigen will, stellt sich allerdings sogleich das nächste Problem, welches die Interpretation der Ergebnisse einer Studie und insbesondere ihre Vergleichbarkeit mit denen anderer Studien erschwert: Für die Gruppierung der BI-Werte gibt es keinen einheitlichen Standard. Entscheidet man sich für eine binäre Kodierung des Barthel-Index (erfolgreich/nicht erfolgreich; selbständig/ unselbst-ständig), so stellt man fest, dass die Grenzwerte häufig von Studie zu Studie variie-ren; in einer Meta-Analyse von Sulter et al. (1999) etwa liegen sie zwischen 50 und 95.191 Allerdings, so stellen Sulter et al. (1999: 1539) fest: „...many of the cutoff scores were arbitrarily chosen and have never been validated.“192 Auch bei der diffe-renzierteren Gruppierung des BI ist ein solches Validierungsdefizit festzustellen.

Dies gilt auch für die folgende Gruppierung nach Meier-Baumgartner (1991):

BI <= 20: totale Abhängigkeit des Patienten in der alltäglichen Lebensführung;

25 <= BI <= 40: schwere Abhängigkeit des Patienten in der alltäglichen Lebensfüh-rung;

189 Als methodisch überlegene Alternative käme somit die Darstellung von Einzelscores in Frage. Vgl.

dazu Jorgensen et al. (1995).

190 Vgl. hierzu die Übersicht bei Meier-Baumgartner (1992: 66ff.).

191 Fagerberg et al. (2000: 2583) bezeichnen alle Patienten mit einem BI < 95 als abhängig in der tägli-chen Lebensführung.

192 So stellen etwa Duncan et al. (2000: 1429) fest, dass Phase II-Studien zur Erprobung von Lyse-Medikamenten statistisch signifikant unterschiedliche Ergebnisse lieferten, je nachdem, welcher cutoff-Wert gewählt wurde.

45 <= BI <= 60: deutliche Abhängigkeit des Patienten in der alltäglichen Lebensfüh-rung;

BI >= 60: geringfügige Abhängigkeit/Unabhängigkeit in der alltäglichen Lebensfüh-rung.

Hier scheint vor allem der obere Grenzwert mit 60 Punkten – insbesondere auch im Vergleich zu anderen Gruppierungen – recht niedrig angesetzt. Deshalb wird die Einteilung für diese Arbeit noch um eine fünfte Kategorie193 ergänzt, wonach erst ein BI von >=85 Punkten als Indikator für die Unabhängigkeit des Patienten in den all-täglichen Dingen des Lebens gewertet werden kann.

Der BI ist konstruktionsbedingt ein zweiseitig trunkierter Indikator: Entsprechend sind sowohl floor-Effekte als auch ceiling-Effekte194 und damit verbunden eine man-gelnde Sensitivität des Indikators an seinen Rändern zu erwarten.195

Eines in der geriatrischen Praxis, aber auch in der Literatur – etwa bei Stemmer et al. (1999) – weit verbreitetes Argument, welches gegen den BI vorgebracht wird, lautet: Der BI sei nicht umfassend genug. Allerdings ist dies kein Argument gegen den BI im eigentlichen Sinne, sondern höchstens gegen die Art, wie der BI verwen-det wird.

Dass der Barthel-Index trotz dieser Einschränkungen so häufig eingesetzt wird, liegt nicht nur an seinen oben beschriebenen Vorteilen, sondern auch daran, „dass der-zeit keine Skala existiert, die die funktionellen Aspekte der Patienten [...] in ihrem ganzen Spektrum beschreibt.“196