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4.3 D IE KONFUNDIERENDEN P ATIENTENCHARAKTERISTIKA

4.3.3 Gesundheitlicher Zustand des Patienten

Entsprechend der Definition dessen, was in dieser Arbeit unter dem Begriff des ge-sundheitlichen Zustandes eines Patienten verstanden wird, stehen Aspekte der funktionellen Kompetenz des Patienten im Vordergrund.

4.3.3.1 Funktioneller Zustand

Der BI bei Aufnahme (BI-A) gilt als zentraler Prädiktor für die Effektivität und Effizi-enz der Rehabilitation.263 Nach Keith (1997: 1302) kann es als gesichert gelten, dass Patienten mit einem BI-A zwischen 20 und 60 Punkten den größten Zugewinn erwarten lassen. Daher liegt der Fokus der Rehabilitation häufig auf so genannten

‚middle band‘-Patienten.264 Insofern lässt sich folgende Hypothese aufstellen:

P-10 Bei Patienten mit einem BI-A zwischen 20 und 60 Punkten ist die Effek-tivität der Rehabilitation höher als bei anderen Patienten.

Auch zum Einfluss des BI-A auf die Verweildauer gibt es in der Literatur eine Reihe von Ergebnissen: So haben nach Meier-Baumgartner (1991: 137) Patienten mit ei-nem BI-A unter 20 und über 80 Punkten die kürzeste Verweildauer. In einer neueren Studie zur Rehabilitation von Schlaganfallpatienten zeigt Meier-Baumgartner (2000:

28), dass zwischen dem Barthel-Index bei Aufnahme und der Verweildauer ein ne-gativer Zusammenhang besteht. In der GERASS-Studie vom Sozialministerium Ba-den-Württemberg (1996: 57) schließlich haben Patienten mit einem BI-A unter 80 Punkten eine um durchschnittlich 1,2 Wochen längere Verweildauer. Aufgrund die-ser widerstreitenden Ergebnisse soll hier die These aufgestellt werden:

P-11 Der Barthel-Index bei Aufnahme ist ein Prädiktor für die Verweildauer.

4.3.3.2 Mobilität

Die Mobilität eines Patienten – d.h. seine Fähigkeit zur physischen Ortsveränderung – wird zwar auch schon im BI sehr stark berücksichtigt, allerdings spricht einiges dafür, den „Timed Up & Go“-Test (TUG) nach Podsiadlo & Richardson (1991) als spezifischen Mobilitätsindikator einzusetzen.265 Zunächst einmal ist für die Fähigkeit eines Menschen, sich im alltäglichen Leben selbstständig zu behaupten, seine

263 Vgl. z.B. Meier-Baumgartner (1991: 196).

264 Vgl. Kalra & Eade (1996) sowie Davidoff et al. (1991).

265 Der TUG überprüft die minimale Beweglichkeit eines Patienten, die beispielsweise die Vorausset-zung für den selbstständigen Gang zur Toilette oder zum Überqueren einer Straße ist. Bei diesem Test sitzt der Patient auf einem Stuhl. Nach Aufforderung soll der Patient mit einem normalen und sicheren Gang bis zu einer drei Meter entfernten Linie laufen, sich dort umdrehen, wieder zurück zum Stuhl gehen und sich in die Ausgangsposition begeben. Die dafür benötigte Zeit wird in Sekunden notiert.

sische Mobilität von zentraler Bedeutung.266 Eine Mehrfacherfassung erschien aus diesem Grunde sinnvoll. Darüber hinaus handelt es sich beim TUG um einen objek-tiv evaluierten Test, der die Mobilität durch seine genauere Abstufung noch differen-zierter erfasst, als dies die Items im BI tun. Allerdings stellt der Test relativ hohe Anforderungen an die Mobilität der Patienten und ist deswegen insbesondere bei Schlaganfallpatienten nur bedingt durchführbar.267 Eine durch GERASS268 unter-stützte Hypothese lautet:

P-12 Je niedriger die physische Mobilität des Patienten bei Aufnahme ist, de-sto länger ist die Verweildauer.

4.3.3.3 Hilfebedarf vor Aufnahme

Auch schon vor einem bzw. ohne einen Schlaganfall ist ein gewisser Anteil der älte-ren Menschen pflege- oder hilfsbedürftig.269 Dieser Zustand muss bei Effektivitäts-und Effizienzuntersuchungen mit berücksichtigt werden. Bei Patienten, die schon vor dem Schlaganfall hochgradig hilfsbedürftig gewesen sind – bei denen also schon verfestigte funktionelle Einbußen vorliegen – ist kaum zu erwarten, dass sie nach einem Schlaganfall wieder selbstständig in den Dingen des alltäglichen Le-bens werden.270 Deswegen lautet die von verschiedenen Studien271 bestätigte The-se:

P-13 Je höher der Hilfebedarf eines Patienten vor dem Akutereignis ist, desto niedriger ist die Rehabilitationseffektivität.

Im Rahmen dieser Studie kann der Hilfebedarf vor Aufnahme nur näherungsweise erfasst werden; als Indikator dient dabei die tatsächliche Inanspruchnahme von Hilfe vor Aufnahme.272 Für diesen Index ist bekannt, dass mit zunehmendem Alter (zwi-schen 70 und 95 Jahren) die Inanspruchnahme von Hilfe sowohl hinsichtlich der Häufigkeit als auch der Intensität stark ansteigt.273 Auch wurde gezeigt, dass der

266 Vgl. Sozialministerium Baden-Württemberg (1996: 17, 23).

267 Vgl. dazu Harlacher et al. (1999: 204).

268 Vgl. Sozialministerium Baden-Württemberg (1996: 57).

269 Vgl. dazu auch Jette (1998), dessen Daten sich allerdings nur auf die nicht-institutionalisierte Bevöl-kerung beziehen.

270 So auch Meier-Baumgartner (2000: 11).

271 Vgl. etwa Steinhagen-Thiessen & Borchelt (1999: 168ff.), Jorgensen et al. (1995: 404), Colantonio et al. (1996).

272 Diese in Anspruch genommene Hilfe wird dabei mit steigender Betreuungsintensität wie folgt kate-gorisiert:

keine Hilfe in Anspruch genommen,

familiäre Hilfe in Anspruch genommen,

professionelle Hilfe in Anspruch genommen,

familiäre und professionelle Hilfe in Anspruch genommen.

273 Vgl. Linden et al. (1999: 482).

stärkste Faktor zur Auslösung der Inanspruchnahme von Hilfe und Pflege die Unfä-higkeit der Betroffenen zur Ausführung basaler Aktivitäten des täglichen Lebens ist.274 Allerdings muss berücksichtigt werden, dass die Inanspruchnahme medizini-scher und pflegerimedizini-scher Hilfe sich nicht ausschließlich durch medizinische Faktoren erklären lässt.

4.3.3.4 Kognitiver Status des Patienten

Der kognitive Status eines Patienten beschreibt seine Fähigkeiten zur zeitlichen und räumlichen Orientierung sowie zu einfachen Gedächtnisleistungen.275

Im Hinblick auf die Behandlung und Rehabilitation von Schlaganfallpatienten sind deren kognitive Fähigkeiten aus zwei Gründen von Bedeutung. Zum einen stellen Einschränkungen der kognitiven Fähigkeiten schon an sich eine Restriktion des Pa-tienten in seiner eigenständigen Lebensführung dar, selbst wenn sonst keine kör-perlichen Einschränkungen vorliegen. Zum anderen reduzieren sie das Lernvermö-gen eines Patienten, d.h. seine Fähigkeit, aktiv am Rehabilitationsprozess mitzuar-beiten und so körperliche Einschränkungen abzubauen.

Zur Erfassung des kognitiven Status‘ der Patienten diente hier der Mini-Mental-State-Test (Mini-Mental-State-Examination, MMSE)276. Dabei handelt es sich um das am häufigsten angewandte psychometrische Screening-Verfahren zur Erfas-sung und Schweregradeinschätzung von kognitiven Störungen als dem Leitsyndrom der Demenz.277 Der Test enthält 30 Fragen zu den Bereichen Orientiertheit, Ge-dächtnis, Aufmerksamkeit und Rechenfähigkeit, Lesen, Schreiben und visuell-konstruktive Fähigkeiten.278 Entsprechend sind beim MMSE zwischen 0 und 30 Punkten möglich. Huusko et al. (2000) schlagen dabei folgende – und im Rahmen dieser Arbeit übernommene – Kategorisierung vor:

• 0-11 Punkte: Schwere Demenz,

• 12-17 Punkte: mittelschwere Demenz,

• 18-23 Punkte: leichte Demenz,

• 24-30 Punkte: keine Demenz.

274 Vgl. Linden et al. (1999: 491).

275 Vgl. dazu Caine & Grossman (1992).

276 Vgl. Folstein et al. (1975).

277 Vgl. Caine & Grossman (1992: 617).

278 Der Test enthält u.a. folgende Fragen und Handlungsaufforderungen: “Was für ein Datum ist heute?

Welcher Monat? Wo sind wir jetzt? Ziehen Sie von 100 jeweils 7 ab (max. 5 mal). Schreiben Sie bitte einen Satz (mind. Subjekt und Prädikat). Kopieren Sie bitte die vorliegende Zeichnung (zwei Fünfek-ke).“

Der Test hat gegenüber ähnlichen Tests279 den Vorteil einer weiten Verbreitung und damit einer hohen Vergleichbarkeit der Ergebnisse; er hat jedoch den Nachteil, dass er nicht re-test-fähig ist; deswegen wurde er nur zur Einstufung der kognitiven Fä-higkeiten zu Beginn der Rehabilitation eingesetzt. Darüber hinaus ist der Test sprachlich gebunden und deshalb bei Patienten mit einer motorischen Aphasie häu-fig nicht durchführbar. Bei einem Großteil der Patienten insbesondere in der frühen Rehabilitationsphase wird der Test deswegen nicht durchgeführt werden können.280 Claes (1998: 191) berichtet weiter über eine Insensitivität des Instruments am obe-ren Ende der Skala, so dass frühe Demenzstadien häufig nicht erkannt würden.

Auch wurde gezeigt, dass etwa das Bildungsniveau eines Patienten als konfundie-rende Variable wirken kann.281 Eine zentrale These, die z.B. von Galski et al. (1993), Sozialministerium Baden-Württemberg (1996: 57) und Huusko et al. (2000)282 be-stätigt wurde, lautet nun:

P-14 Je niedriger der MMSE-Wert bei Aufnahme ist, desto niedriger sind Ef-fektivität und Effizienz der Rehabilitation.

Die Autoren der GERASS-Studie konnten keinen signifikanten Einfluss des kogniti-ven Status‘ eines Patienten auf seine Verweildauer feststellen.283 Es soll deshalb die These aufgestellt werden:

P-15 Der MMSE-Wert bei Aufnahme hat keinen Einfluss auf die Verweildauer.

4.3.4 Zusammenfassung

In der folgenden Abbildung sind noch einmal die verschiedenen Elemente der Pati-entencharakteristika zusammen gefasst. Dabei wird auch deutlich, dass die demo-graphischen Charakteristika der Patienten auch einen Einfluss auf den gesundheitli-chen Zustand der Patienten vor dem Akutereignis und bei Aufnahme haben (vgl.

Abb. 4-11).

279 Z.B dem NCSE (Neurobehavioral Cognitive Status Examination); vgl. dazu Schwamm et al. (1987).

280 Vgl. Harlacher et al. (1999: 205).

281 Vgl. Caine & Grossman (1992: 618).

282 In der Arbeit von Huusko ging es um geriatrische Patienten mit Hüftfraktur.

283 Vgl. Sozialministerium Baden-Württemberg (1996: 57).

Patientencharakteristika (konfundierende Variablen)

Prozessuale Charakteristika Umfassen

Demographische Charakteristika

Gesundheitlicher Zustand vor Akutereignis/bei Aufnahme

Beeinflussen

Abb. 4-11: Elemente der Patientencharakteristika

Die folgende Tabelle fasst die Hypothesen zum Einfluss der Patientencharakteristi-ka auf die Ergebnisqualität zusammen (vgl. Tab. 4-3):

Übersicht über die Hypothesen zum Einfluss von Patientencharakteristika auf die Ergebnisqualität

P-1 Ältere Patienten sind bei Aufnahme funktionell stärker eingeschränkt als jüngere Patienten.

P-2 Das Patientenalter ist ein Prädiktor für die Effektivität, Effizienz und die Verweildauer der geriatrischen Rehabilitation.

P-3 Frauen sind bei Aufnahme in die geriatrische Einrichtung funktionell stärker eingeschränkt als Männer.

P-4 Das Geschlecht des Patienten wirkt sich nicht auf die Effektivität und Effizienz der Rehabili-tation aus.

P-5 Patienten, die vor dem Akutereignis allein lebten, werden nach ihrer vollstationären Rehabi-litation häufiger in ein Pflegeheim entlassen als nicht allein lebende Patienten.

P-6 Patienten, die aus einem Pflegeheim aufgenommen werden, haben einen schlechteren funk-tionellen Status bei Aufnahme als Patienten, die nicht aus Pflegeheimen aufgenommen wer-den.

P-7 Bei Patienten, die aus einem Pflegeheim aufgenommen werden, ist die Rehabilitation weni-ger effizient und effektiv als bei Patienten, die nicht aus Pflegeheimen aufgenommen werden.

P-8 Mit zunehmender Latenz sinkt die Effektivität der Rehabilitation.

P-9 Mit zunehmender Verweildauer steigt die Effektivität der Rehabilitation.

P-10 Bei Patienten mit einem BI-A zwischen 20 und 60 Punkten ist die Effektivität der Rehabilitati-on größer als bei anderen Patienten.

P-11 Der Barthel-Index bei Aufnahme ist ein Prädiktor für die Verweildauer.

P-12 Je niedriger die physische Mobilität des Patienten bei Aufnahme ist, desto länger ist die Ver-weildauer.

P-13 Je höher der Hilfebedarf eines Patienten vor dem Akutereignis ist, desto niedriger ist die Rehabilitationseffektivität.

P-14 Je niedriger der MMSE-Wert bei Aufnahme ist, desto niedriger sind Effektivität und Effizienz der Rehabilitation.

P-15 Der MMSE-Wert bei Aufnahme hat keinen Einfluss auf die Verweildauer.

Tab. 4-3: Übersicht über die Hypothesen zum Einfluss von Patientencharakteristika auf die Ergebnisqualität

5 Die empirische Analyse

Dieses Hauptkapitel der Arbeit gliedert sich in vier Teile. Zunächst wird der Prozess der Datenerhebung und Datenaufbereitung beschrieben (5.1). Danach werden die Beziehungen der Patientencharakteristika untereinander analysiert (5.2). Im An-schluss daran folgt die Analyse der Einrichtungscharakteristika (5.3). Im vierten Teil werden die beiden Ebenen zusammengeführt und gemeinsam untersucht (5.4).