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A) Soziale Gruppenarbeit und B) Gemeinwesenorientierte Beratung

3. B) Gemeinwesenorientierte Beratung der AdressatInnen des Wohnprojektes

3.2. Inhalt, Methodik und Ziel der Beratung

Im Unterschied zu einer Stelle der freien oder öffentlichen Wohlfahrtspflege, die mit einer fachlichen Lebensberatung die Wirklichkeitserfahrung auffälliger Personengruppen eines Gemeinwesens zu bearbeiten versucht, ist die Beratung einzelner Personen die zukünftig der gleichen Hausgemeinschaft angehören eine besondere Situation. Beratung fand zwar zu festen Zeiten, aber i.d.R. auf Anfrage der AdressatInnen statt und entwickelte sich zu einer die Gruppenveranstaltungen ergänzenden Maßnahme. Was bei letzteren thematisiert wurde, konnte nach Wunsch im Beratungsgespräch individuell be- und verarbeitet werden.

Diese Art Einzelberatungen sind deshalb nicht losgelöst von den Gruppenveranstaltungen zu sehen. Häufig wiederkehrende Beratungsschwerpunkte fokussierten auch ökonomische und materielle Nöte der AdressatInnen, doch spiegeln sie noch viel stärker die Suche nach verlässlicher Erwartbarkeit des häuslichen Handlungszusammenhangs. Folgende Bera-tungsthematiken lassen sich rückblickend eingrenzen:

• die unterschiedlichen Lernerfahrungen in der Auseinandersetzung mit der Vielfäl-tigkeit von Fragen der Tagesstruktur;

• die Entwicklung und das Sichtbarwerden spezifisch weiblicher und spezifisch männlicher Konflikte, hinsichtlich der Entfaltungsmöglichkeiten und der anfallen-den Tätigkeiten in der Wohnung und im Umfeld;

• das Infragestellen eingeübter Verhaltensweisen, Normen und Rollen;

• das Wahrnehmen und Eingestehen von Bedürftigkeiten;

• das Entdecken persönlicher Fähigkeiten und Ressourcen z.B. hinsichtlich berufli-cher Neuorientierung;

• die Erfahrung, insbesondere von Frauen, dass Aktivität und Passivität den Grup-penprozess entscheidend bestimmen;

• das Erkennen von Ungleichheit, verbunden mit der Erfahrung durchaus persönlich etwas bewirken zu können.

In der engen Verbindung der Thematiken zur alltäglichen Wirklichkeitserfahrung und der Nähe zu den primären Handlungsbezügen wie Familie, Nachbarschaft und soziokulturelles Milieu zeigt sich die spezifische Ausprägung des Beratungsangebotes. Ihre Lebens-verhältnisse, deren Einschränkungen und Möglichkeiten thematisierten die AdressatInnen allmählich eigeninitiativ und vor dem Hintergrund ihres Erlebens, was letztlich auch dem wünschenswerten Ziel dieser Beratungsform entsprach. Die Inhalte anhand derer die AdressatInnen das Resultat ihrer bewussteren oder gar neuer Verhaltensweisen selbst er-fahren und überprüfen konnten, waren authentische Komponenten ihres praktischen All-tags. Die Motivation, neue Erfahrungen erproben zu wollen, steht im Zusammenhang mit deren gesellschaftlichen Eingebundenheit und Sinnhaftigkeit. Mit dem auf aktives Handeln gerichteten Zielverständnis der flankierenden Beratung Einzelner ist deshalb die speziali-sierte Fachberatung z.B. des kom munalen Allgemeinen Sozialdienstes (ASD) oder des Jugendamtes nicht zu ersetzen. Die Angebote dieser Dienste nahmen verschiedene Bewoh-nerInnen zeitweise in Anspruch. Bei der gemeinwesenorientierten Beratung der Bewohne-rInnen ging es vielmehr um eine Art Begleitung im Kontext der neu zu gestaltenden Wohnverhältnisse einzelner Haushalte.

Um den Wert einer lebensweltlichen generalistischen Beratung als Teil des Parti-zipationskonzeptes zu veranschaulichen, werden nun im folgenden Zielsetzungen dieses Tätigkeitsfeldes vorgestellt. Dabei geht es eher darum, den ergänzenden Charakter der Beratung zu den Gruppenveranstaltungen zu präsentieren und nicht um eine vertiefende Diskussion der Arbeitsweisen einer fachlich fundierten Lebensberatung. Es soll vielmehr

aufgezeigt werden, wie Beratung mit dem starken Feldbezug der gemeinwesenorientierten Sozialen Arbeit so gestaltet werden muss(te), damit sie einem Verständnis unterschiedli-cher Kulturen und Lebensstile entgegenkommen kann und für die jeweilige Interaktion sinnvoll und erfolgversprechend scheint.

In Anlehnung an das Lebenslagenkonzept von Ingeborg Nahnsen41, die Systematik der Beratungsinhalte von Steven Murgatroyd42 und die Prinzipien feministischer Beratung43 können folgende allgemeine Ziele benannt werden, womit sich die generalistische Bera-tung, die auf Alltagsbewältigung der zukünftigen BewohnerInnen bezogen war, in ihren Absichten charakterisieren lässt:

1. Ziele hinsichtlich der sozio-ökonomischen Lage von Menschen:

Physische Grundbedürfnisse müssen sichergestellt werden. Hierzu bedarf es einer wirtschaftlichen und sozialen Absicherung, meistens durch flankierende Maßnah-men sozialer Dienste (z.B. Allgemeiner Sozialdienst (ASD) der Kommune).

2. Ziel für die Art und Weise, wie Menschen sich sehen:

41 Das Lebenslagenkonzept von Ingeborg Nahnsen wurde in dieser Arbeit bereits zur Exploration von Marginalisierung angewandt. Es ist dargelegt in Kapitel II, Punkt 2.1. „Das Konzept der Lebenslage als Leit-linie der Armutsbekämpfung des Wohnprojektes Orleansstraße 65a“. Die Zusammenschau der im Lebensla-genkonzept aufgefächerten Aspekte, die Nahnsen als „Spielräume der Lebenslage“ klassifiziert, und die damit verbundenen Aussagen begründen eine Handlungstheorie. Entsprechend diesem Lebenslagenkonzept, das sich in Variationen im Theoriebestand der Sozialen Arbeit wieder findet, stehen Menschen in ihrem Le-ben Problemen der Bedürfnisbefriedigung gegenüber und müssen lernen, innerhalb der Struktur sozialer Systeme und in Kooperation und Konflikt mit anderen Menschen, Lösungen hierfür zu suchen. Nach Silvia Staub-Bernasconi setzt dies voraus, dass sich Menschen ein Bild von der (Um-)Welt machen, sie erfassen, beschreiben, bewerten, erklären und das verfügbare Wissen in Pläne und Verhalten zur Veränderung ihrer selbst oder der Umwelt umsetzen. Vgl.: Staub-Bernasconi, Silvia; Heiner, Maja; Meinhold, Marianne; Spie-gel von, Hiltrud: Soziale Probleme – soziale Berufe – soziale Praxis. Bern. 1994. S.11-102

42 Vgl. Murgatroyd, Steven: Beratung als Hilfe, Weinheim und Basel. 1994. S.82 f.

43 Feministische Beratung und Therapie ist aus der zweiten Frauenbewegung der 60er und 70er Jahre hervorgegangen und eng verknüpft mit der Entstehung des ersten Frauenhauses der BRD in Köln 1976. In diesem Zusammenhang formulierte Maria Mies „Methodische Postulate der Frauenforschung: Dargestellt am Beispiel der Gewalt gegen Frauen“. In: beiträge zur feministischen theorie und praxis, Heft 1, München, 1978. Feministische Forschung (sowie Beratung und Therapie) arbeitet, so heißt es dort, der Frauenunter-drückung entgegen. Sie ist geleitet vom Prinzip der bewussten Parteilichkeit, dem Prinzip der „Sicht von unten“, der Verpflichtung, Forschung in aktive Praxis zu integrieren und dem Prinzip der Veränderung des status quo. Die Rezeption der „Methodischen Postulate“ war ähnlich, der zeitgleich entstehenden „Prinzipien der Handlungsforschung“ von Anfang an kontrovers. Maria Mies’ Postulate haben jedoch in der sozialpäda-gogischen Praxis und Theorie den neuen sozialpädasozialpäda-gogischen Diskurs entschieden mitherbeigeführt. Ähnlich wie die Prinzipien der Handlungsforschung sind die „Methodischen Postulate“ als eine Art

Gegen-Methodologie zur herrschenden androzentristisch geprägten Sozialwissenschaft zu verstehen.

Wiederherstellung eines Gefühls des Selbstwertes. Unterbindung der Selbstabwer-tung der GesprächspartnerIn und Unterstützung einer positiven Selbstsicht. Es wird versucht, negative Verteidigungsstrategien in positive Handlungsstrategien um-zuformen.

3. Ziel im Hinblick auf die Art und Weise, wie Menschen die Welt erfahren:

Unterstützung im Nachdenken aus mehreren Perspektiven über eine bestimmte Si-tuation. Ratsuchende müssen die Verantwortung für ihren eigenen Anteil an dem Problem erkennen und übernehmen. Ermutigung von Wunschdenken und Unter-stützung von Rationalität. Entwickeln und Aufzeigen von Bewältigungsstrategien.

Hilfe bei der Verringerung der Erfahrung von Abhängigkeit.

4. Ziel im Hinblick auf die Art und Weise, die eigene emotionale Welt zu sehen:

Hilfe bei einer möglichst realistischen Sicht der eigenen emotionalen Erfahrungen.

Angst soll verringert werden. Positive Gefühle sollen zunehmen.

5. Ziel im Hinblick auf die Art und Weise, in der Menschen denken:

Unterstützung zweckgerichteten Denkens. Die Bewältigung von Krisensituationen in kleine Schritte aufteilen; Teilziele formulieren (lassen) und sie realisieren.

Selbstreflexion steigern.

Das Beratungsangebot war aus der aktuellen Bedarfsituation der AdressatInnen entwickelt worden, um gemeinsam mit ihnen neue, angemessene Möglichkeiten des Denkens und Verhaltens herauszufinden und einzuüben. Als handlungspraktische Problembewältigung verweist jede Form sozialpädagogischer Beratung auf zwei Qualitätsebenen, die grob zu-sammengefasst werden können: Einerseits ist die intrapersonale Seite zu sehen; damit sind Hinweise auf die eigenen Stärken und Möglichkeiten der Ratsuchenden angesprochen, die es zu entfalten gilt. Andererseits muss die interpersonale Seite mitgedacht werden, die dann hinzu komm t, wenn die Vermittlung materieller Ressourcen aktuell wird und wenn es erforderlich ist, die Vermittlung an spezifische Fachdienste zu leisten. Die im Kontext der sozialen Baubetreuung praktizierte generalistische und gemeinwesenorientierte Beratung nimmt diese Kriterien mit auf und entspricht dem ganzheitlich integrativen Arbeitsansatz des Partizipationsprozesses. Eine ganzheitliche Sichtweise der Wirklichkeit und der Bera-tung meint, das Wissen um Lebenszusammenhänge möglichst umfassend und transparent mit den AdressatInnen zu erschließen. Mit dem Anspruch auf Ganzheitlichkeit kann man

in der Praxis deshalb nicht bei dem Versuch stehen bleiben, die Komplexität von Lebens-lagen rein pragmatisch den, in diesem Abschnitt unter eins bis fünf formulierten Bera-tungszielen zuzuordnen. Vielmehr muss man sich die Mühe machen, die Ganzheit des Er-kenntnisprozesses in Begriffe zu kleiden. Die Zielbegriffe regen dabei zu – vielleicht erst einmal kleinen – Initiativen an, oft gegen die „Kultur“ eines technischen Verständnisses von Sozialer Arbeit mit seinem lösungsorientierten Aufforderungscharakter. Soziale Phantasie und Initiativkraft gestützt auf vielschichtiges Handlungswissen kann zu wichti-gen sozialen Initiativen beitrawichti-gen. Auf der Ebene des direkten Kontaktes mit den ratsu-chenden Frauen und Männern kann die Möglichkeit eines expressiven Verhaltens nicht nur verbal im Beratungsgespräch erworben werden, sondern z.B. bei der Bewältigung von an-stehenden Erledigungen der/des AdressatIn tatsächlich stattfinden. Es ist qualitativ ein großer Unterschied, ob ein Vorhaben – und sei es noch so alltäglich und nebensächlich – mit der betreffenden Person während der Beratung erörtert wird, oder ob die/der Ratsu-chende diese alltägliche Handlung exemplarisch mit der beratenden Fachkraft vollzieht.

Solche Aktionen als Beratungstätigkeit auszuweisen, lässt auf einen gegenkulturellen Zu-gang zur sozialpädagogischen Beratung schließen, der eben nicht allein rationali siert mate-riell „lösungsorientiert“ wirken will, sondern die gesamte Perspektive der Selbst- und Fremdwahrnehmung fördert. Diese experimentellen Anteile einer hier vorgestellten gene-ralistischen Beratung entwickeln sich bislang vor der Tür des Elfenbeinturms psychoso-zialer Beratungspraxis. Immerhin führen die gezeigten Beispiele sogenannter kleiner ex-pressiver Aktionen auf Wege, die nicht sogleich mit den Grenzen sozialpädagogischer Beratungspraxis konfrontieren, sondern mit denen der politische Anspruch einer nachhalti-gen sozialpädagogischen Praxis Realität werden kann. Es liegt nahe, dass diesem Autono-mieanspruch eine Haltung zugrunde liegen muss, womit idealerweise alle Ratsuchenden AdressatInnen gleichermaßen in ihrer Begrenzung so verstanden werden, dass sie ohne Ansehen der Person eine vorurteilslose Wertschätzung genießen.

3.2.1. Vielfältige Handlungsintentionen

Die Ratsuchenden repräsentieren immer mehr als das Problem, das sie zur Zeit bedrückt, bzw. die Frage, die sie aktuell in der Beratungssituation vortragen. Sie sind nur aufgrund ihrer ganzen Geschichte, mit ihrer Familie und in ihrer Umwelt zu verstehen. Dies gilt bzw. galt auch dann, wenn eine Rat suchende AdressatIn „nur“ eine Hilfestellung bei ei-nem Antrag wünschte. Oft genug war dieser Weg dazu nütze, die prozessverantwortliche Mitarbeiterin in ihrem Umgang mit dem tiefgreifenderen Problem zu testen. Deshalb

be-deutet Ganzheitlichkeit die Unteilbarkeit der Probleme Rat suchender AdressatInnen, die gegenüber der Mitarbeiterin offen gelegt wurden. BewohnerInnen sind nur dann bereit, einen im Verlauf eines Beratungsprozesses erarbeiteten Weg zu beschreiten, wenn sie sich sicher fühlen, als Individuum im Alltag mit all den kleinen und großen Sorgen (auch ein unzweckmäßig angebrachter Spültisch kann Thema werden) angenommen zu sein. Für die Akzeptanz einer gemeinwesenorientierten Beratung der Angehörigen einer Hausgemein-schaft ist es wichtig, dass sich auch schrankenlose Anknüpfungspunkte ergeben, damit BewohnerInnen „einfach mal vorbeischauen“ können. In solchen Settings sind Beratung und Nicht-Beratung nicht klar voneinander zu trennen; die Gesprächssituation erschöpft sich allerdings auch nicht in der Erschließung logischer Zusammenhänge, sondern kommt im Verstehen der unmittelbaren Situation der AdressatInnen zum Tragen. Denn keine der Informationen wurde zufällig gegeben. Jede einzelne Information, wie auch das Verhalten im Gespräch selber, ist Bestandteil eines Hintergrundes, also einer strukturellen Verfesti-gung durch die vorangegangenen Erfahrungen und deren oft problematischen Verarbei-tung. Dieses situative Verstehen in der Beratung geht aus von der Vielfalt vordergründiger Eindrücke, die sich dann zu einem vorläufigen strukturellen und ganzheitlichen Verstehen verdichten. Im Anschluss an solche „lockeren Gespräche“ muss dann gefragt werden, wel-che Bedeutung diese Informationen für die Kenntnis des Lebenszusammenhangs und der Zielsetzung des Beratungsverlaufs haben. Eine Zusammenschau dieser Art sollte durchaus gemeinsam mit der betreffenden Person stattfinden.

Die notwendige vertrauensvolle Beziehung, worauf Einzelberatung erst fruchten kann, wurde durch die Gruppenveranstaltungen begünstigt. In der Beratungssituation konnten daher auch „andere“ Probleme entfaltet werden, um neue Überlegungen, z.B. Abwägen einer Trennung von der/dem Lebensgefährtin/en, nicht allein durchdenken zu müssen.

Solche grundlegenden Themen wurden seitens der Ratsuchenden ohne großes Zögern of-fengelegt; das Beratungsangebot hatte daher auch hohe Anteile der Krisenintervention.

Umgekehrt konnten erarbeitete Beratungsergebnisse durch die betreffende Person in der Gruppenveranstaltung vorgestellt werden, mit dem Ziel die Einschätzung anderer Adres-satInnen zu erhalten und gegebenenfalls eine Fachkraft aus den Behörden zu bestimmten Themenstellungen einzuladen (z.B. Schuldenregulierung, Fragen zur Einbürgerung aus-ländischer BürgerInnen). Von Bedeutung ist ebenfalls, dass sich aus der Kombination der beiden Arbeitsfelder ein Anteil an Begleitung (z.B. zu Behörden) einzelner AdressatInnen ergeben hat, der jedoch nicht immer von der prozessverantwortlichen Mitarbeiterin gelei-stet wurde, sondern es begleiteten sich zukünftige BewohnerInnen durchaus gegenseitig.

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