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In der Nachbarschaft

Im Dokument Fälle aus der NS-Militärjustiz (Seite 95-113)

II. Denunziation als soziales Phänomen

1. Denunziationen im persönlichen Umfeld

1.1. In der Nachbarschaft

Repressalien gegen die Zivilbevölkerung sind ein typisches Kennzeichen vieler Kriege, bis heute. Einen traurigen Höhepunkt erreichten sie allerdings während des Zweiten Weltkrieges in den vom Deutschen Reich besetzten Gebieten. In ganz Europa zogen die deutschen Besatzungstruppen die Zivilbevölkerung mit deren Leben und Eigen-tum für »Partisanenaktionen« zur Verantwortung. Besonders in Osteuropa wurden oft fünfzig bis hundert Personen als Sühne für den Tod eines deutschen Soldaten getötet.369 Insbesondere gegen die jüdische Bevölkerung wurden grausame

Ver-369 Truman Anderson, Die 62. Infanterie-Division. Repressalien im Heeresgebiet Süd, Oktober bis Dezember 1941, in: Hannes Heer, Klaus Naumann (Hg.), Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944, Hamburg 1995, S. 297–314, hier S. 297.

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brechen verübt. Doch was wussten oder erfuhren die ZeitgenossInnen damals von diesen Ereignissen? Wie berichteten Soldaten von solchen Verbrechen und welche Reaktionsweisen gab es von der Zivilbevölkerung an der »Heimatfront«? Davon han-delt die folgende Fallgeschichte. Sie basiert auf einem Aktenkonvolut, das leider un-vollständig ist, da die Akten der Gerichtsverhandlung nicht enthalten waren und auch das Urteil fehlte. Dennoch eröffnen die vorhandenen Berichte, Protokolle und Do-kumente der involvierten Behörden und Akteure/Akteurinnen interessante Einblicke in damalige Reaktions- und Umgangsweisen mit dem Aufblitzen von Informationen über Verbrechen durch SS und Wehrmacht in der UdSSR. Vermittelt wurden diese hier über Erzählungen von einem Soldaten auf »Heimaturlaub«.

Am 1. Oktober 1943 erschien die fünfzigjährige Anette Halb370 am Gendarmerie-posten Groß-Siegharts und erstattete Anzeige gegen den Obergefreiten Richard Haberl wegen »wehrkraftzersetzender Äußerungen«. Sie berichtete der Gendarme-rie von einem Gespräch, das einen Monat zuvor in ihrer Wohnung in Groß-Siegharts stattgefunden hatte und bei dem der Obergefreite von schrecklichen Erlebnissen in der UdSSR erzählt habe. Im Protokoll des Gendarmeriepostens wurde ihre Aussage partiell in direkter Rede festgehalten, was die Betroffenheit aller Beteiligten wider-spiegelt. Die Denunziantin, Anette Halb, wohnte seit elf Jahren als Mieterin im Haus der Mutter des Angezeigten. Zum damaligen Zeitpunkt weilte Richard Haberl nur vorübergehend im Haus seiner Mutter, da er sich mit seiner Frau auf Besuch bei ihr befand und selbst einen anderen Wohnort hatte.

Die Anschuldigungen der Anzeigerin lauteten folgendermaßen: Ende Septem-ber 1943 war sie nach Hause gekommen. Hinter ihr habe die Ehefrau von Richard Haberl das Haus betreten und mit ihr über einen erfolgreichen Gemüseeinkauf zu plaudern begonnen. Zu diesem Gespräch sei der Ehemann Richard Haberl – der ge-rade seinen Fronturlaub zu Hause verbrachte – ebenfalls in die Küche der Frau Halb nachgekommen. In der Folge habe sich eine gemeinsame Unterhaltung entspon-nen, im Zuge derer sich Richard Haberl nach dem Befinden ihres Sohnes, der eben-falls eingezogen war, erkundigte. Annette Halb antwortete, sie sei sehr verzweifelt, weil sie von ihrem Sohn seit sieben Wochen keinerlei Nachricht erhalten habe. Auf seine Nachfrage, wo er denn eingesetzt wäre, antwortete sie: »Bei der SS.« Darauf meinte Richard Haberl, dass dies sehr schlecht sei, weil jene, die bei der SS seien, nicht zurückkehren würden. Wenn er damals hier gewesen wäre, hätte er ihm den Beitritt zur SS ausgeredet. Er erzählte dann von einigen grauenvollen Erlebnissen an der »Ostfront«, die er mit eigenen Augen gesehen habe und in die die SS involviert gewesen sei. Annette Halb reproduzierte dann folgende Erzählung über die dama-ligen Gespräche:

370 Alle Namen sind verändert.

»Aber was die mitmachen müssen, ich hab’s selbst gesehen, in Tarnopol sind sicher 10.000 Juden umgebracht worden. Die Bevölkerung hat unsere Sol-daten in ein Gebäude geführt, wo im Keller die von den Juden ermordeten deutschen Soldaten ganz verstümmelt verscharrt waren. Auf das hin hat die SS alle Juden aus den Häusern in dasselbe Gebäude zusammengetrieben; sie mußten in zwei Höfe hinein. Bei dem einen Hof war nur ein kleines Türl und oberhalb ein Mäuerl [Mauer (Anm. E.H.)]. Durch dieses Türl wurde jeder Jude mit dem Gewehrkolben und den Stiefeln hineingestoßen. Ober dem Türl auf der Mauer saß ein Zivilist, dessen Bruder auch unter den Ausgegrabenen ge-funden wurde. Aus Rache gab dieser Mann jedem Juden, der durch dieses Türl gestoßen wurde, mit einem Hammer einen Schlag auf das Hinterhaupt.

Es war furchtbar, das Blut spritzte nur so herum. Zu diesem Wirbel kam ein älterer Offizier der Wehrmacht mit einem roten Streifel [roten Streifen], ein General, der schrie den jungen SS-Leutnant an: ›Ja, was treibts ihr denn hier, das gibt es nicht!‹ Darauf erwiderte der SS-Leutnant, der hinkte und vor dem General nicht gerade stehen konnte: ›Sie kennen die Gesetze der SS nicht, ich tue meine Pflicht.‹ Als alle Juden darinnen waren, wurden Handgranaten zu-sammengebunden und hineingeschleudert, daß Händ’ und Füße in der Luft herumflogen; es war ganz furchtbar. Am nächsten Tag kamen die jüdischen Frauen und Kinder daran; die kleinen Kinder wurden aus den Deckerln heraus-gerissen und den Müttern auf den Buckel [Rücken] geworfen. Dann wurden sie ebenfalls mit Handgranaten in die Luft gesprengt. In einer anderen Stadt sind die Juden auf Lastautos vor die Stadt hinausgebracht worden zu einem hohen Felsen, wo eine große Grube war; da wurden sie alle hinabgestoßen und dann wurde der Felsen gesprengt und hat alle verdeckt.« 371

Diese Sequenz wird mit einem Ausdruck von Mitgefühl eröffnet. Aber mit wem?

Handelt es sich um Empathie mit den jüdischen Opfern oder mit den Wehrmachts-soldaten, die als »unsere« tituliert werden und die die verstümmelten deutschen Soldaten ausgraben mussten? Die ukrainische Bevölkerung fungierte in dieser Dar-stellung als Kollaborateur, sie machte die deutschen Soldaten erst auf die verstüm-melten, verscharrten Leichen aufmerksam und setzte damit die folgenden Pogrome in Gang. Im Anschluss an diese Sequenz werden die Gräuel mit vielen schrecklichen Details geschildert, sodass das Geschehen noch heute plastisch erscheint. Annette Halb beschrieb in der Wiedergabe der Erzählung des Soldaten unterschiedliche Ver-haltensweisen der Protagonisten: jene des älteren Wehrmachtsoffiziers, der mit der

371 Niederschrift des GP Gr. Siegharts vom 03.10.1943, AdR, Zentr. Ger. 1939–1945, Außenst. Wien 181/11.

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Vorgangsweise der SS nicht einverstanden schien, da das Verhalten der SS nicht sei-nen Vorstellungen von einer »ordentlichen Kriegsführung« entsprach, und jene des jungen SS-Manns, der keine Grenzen der Brutalität zu kennen schien. Der SS-Mann soll dabei vom »Gesetz der SS« und dem Erfüllen seiner »Pflicht« gesprochen haben.

Annette Halb fuhr fort zu berichten, was sie gehört hatte:

»›Ich sag’ Ihnen nur das eine, Frau Halb372, wenn das schiefgeht, wird die SS auch so umgebracht werden, erschlagen und nicht erschossen.‹ Ich sagte nun, das ist entsetzlich, das wäre traurig. Haberl sagte darauf: ›Glauben Sie denn, wir haben keine Kommunisten, in Siegharts, in jedem Dörfl ist a Kommunist.

Die kitzl’n sie dann alle außa, alle die dazugehören und es geht ihnen gera-deso wie den Juden. Schauen S’, Frau Halb, ich bin a Soldat, weil ich es sein muß, und ich sag’ Ihnen, wann wir einen Russen fangen, ist das Erste, wenn er eine politische Karte hat, wenn ja, so wird er gleich erschossen, die andern können laufen.‹ Weiters sagte er: ›Die sich politisch betätigt haben, sind alle in einem Buch eingetragen, da kommt ihnen keiner aus, wenn es schiefgeht;

gerade so wird es ihnen geh’n wie den Juden; darf keiner mehr ›Heil Hitler‹

sagen.‹«373

Der Nachbar schilderte in dieser Darstellung die Angst vor Rachemaßnahmen, so wie die Angehörigen der Wehrmacht und der SS alle »Russen« mit »politischer Karte« als Kommunisten erschossen, so würde nach dem verlorenen Krieg mit ehe-maligen SS-Angehörigen umgegangen werden.

Angesichts dieses politisch äußerst heiklen Gesprächsthemas soll – laut Gen-darmerieprotokoll – die Ehefrau von Richard Haberl mehrmals versucht haben, die Reden ihres Mannes zu beenden, was ihr aber nicht gelang. Die Denunziantin war – so gab sie bei der Gendarmerie ein Monat später an – ganz geschockt von dieser

Erzählung und begründete ihre Anzeige folgendermaßen:

»Ich dachte mir, wenn alle Soldaten so denken, da sind wir wirklich arm daran, die SS-Männer, daß gerade die alles Schwere ausmachen […]. Ich fand die ganz Nacht und darauf noch einige Tage keine rechte Ruhe, weil ich immer Bilder des Grauens aus den Erzählungen des Haberl vor mir hatte und Mitleid mit denen, die vorne an der Front stehen und ehrlich kämpfen, während Ha-berl in so roher und rücksichtsloser Weise mir meine Ruhe nahm, ich so schon

372 Die Namen wurden anonymisiert und nur der Schreibweise des Dokuments angepasst.

373 Niederschrift des GP Gr. Siegharts vom 03.10.1943, AdR, Zentr. Ger. 1939–1945, Außenst. Wien 181/11.

so lange auf eine Post von meinem Sohn warte. […] Ich hab den Eindruck, daß Haberl kein guter Soldat ist, sonst würde er so etwas einer Mutter nicht erzählen.«374

Annette Halb schien weniger schockiert, dass die SS solche Massaker verübte, oder darüber beängstigt, dass dabei sogar ihr Sohn beteiligt gewesen sein könnte. Scho-ckiert zeigte sie sich hingegen darüber, eine derartige Geschichte von einem Ober-gefreiten der Wehrmacht – der ihrer Logik gemäß kein »guter Soldat« sein konnte – gehört zu haben. In dieser Erzählung wurden die »guten Soldaten«, die an der Front standen und »ehrlich« kämpften, dem Erzähler, der ihr in so »roher und rücksichts-loser Weise« (an der »Heimatfront«) die Ruhe nahm, gegenübergestellt. Gut und Böse ist in ihrer Sichtweise klar voneinander getrennt. Ein Soldat durfte – so ihre überhöhte Vorstellung – keinesfalls einer »Mutter« gegenüber solche Begebenhei-ten erwähnen. Die Narration des SoldaBegebenhei-ten repräsentierte für sie einen eklatanBegebenhei-ten Bruch mit der offiziellen Darstellungsweise: Es handelte sich – in ihrer Sicht – um eine »Verunglimpfung« der »heldenhaft« und »ehrlich kämpfenden« Soldaten und SS-Männer. Unterschiedliche Sichtweisen und moralische Bewertungen kamen hier offenbar miteinander in Konflikt: jene des Soldaten und jene der Nachbarin.

Die meisten Geschichten, die wir erzählen, beinhalten moralische Beurteilungen, ein Erzählen ohne Moralisieren scheint kaum möglich.375 In diesem Fall haben wir es mit partiell divergierenden Moralvorstellungen zu tun: Für die Denunziantin stellte die Erzählung des Obergefreiten einen Bruch ihrer konventionellen Erwartung an einen Wehrmachtssoldaten dar, für den Wehrmachtssoldaten war seine Erzählung legitim. Der konventionelle Charakter von Geschichten macht sie zu einer symboli-schen Form, die besonders geeignet ist, hegemoniale Rahmungen von Wirklichkeit zu bestätigen376 oder zu konterkarieren. Hier war letzteres der Fall, durch die Be-richte des Soldaten wurde die hegemoniale Erzählung der NS-Gesellschaft konter-kariert. Dadurch schienen das Allgemeinbefinden und der Schlaf der Denunziantin empfindlich gestört. Am nächsten Tag erzählte sie diese Geschichte einer Bekann-ten namens Johanna Wickerl, bei der sie etwas zu erledigen hatte. Da deren Sohn ebenfalls bei der SS war, hoffte sie auf eine Verbündete. Sie zögerte aber dennoch einige Wochen, bis sie sich endgültig zur Anzeige entschloss.

374 Niederschrift des GP Gr. Siegharts vom 03.10.1943, AdR, Zentr. Ger. 1939–1945, Außenst. Wien 181/11.

375 Nach Hayden White hat Erzählen immer mit Moralisieren zu tun. Vgl. Hayden V. White: Meta-Vgl. Hayden V. White: Meta-history. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa, Frankfurt am Main 1991, S. 460 ff.

376 Vgl. Stehr, Sagenhafter Alltag, S. 41.

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Pogrome in Tarnopol

Um den historischen Kontext dieser Fallgeschichte besser verstehen zu können, möchte ich nun in aller Kürze auf die quellenmäßig gut dokumentierten Pogrome in Tarnopol eingehen. »Ternopol«, polnisch »Tarnopol«, liegt südöstlich von Lem-berg und ist eine Oblast-Stadt in der Ukraine. Die Stadt wurden 1540 von Polen be-gründet und gehörte zwischen 1772 und 1918 zu der unter österreichischer Herr-schaft stehenden Provinz Galizien; zwischen den beiden Weltkriegen gehörte sie zu Polen. 1939 wurde sie von der UdSSR annektiert. Juden und Jüdinnen lebten seit der Gründung in der Stadt und bildeten lange Zeit die Bevölkerungsmehrheit. Im September 1939 wurde die Stadt zunächst von der Roten Armee besetzt. Tarno-pol hatte zum damaligen Zeitpunkt rund 40.000 EinwohnerInnen, 18.000 Personen galten als Juden/Jüdinnen.377 In der rassistischen Hierarchie der Nationalsozialis-ten stand die jüdische Bevölkerung ganz unNationalsozialis-ten, noch unter der sowjetischen Be-völkerung. Wobei die ukrainische Bevölkerung oftmals »deutschfreundlich« und antisemitisch eingestellt war.378 In der nationalsozialistischen Nationenhierarchie galten die UkrainerInnen aufgrund ihrer traditionellen kulturellen Abneigung ge-gen die Zentralgewalt Moskaus und ihrer angeblich »arischen Bluteinschläge« als potentiell »deutschfreundlich«.379 Am 2. Juli 1941 marschierte die Panzergruppe 1 der Wehrmacht mit der ihr unterstellten SS-Division »Wiking« in Tarnopol ein. Zeit-gleich erreichte das Sonderkommando 4 b die Stadt. Unmittelbar nach der deut-schen Besetzung fand man die verstümmelten Leichen einiger hundert Ukrainer, die der NKWD kurz vor dem Abzug der Roten Armee ermordet hatte. Unter den Opfern befanden sich auch zehn deutsche Soldaten.380 Die Leichen waren teils von der einheimischen Bevölkerung nach Abzug der Roten Armee, teils von den ein-rückenden deutschen Truppen entdeckt und exhumiert worden. Auch Juden und Jüdinnen der Stadt wurden gezwungen, die NKWD-Opfer zu bergen, wobei sie miss-handelt, erschlagen und erschossen wurden. Mit Bedacht wurden danach blutige Pogrome gegen die jüdische Bevölkerung angestiftet. Die jüdische Bevölkerung

377 Vgl. Eberhard Jäckel, Peter Longerich, Julius H. Schoeps (Hg.), Enzyklopädie des Holocaust. Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden, Berlin 1993, S. 1402.

378 Kollaboration und antisemitische Strömungen im Baltikum, in der Ukraine, in den annektierten Gebieten Rumäniens sowie im altsowjetischen Gebiet sind auch auf Seiten der sowjetischen Zeitgeschichteforschung noch immer »heiße Eisen«. Vgl. Dieter Pohl, Die einheimische For-schung und der Mord an den Juden in den besetzten sowjetischen Gebieten, in: Wolf Kaiser (Hg.), Täter im Vernichtungskrieg. Der Überfall auf die Sowjetunion und der Völkermord an den Juden, Berlin, München 2002, S. 204–216, hier S. 210.

379 Vgl. Anderson, Die 62. Infanterie-Division, S. 300.

380 Vgl. Jan Philipp Reemtsma, Zwei Ausstellungen, in: Mittelweg 36, 13 (2004), S. 53–70, hier S. 62.

wurde kollektiv für diese Morde verantwortlich gemacht, und dieser Vorfall diente als Vorwand, um Massaker durchführen zu können. Neben einheimischen ZivilistIn-nen beteiligten sich auch Angehörige der SS-Division »Wiking« an den Gewalttaten.

Das Sonderkommando 4 b fahndete nach jüdischen Intellektuellen und erschoss 127 Personen außerhalb der Stadt. Das erste derartige Pogrom in Tarnopol kostete mindestens 600 Juden und Jüdinnen das Leben.381 Am 4. Juli 1941 setzte ein meh-rere Tage dauerndes Pogrom ein, es folgten weitere Ausschreitungen, die von der Wehrmacht geduldet und zuweilen nach einiger Zeit gestoppt wurden.382 Deutsche und Ukrainer beteiligten sich an den Gewalttaten. Im Juli und August 1941 wurden mehrere antijüdische Verordnungen erlassen. Die Bewegungsfreiheit der jüdischen Bevölkerung innerhalb und außerhalb der Stadt wurde massiv eingeschränkt: sie durfte ihren Wohnsitz nicht wechseln, viele ihrer Häuser und Besitztümer wurden konfisziert383 oder angezündet384; täglich wurden Hunderte zur Zwangsarbeit de-portiert.385 Im September 1941 wurde die Einrichtung eines Ghettos angeordnet; die

»Zusammenfassung« der Juden/Jüdinnen in dem Ghetto und die Einzäunung des Gebietes zog sich bis Dezember 1941 hin.386

Von diesen Gräuel gelangten Zeugnisse bis nach Wien. Soldaten schrieben da-von in Briefen, photographierten oder erzählten so manches. Diese da-von Soldaten kolportierten Ereignisse erregten das Missfallen der Wehrmachtspropagandastel-len, die offenbar in der »Heimat« ein anderes Bild der Wehrmacht und des Krieges präsentieren wollten. Am 12. September 1941 wurde vom Wehrkreiskommando XVII, Abteilung Wehrmachtspropaganda an das Oberkommando der Wehrmacht in Ber-lin über einen öffentlichen Aushang eines Briefes eines Soldaten in einem Wiener Geschäft berichtet, in dem von den Massakern in Tarnopol ungeniert offen ge-schrieben worden wäre. Der Verfasser dieses Wehrmachtsberichtes, ein Major, äußerte sich darin strikt gegen eine derartige Öffentlichmachung und Zurschau-stellung solcher Gräuel an der »Heimatfront«. Er plädierte dafür, bei den nächsten Belehrungen der Feldtruppe mit verstärktem Nachdruck auf das Verbot, solche Briefe in die Heimat zu schicken, hinzuweisen. Zudem trat er für eine generell

ver-381 Hamburger Institut für Sozialforschung (Hg.), Verbrechen der Wehrmacht. Dimensionen des Vernichtungskrieges 1941–1944, Ausstellungskatalog, Hamburg 2002, S. 100.

382 Vgl. Reemtsma, Zwei Ausstellungen, S. 62.

383 Vgl. Jäckel, Longerich, Schoeps (Hg.), Enzyklopädie des Holocaust, S. 1402.

384 EM 28 vom 20.07.1941, zit. in: Bernd Boll, Hans Safrian, Auf dem Weg nach Stalingrad. Die 6. Ar-mee 1941/42, in: Heer, Naumann (Hg.), Vernichtungskrieg, S. 260–296, hier S. 271.

385 Vgl. zum Thema ausführlicher: Hornung, Langthaler, Schweitzer, Zwangsarbeit in der Landwirt-schaft in Niederösterreich.

386 Vgl. Jäckel, Longerich, Schoeps (Hg.), Enzyklopädie des Holocaust, S. 1402.

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stärkte Zensur von Feldpostbriefen ein.387 Akuter Anlass dieser kritischen Erörterun-gen war der Feldpostbrief eines Soldaten namens Franzl an seine Eltern in Wien. In diesem schilderte er, wie er in Tarnopol an der Aufbahrung seiner von sowjetischen Soldaten verstümmelten Kameraden der Luft- und Gebirgstruppe teilgenommen hatte. Es wären dabei auch, schrieb er, 2.000 Ukrainer und Volksdeutsche schlimm zugerichtet worden. Seine Conclusio lautete:

»Das ist Rußland und das Judentum, das Paradies der Arbeiter. Wenn es heute noch einen Kommunisten in Wien gibt, der gehört sofort erschlagen, aber nicht erschossen. Die Rache folgte auf den Fuß. Gestern waren wir mit der SS gnädig, denn jeder Jude, den wir erwischten, wurde sofort erschos-sen. Heute ist es anders, denn es wurden wieder 60 Kameraden verstümmelt gefunden. Jetzt müssen die Juden die Toten aus dem Keller herauf tragen, schön hinlegen und dann werden ihnen die Schandtaten gezeigt. Hierauf wer-den sie nach der Besichtigung der Opfer erschlagen mit Knüppel und Spaten.

Bis jetzt haben wir zirka 1.000 Juden ins Jenseits befördert, aber das ist viel zu wenig für das, was die gemacht haben. […] Ich bitte Euch, liebe Eltern, macht das bekannt, auch der Vater in der Ortsgruppe. Sollten Zweifel beste-hen, wir bringen Photos mit. Da gibt es keinen Zweifel. Viele Grüße Euer Sohn Franzl.«388

Sein Brief handelte ganz ohne Erzähltabu von den ungeheuerlichen Grausamkeiten an der jüdischen Bevölkerung in Tarnopol, im Gegenteil, diese sollten – in der Sicht-weise des Briefschreibers – keineswegs verschwiegen, sondern als »Heldentaten«

vom Vater in der Ortsgruppe publik gemacht werden. Der Briefschreiber argumen-tierte hier ganz im Einklang mit dem berüchtigten »Kommissarsbefehl«389, der für

387 Bericht des Wehrkreiskommandos XVII, Abt. Wehrmachtspropaganda, über Greueltaten in Feldpostbriefen, Wien 12.09.1941, zit. in: Hamburger Institut für Sozialforschung (Hg.), Verbre-chen der Wehrmacht, S. 102.

388 Feldpostbrief vom 06.07.1941, Bundesarchiv, RW 4/442a, Bl. 202, zit. nach: Hamburger Institut für Sozialforschung (Hg.), Verbrechen der Wehrmacht, S. 102.

389 In schriftlicher Form waren zusätzlich noch die »Richtlinien für die Behandlung politischer Kommissare«, der verbrecherische »Kommissarsbefehl« vom OKW am 6. Juni 1941, erteilt wor-den und, mit Zusätzen des OKH (unter von Brauchitsch) versehen, an die Oberbefehlshaber der Armeen und die Luftflottenchefs gesandt worden. In diesen Richtlinien war die Gruppe der »Feinde« für die Wehrmacht erweitert worden. Mit diesem Freibrief zum Töten, der vor

»heimtückischer Kampfesweise« der Roten Armee im Allgemeinen und »barbarisch asiatischen Kampfmethoden« der politischen Kommissare, im Besonderen warnte, trat die Truppe zum An-griff auf die Sowjetunion an. – Der vollständige Text des Kommissarsbefehls ist abgedruckt in:

Gerd R. Ueberschär, Wolfram Wette (Hg.), »Unternehmen Barbarossa«. Der deutsche Überfall

die Tötung von deutschen Soldaten ein Vielfaches an Tötungen von »Feinden« legiti-mierte. »Rußland«, »das Judentum« und »das Paradies der Arbeiter« wurde von ihm

die Tötung von deutschen Soldaten ein Vielfaches an Tötungen von »Feinden« legiti-mierte. »Rußland«, »das Judentum« und »das Paradies der Arbeiter« wurde von ihm

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