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Forschungsfragen

Im Dokument Fälle aus der NS-Militärjustiz (Seite 31-34)

In der Denunziationsforschung sind einige Themen und Thesen bis heute besonders umstritten, dazu gehört nach wie vor die Frage nach der Bewertung von Ausmaß und Bedeutung von Denunziationsvorgängen. Wer waren diese DenunziantInnen?

Was waren die Motive derer, die Bekannte, Nachbarn, Freunde oder auch unbe-kannte Soldaten anzeigten? Waren politische oder private Interessen dominant?114 Ging es um soziale Macht und/oder um geschlechterhierarchische Benachteiligun-gen? Inwieweit benützten Frauen das Instrument der Denunziation, um Geschlech-terkonflikte zu lösen?

Die Personengruppe der Angezeigten, ausschließlich männliche Wehrmachts-angehörige, war ebenso wie der von mir untersuchte Zeitraum eingeschränkt.

Forschungen haben für diese Spätphase des Nationalsozialismus (1943–1945) den Typus des unbelehrbar gläubigen Anhänger Hitlers herausgearbeitet, der nicht wahrhaben wollte, dass das Dritte Reich und der Krieg zu Ende gingen.115 Zudem konstatierte ein Gros der ForscherInnen, dass sich nach der Niederlage bei Stalin-grad 1943 dieser Anzeigertypus allgemein häufte.116 Entsprach dieser Typus auch

112 Peter Loewenberg, Psychoanalytische Ich-Psychologie, Objektbeziehungstheorie und ihre An-wendbarkeit in der Geschichtswissenschaft, in: Rüsen, Straub, (Hg.), Die dunkle Spur, S. 101–

130, hier S. 115.

113 Vgl. Karen Nolte, Die Erfahrung »zwischen den Zeilen«. Eine patientenzentrierte Perspektive als eine andere Geschichte?, in: Marguérite Bos, Bettina Vincenz, Tanja Wirz (Hg.), Erfahrung: Alles nur Diskurs? Zur Verwendung des Erfahrungsbegriffs in der Geschlechtergeschichte. Beiträge zur 11. Schweizerischen HistorikerInnentagung, Zürich 2004, S. 273–281, hier S. 273.

114 Robert Gellately hat in jedem Fall Recht damit, dass alle Denunziationen »systemloyal« wirkten, auch wenn sie privaten Interessen folgten, denn sie entsprachen der Intention des NS-Regimes, das Sozialverhalten zu überwachen. Vgl. Gellately, Die Gestapo und die deutsche Gesellschaft, S. 169.

115 Vgl. Broszat, Politische Denunziationen, S. 263; ähnlich: Dörner, »Heimtücke«, S. 104, und Die-wald-Kerkmann, Kleine Macht, S. 150 ff.

116 Vgl. Diewald-Kerkmann, Kleine Macht, S. 63 (Statistik) und S. 151. Reinhard Mann betrachtet dies differenziert, er sieht die Spitze der Denunziationen zwischen 1939 und 1941, wobei sich das Bild bei der von ihm vorgenommenen Unterscheidung zwischen »politisch und privat mo-tivierten Anzeigen« verschiebt. Vgl. Mann, Protest, S. 294.

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den von mir hier untersuchten DenunziantInnen? Handelte es sich zahlenmäßig mehr um Männer oder um Frauen, die denunzierten? Konnte ein geschlechtsspe-zifisches Denunziationsverhalten beobachtet werden? Diesen Fragen galt es nach-zugehen. Zudem interessierte mich das Faktum, dass die angezeigten Soldaten An-gehörige des Ersatzheeres waren. Hatte der Umstand, dass sich diese Soldaten in Dienststellen des Ersatzheeres, in Lazaretten, auf Urlaub und in Ausbildungsstätten, also längere Zeit im Hinterland aufgehalten hatten, Einfluss auf ihre Äußerungen oder die der DenunziantInnen? Wurden bei den Anzeigen der von mir untersuch-ten Fälle die politischen Motive nur vorgeschoben? Aus welchen Milieus stammte die Mehrheit der Anzeigenden und aus welchen die angezeigten Soldaten? War die Unterscheidung zwischen privat oder politisch motivierten Anzeigeinteressen nicht überhaupt zu dichotomisch117 und eng? Traten politische Motive der AnzeigerInnen stärker hervor, wenn sich die beiden Involvierten nicht kannten, oder war es ge-nau umgekehrt? Welche Rolle spielten die konkreten Räume, in denen sich die Vor-gänge ereigneten? Sagten sie etwas über subjektiv und objektiv – staatlicherseits – gesteckte Grenzen von Privatheit/Öffentlichkeit aus? Diese und ähnliche Fragen

standen am Beginn meiner Arbeit.

Die meisten Soldaten erlebten die Wehrmacht als einen mehr oder weniger ri-giden, totalen Herrschaftsapparat, in dem das Denken und Handeln vollständig reglementiert und jedes von der Norm abweichende Verhalten mit schärfsten Sanktionen belegt war.118 Dennoch war die Wehrmacht kein monolithisches Ge-bilde, sondern stellte mit rund 19 Millionen Angehörigen durchaus ein Spiegelbild der damaligen deutschen Gesellschaft dar, mit Ausnahme der Frauen. Nur 500.000 Frauen gehörten ihr als Wehrmachtshelferinnen an.119 Dementsprechend vielfältig war auch das Denken und Handeln jener aus unterschiedlichsten sozialen Milieus stammenden Soldaten. Sie kamen aus unterschiedlichen Alterskohorten, Schichten, politischen und kulturellen Milieus. In gewissem Sinne waren die Denunzierten in meinem Untersuchungssample als Angehörige der Wehrmacht immer Opfer und Täter zugleich, zumindest partiell. Von Anfang an drohten mir die Kategorien zu

117 Carola Sachse hat darauf aufmerksam gemacht, dass binäre Begriffspaare zwar unverzicht-bare politische Instrumente moderner Gesellschaften sind, aber als heuristische Instrumente zur Analyse von totalitärer Herrschaft wenig taugen. Vgl. Carola Sachse, Frauenforschung zum Nationalsozialismus. Debatten, Topoi und Ergebnisse seit 1976, in: Mittelweg 36, 6, 2 (1997), S. 24–33, hier S. 33.

118 Wolfram Wette (Hg.), Retter in Uniform. Handlungsspielräume im Vernichtungskrieg der Wehr-macht, Frankfurt am Main 2002, S. 12.

119 Es gibt noch immer wenig gendersensible Forschungen zu Frauen in der Wehrmacht. Franz W.

Seidler hat einen ganz traditionellen Zugang: Vgl. Franz W. Seidler, Frauen zu den Waffen? Mar-ketenderinnen, Helferinnen, Soldatinnen, Bonn 19982.

verschwimmen, die »guten« widerständigen »Wehrkraftzersetzer« und Opfer der Denunziationen versus die »bösen« DenunziantInnen waren dichotomische, morali-sierende Entgegensetzungen, die sich gleich zu Beginn meiner Forschung nicht auf-rechterhalten ließen, mich aber verunsicherten. Es gab innerhalb der Wehrmacht durchaus vielfältiges, widersprüchliches und widerständiges Handeln.120 Normwid-riges Verhalten wird für uns HistorikerInnen oft über Denunziationen sichtbar. Aber was hieß hier eigentlich »Normverletzung«? Wie wurde diese Norm über die Kons-truktion und Beschreibung einer Verletzung festgesetzt und definiert? Jene Män-ner, die widerständig oder einfach nur enttäuscht, müde, kritisch bzw. frech waren (egal, in welchem Sinn), mussten mit einer Anklage und einem Verfahren vor dem Reichskriegsgericht oder einem Feldkriegsgericht rechnen. Ab 1943/1944 glaubte wohl nur noch eine Minderheit der Soldaten an einen »Endsieg« mit Wunderwaffen.

An der Front wie in der »Heimat« wurde überall darüber gesprochen, dass der Krieg verloren würde und beendet gehörte.121 Aber wie sahen die Reaktionsweisen solcher widerständiger Soldaten konkreter aus? Martin Schnackenberg122 hat die in der Lite-ratur am häufigsten genannten Motive des militärischen Ungehorsams in der Wehr-macht auf der Grundlage von Zeitzeugeninterviews überprüft: Er unterscheidet unter anderem die Gruppe der Soldaten mit Überlebenswünschen von »Widerständigen« mit politischen Motiven und von solchen mit antimilitaristischen Motiven. Die Gruppe der

»Soldaten mit Überlebenswünschen« wird in der Forschung allgemein als am größten eingeschätzt.123 Gerhard Paul hat betont, dass vor der Niederlage von Stalingrad mehr Soldaten aus Zweifel am Krieg oder am System desertierten und danach die Zahl der

»Kriegsmüden« beständig stieg. Schlussendlich spielte oftmals psychische Überbelas-tung eine entscheidende Rolle: Manche Soldaten waren aufgrund von großen Belas-tungen psychisch und physisch nicht mehr in der Lage weiterzukämpfen. Nicht selten 120 Vgl. Wette (Hg.), Retter in Uniform, S. 13; Heinrich Walle (Hg.), Aufstand des Gewissens. Mili-tärischer Widerstand gegen Hitler und das NS-Regime 1933–1945. Katalog zur Wanderausstel-lung des militärgeschichtlichen Forschungsamtes, hrsg. im Auftrag des militärgeschichtlichen Forschungsamtes, Berlin, Bonn, Herford 19944; Gerd R. Ueberschär (Hg.), Der 20. Juli 1944.

Bewertung und Rezeption des deutschen Widerstandes gegen das NS-Regime, Köln 1994; Ul-rich Bröckling, Michel Sikora (Hg.), Armeen und ihre Deserteure. Vernachlässigte Kapitel einer Militärgeschichte der Neuzeit, Göttingen 1998; Wolfram Wette, Deserteure der Wehrmacht.

Feiglinge – Opfer – Hoffnungsträger? Dokumentation eines Meinungswandels, Essen 1995;

Walter Manoschek (Hg.), Opfer der NS-Militärjustiz.

121 Vgl. Fritz Wüllner, Die NS-Militärjustiz und das Elend der Geschichtsschreibung. Ein grundlegen-der Forschungsbericht, Baden-Baden 1991, S. 504.

122 Vgl. ausführlich dazu: Martin Schnackenberg, »Ich wollte keine Heldentaten mehr vollbringen«.

Wehrmachtsdeserteure im II. Weltkrieg: Motive und Folgen untersucht anhand von Selbstzeug-nissen, Oldenburg 1997.

123 Vgl. Gerhard Paul, Ungehorsame Soldaten. Dissens, Verweigerung und Widerstand deutscher Soldaten (1939–1945), St. Ingbert 1994, S. 40.

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flüchteten Soldaten in der Spätphase des Krieges in den Selbstmord oder nahmen an ihrem Körper Selbstverstümmelungen vor. Es gab unterschiedliche Stufen und Über-gänge in Richtung Desertion. Mit all diesen Formen des Anders-Seins hatte ich in den mir vorliegenden Fällen zu tun. Welche Formen dominierten aber? Jedem Versuch ei-ner Typologie muss hinzugefügt werden, dass selbstverständlich immer mehrere Fak-toren zusammenwirkten124 und dass es sich in allen Fällen um einen dynamischen Pro-zess handelte und daher Typenbildungen immer nur sehr problematische und grobe Annäherungen sein können.

Hinsichtlich des Interviewteils interessierte ich mich vor allem für folgende Fragen:

Wie wurde die damalige Tat einer Anzeige in die erzählte Lebensgeschichte einge-baut, wie wird damit heute ein konsistentes Ganzes hergestellt? Was waren die frü-heren Motive und wie werden diese heute von damaligen Akteuren mit dem aktuell und individuell gültigen Werte- und Normensystem in Übereinstimmung gebracht? In welchem sozialen Umfeld und in welchen Beziehungsnetzen fanden Anzeigen statt?

Kann dem früheren Verhalten heute ein subjektiver Sinn abgewonnen werden und wenn ja, welcher? Sind Denunziationen auf der Erzählebene der Biographen über-haupt ein problematisches Thema? In welchem Verhältnis standen die anzeigende und die angezeigte Person zueinander?

4. Quellen und Methoden

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