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Hämorrhoiden und Melancholie

Im Dokument fremd körper ( ) (Seite 158-166)

3.3 „Jüdisch-männlicher“ Blutfluss im Mittelalter

3.3.2 Hämorrhoiden und Melancholie

Wie der jüdische Blutfluss im medizinischen Kontext verhandelt wurde und welche Rolle hierbei auch theologische Aspekte spielten, soll im Folgenden untersucht wer-den. Die gynäkologische Schrift De secretis mulierum396, die fälschlicherweise Albertus Magnus zugeschrieben wurde, weswegen man vom Autor als Pseudo-Albertus Magnus spricht, wurde offenbar von einem Schüler Alberts gegen Ende des 13. oder Anfang des 14. Jahrhunderts zusammengestellt. Noch im 16. Jahrhundert fand die Schrift große Verbreitung, so wurden zu dieser Zeit über 70 Ausgaben und im 15. Jahrhun-dert bereits über 50 gedruckt. Die verschiedenen Editionen weichen inhaltlich stark voneinander ab. So gibt es zwei unterschiedliche Kommentare zu der Schrift, die in Kommentar A und B unterschieden werden. Den jüdischen Blutfluss thematisiert allein Kommentator B im Kontext des pseudo-albertinischen Menstruationskapitels.

Bei Pseudo-Albertus Magnus und Kommentator A finden sich diesbezüglich keine

395 Johnson: The Myth of Jewish Male Menses (wie Anm. 103), 288.

396 Vgl. hierzu Helen Rodnite Lemay: A Translation of Pseudo-Albertus’s ‚De Secretis Mulierum‘

with Commentaries, New York 1992, 1.

Referenzen. Als Erweiterung zur pseudo-albertinischen Definition der Menstruation führt Kommentator B die drei verschiedenen Menstruationstypen an:

„Note that according to some, menses is understood in three ways. The first way is natural menses, such as the menstrual periods of women. The second is supernatural, as the Jews experience. The third way is against nature, for example certain Christians of melancholy disposition bleed through the anus and not through the penis.“397

Neben der weiblichen Menstruation werden somit noch zwei weitere Formen der Menstruation ins Spiel gebracht und voneinander abgegrenzt. Die Kategorie der Natur dient hierbei zur Abgrenzung der verschiedenen Formen. So gilt die weibliche Menstruation als natürlich, die jüdische als übernatürlich und die melancholische als unnatürlich. Die Zuschreibung übernatürlich verortet den jüdischen Blutfluss somit im theologisch-metaphysischen Kontext und bedarf daher auch keiner weiteren Aus-führungen, da er somit aus dem medizinischen Rahmen ausscheidet. Die melancho-lische Menstruation einiger Christen hingegen wird mit dem Attribut unnatürlich dem Bereich der Krankheiten zugeordnet und somit der Verantwortung der Mediziner übertragen. Zudem wird durch den Zusatz, dass die Blutung über den After erfolge, die Verknüpfung zum Hämorrhoidalleiden hergestellt. Hier zeigt sich also erneut, wie bereits in den antiken Quellen, die enge Verflechtung zwischen Menstruation und Hämorrhoiden. Willis Johnson bringt diese wie folgt auf den Punkt: „It must be emphasized that medical theorists, from Galen (130–199) to Arnold of Villanova (1240–1311), described menstrual and haemorrhoidal bleeding as interchangeable.“398 Nachdem Kommentator B genau diese Austauschbarkeit bei seiner Definition der Menstruationsformen zugrunde legte, unterscheidet er im weiteren Verlauf des Textes die Menstruations- von der Hämorrhoidalblutung, zum einen bezüglich ihrer Ursache, der Melancholie, zum anderen im Hinblick auf ihre Lokalisierung:

„Melancholic males generate a good deal of black bile which is directed to the spleen, and then to the spine. From there it descends to other veins located around the last intestine which are called hemorrhoids. After these veins are filled they are purged of the bile by this flow, which, if it is moderate, is very beneficial. This is found in Jews more than in others,

397 Ebenda, 71; Original: „Item nota quod secundum aliquos menstruum dicitur esse in trina dif-ferentia. Primo modo menstruum naturale sicut menstruum mulierum. Secundo modo super-naturale sicut in iudeis. Tercio modo contra naturam sicut in quibusdam christianis melancolicis per anum et non per virgam.“ Albertus Magnus: De secretis mulierum cum commento, Wien:

Johann Winterburg, [ca. 1504], url: urn:nbn:de:bvb:12-bsb00005715-8 (besucht am 27. 02. 2019), Capitulum tercium, ohne Zählung.

398 Johnson: The Myth of Jewish Male Menses (wie Anm. 103), 288.

for their natures are more melancholic, although it is said that they have this flow because of a miracle of God, and there is no doubt that this is true.“399

Während Kommentator B, andere Meinungen referierend, secundum aliquos, die jüdi-sche Menstruation im ersten Zitat allein der metaphysijüdi-schen Ebene zuwies, ordnet er sie im zweiten Zitat der dritten Menstruationsform bei. Zunächst führt er detailliert aus, wie es bei melancholischen Männern zu Hämorrhoiden kommt bzw. welchen Weg das Blut nimmt, das durch ein Übermaß an schwarzer Gallenfüssigkeit ent-stehe. In diesem Zusammenhang betont der Kommentator die Nützlichkeit dieser Blutung, solange sie in Maßen erfolge, und spricht von einer Reinigung, purgant per talem fluxum. Diese beiden Aspekte, Reinigung und Nutzen in Maßen, verknüp-fen die Hämorrhoidalblutungen erneut mit der Menstruation. Zum Abschluss fügt Kommentator B an, dass die Juden von Natur aus, ad naturam, zur Melancholie und folglich zu Hämorrhoiden neigen würden. Einen Grund gibt er nicht an, stattdes-sen verweist er, wiederum andere referierend, dicatur, auf die übernatürliche Dimen-sion des Blutflusses als göttliches Wunder, miraculum dei. Zudem betont er, dass der Wahrheitsgehalt dieser Aussage nicht zu bezweifeln sei.

Sobald Kommentator B auf den jüdischen Blutfluss anspielt, führt er Referenzen an, auch wenn er diese nicht weiter benennt. Da in beiden Fällen der jüdische Blut-fluss einen theologisch-metaphysischen Ursprung erhält, der ihn der medizinischen Sphäre enthebt, für die sich der Kommentator zuständig fühlt, könnte hierin die Ursache für seine Verweise auf andere durch Umschreibungen wie secundum aliquos und dicatur liegen. Auch die widersprüchliche Zuschreibung des jüdischen Blutflusses – zunächst allein als übernatürliches Phänomen definiert und später mit dem drit-ten Aspekt, der Melancholie, verknüpft – deutet darauf hin, dass zwei Erklärungs-modelle des jüdischen Blutflusses, der theologische und der medizinische, an dieser Stelle aufeinanderprallen und sich nicht ganz miteinander vereinbaren lassen. Somit kommt es zu einer Doppelbelegung des Phänomens der „ jüdischen“ Menstruation, das medizinisch als Hämorrhoidalblutung, hervorgerufen durch eine melancholische Natur, und theologisch als göttliches Wunder definiert wurde.

399 Lemay: A Translation of Pseudo-Albertus’s ‚De Secretis Mulierum‘ with Commentaries (wie Anm. 396), 74; „Item nota quod in viris melancolicis generatur multum de ipsa melanconia quae [quod?] dirigitur ad splen et de splene ad spinas dorsi a quibus descendit ad alias venas existentes circa ultimum intestinum quae vene vocantur emoroides quodque tales vene replentur tunc ipsi melanconici purgantur per talem fluxum et ille fluxus multum prodest eis si est temperatus. Et ille idem fluxus reperitur in iudeis ad naturam magis quam in aliis quia plurimum melanconicam declinat licet tamen coiter dicatur quod habent per miraculum dei de quo non est dubitandum quin sit verum.“ Albertus Magnus: De secretis mulierum cum commento (wie Anm. 397), Capitulum tercium, ohne Zählung.

Auch das Traktat Omnes homines, das nach seinen einleitenden Worten benannt vermutlich Anfang des 14. Jahrhunderts400 verfasst wurde und mit der medizinischen Schule von Salerno401 in Verbindung gebracht wird, referiert zur Erklärung des jüdi-schen Blutflusses sowohl die theologische als auch eine detaillierte medizinische Argumentation. Das Traktat zählt zu den Problemata, die fälschlicherweise Aristoteles zugeschrieben wurden und in denen, basierend auf einem Frage-Antwort-Schema, verschiedene Wissensgebiete abgehandelt werden. Der Fragenkomplex, der unter dem Initium Omnes homines zusammengefasst wurde, behandelt vorwiegend naturphilo-sophische und medizinische Probleme. Auch im 16. und 17. Jahrhundert wurde das Werk immer wieder aufgelegt und frühzeitig ins Deutsche und Englische übersetzt.

Der Herausgeber einer kommentierten Ausgabe des Omnes homines-Traktats Robert Levi Lind erwähnt für die zwei Jahrhunderte 25 eigenständige Ausgaben402 und betont die Bedeutung der pseudo-aristotelischen Problemata für die frühen Anatomen vor der Ära des Andreas Vesal:

„Since the pseudo-Aristotelian Problems were edited and translated by a series of fifteenth and sixteenth century scholars from Pietro d’Albano (1482) to Giorgio Valla and Theodorus Gaza (1505) the activity thus represented falls within the pre-Vesalian period and must be taken into account as part of the material upon which the anatomists of that period could draw.“403 Die Frage nach dem jüdischen Blutfluss wird im Rahmen der Frage404 gestellt, ob gene-rell alle Männer unter Hämorrhoidalblutungen leiden würden. Im Traktat wird diese Annahme verneint und die Krankheit auf Männer beschränkt, die zur Melancholie neigen würden. Die Hämorrhoiden werden unter Verweis auf das monatliche Auf-treten der Blutungen mit der weiblichen Menstruation verknüpft, jedoch ohne effemi-nierende Assoziationen anzufügen. Die Hämorrhoidalblutungen werden sogar positiv als Schutz vor Krankheiten wie beispielsweise Lepra gewertet. Anknüpfend an diese erste Frage schließt sich die zweite an, ob Juden unterschiedslos unter diesem Blutfluss leiden würden, Quare Judei patiuntur indifferenter hunc fluxum.405 Zunächst werden die theologischen Argumente angeführt, indem der Autor die beiden klassischen Bibel-stellen – Mt 27,25 und Ps 78,66 – zitiert. Im Anschluss konzentriert er sich jedoch auf zwei, wie er betont, natürliche Gründe, die zu den Hämorrhoidalblutungen führen könnten. Erstens führt er die jüdischen Ernährungsgewohnheiten an und erklärt:

400 Vgl. Biller: Proto-racial Thought in Medieval Science (wie Anm. 374), 172.

401 Suzanne Conklin Akbari: Idols in the East. European Representations of Islam and the Orient, 1100–1450, Ithaca 2009, 148.

402 Levi Robert Lind (Hrsg.): Problemata Varia Anatomica: MS 1165. The University of Bologna, Lawrence 1968, 1.

403 Ebenda, 2.

404 Ebenda, 38.

405 Ebenda, 38.

„Anders und natürlicher wird geantwortet, dass sich die Juden von phlegmatischen und kalten Speisen ernähren, weil viele gute Fleischsorten ihnen nach ihrem Gesetz verboten sind; aus diesen Fleischsorten [die sie essen dürfen] entsteht melancholisches Blut, das durch den Hämorrhoidalfluss expurgiert wird.“406

Wie schon Albertus Magnus, der auf die grobe und salzige Nahrung verwies, führt auch der Autor des Omnes homines-Traktats das übermäßig melancholische Blut und die daraus resultierenden Hämorrhoiden auf eine falsche Ernährung zurück, aller-dings diesmal auf phlegmatische und kalte Nahrung. Dass diese ungesunden Ernäh-rungsgewohnheiten keineswegs selbst verschuldet, sondern religiös bedingt seien, zeigt der Autor zusätzlich auf. Suzanne Conklin Akbari untersucht die Textpassage übrigens im Kontext der mittelalterlichen Klimatheorien und fragt sich, wie sich der als unverändert postulierte jüdische Körper mit der Idee der durch die Klimazonen beeinflussten Körper vereinbaren lässt:

„The case of the Jews is the logical extension of this relationship between climate and food:

[…] the Jews maintain their habitual diet. By doing so, they set themselves apart from those who are native to the lands that the Jews enter into, not just in a social or cultural sense, but physiologically as well. What they eat makes them what they are.“407

Der Gedanke eines Körpers in der Diaspora, diasporic body408, der sein ursprüngliches Klima sozusagen über die Nahrung perpetuiert, spielt in diesem Zusammenhang folg-lich zusätzfolg-lich eine Rolle. Zweitens wird als Grund für den angenommenen jüdischen Blutfluss ein bestimmtes Verhaltensmuster genannt, das auch zu einer Produktion von melancholischem Blut beitrage:

„Aber da sie weder arbeitend tätig noch in Bewegung sind noch Umgang mit Menschen haben und da sie sich noch dazu in großer Furcht befinden, dass wir uns für das Leid Christi, unseres Erlösers, rächen mögen. All das verursacht Kälte und verhindert die Verdauung.

Deshalb entsteht in ihnen viel melancholisches Blut, das von ihnen selbst monatlich aus-gestoßen bzw. expurgiert wird.“409

406 „Aliter respondetur et magis naturaliter quia Judei uescuntur cibariis flegmaticis et frigidis quia multe carnes bone in lege eorum sunt prohibite eis ex quibus carnibus generatur sanguis melan-conicus qui per fluxum emoroidarum expurgatur“ (16v). Ebenda, 39.

407 Akbari: Idols in the East (wie Anm. 401), 150.

408 Ebenda, 140. Im dritten Kapitel ihres Buches findet sich hierzu das Unterkapitel Climate and the Diasporic Body, 140–154.

409 „Sed quia non sunt in labore neque in motu neque in conuersatione hominum et etiam quia sunt in magno timore quia nos ulciscantur [ulciscamur] passionem Christi redemptoris nostri, hec omnia faciunt frigiditatem et impediunt digestionem. Ideo in eis generatur multus sanguis melanconicus

Indirekt verweist der Autor auf den prekären gesellschaftlichen Status der Juden, wenn er ihnen ein zurückgezogenes Leben – ohne menschlichen Umgang, d. h. in erster Linie ohne christlichen – und die permanente Angst vor christlichen Rache-aktionen zuschreibt. Das spezielle Verhaltensmuster, das die Melancholie und damit die Hämorrhoiden hervorruft, ist folglich durch die soziale Sonderstellung der Juden bedingt. Auch hier fällt die Idee eines jüdischen Körpers in der Diaspora ins Gewicht.

Des Weiteren ist noch die bereits eingangs genannte quodlibet-Diskussion410 an der Fakultät der Künste der Pariser Sorbonne zu erwähnen, die Peter Biller in seinem Aufsatz Views of Jews from Paris around 1300 analysiert und im lateinischen Original ediert hat. Auch bei dieser Diskussion, die um 1300 an der Sorbonne geführt wurde, stellt sich die Frage, ob die Juden generell unter Blutfluss leiden würden: „Conse-quenter queritur utrum iudei paciuntur fluxum.“411 Zunächst wird diese Annahme bestritten und als Grundsatz festgehalten, dass Christen und einige Juden die gleiche Komplexion aufweisen würden. Dann jedoch wird gegen diese Feststellung der Wert der Erfahrung ausgespielt, der das Gegenteil nahelege, nämlich dass die Mehrheit der Juden, die als illi leccatores, jene Wüstlinge, bezeichnet werden, einen Blutfluss hätten. Im nächsten Absatz wird der Blutfluss dann genauer als Hämorrhoidalblu-tung definiert und die medizinischen Gründe für diese angeführt. Zunächst wird die Blutung auf die Melancholie zurückgeführt und diese wird wie schon bei den beiden vorangegangenen Schriften, De secretis mulierum und Omnes homines, mit einer falschen Ernährungsweise begründet:

„I prove this, because they use roast foods and not boiled or cooked [cooked here means in a way other than roasting or frying PB], and these are difficult to digest […]. Item, they have roast fat, such as oil, etc […]. Another cause is that digestion with wine... [here a blank in the manuscript PB] – therefore those who do not drink wine have many super-fluous not digested humours.“412

In diesem Fall werden weniger die Nahrungsmittel an sich oder die Würzung als die falsche Zubereitung, das Braten und die Verwendung von Öl, bemängelt. Zudem werden hier neben den Speisen auch die Getränke genannt. So führe der fehlende

qui in ipsis tempore menstruali expellitur seu expurgatur“ (17r). Lind (Hrsg.): Problemata Varia Anatomica: MS 1165 (wie Anm. 402), 39.

410 Vgl. hierzu das Unterkapitel 4.1.2 Hindernisse.

411 Biller: Views of Jews from Paris around 1300 (wie Anm. 325), 205.

412 Übersetzung und Kommentare von Peter Biller, Ebenda, 192–193; Original: „Probo [die melan-cholische Neigung der Juden] quia utuntur alimentis assatis et non elixatis non coctis, et hec sunt difficile digestibilia […]. Item, utuntur assarem [recte assatam; Anmerkung Biller: PB] pinguedi-nem scilicet in oleo etc. […]. Alia causa huius est quia digestio per vinum [per vinum with erasure line in MS PB] quod [blank in MS PB], ergo illi qui non habent bibere vinum habent multos f [sic PB] superfluos humores indigestos.“ Ebenda, 206.

Weinkonsum der Juden zu überschüssigen, nicht verdauten Körpersäften, die bekann-termaßen die Melancholie befördern würden. Zudem werden in dem Text drei wei-tere Symptome angeführt, die laut Hippokrates der Melancholie zuzuschreiben seien:

„[They are melancholics PB] because the melancholic shuns dwelling and assembling others and likes cut off or solitary places. However, Jews naturally withdraw themselves from society and from being connected with others, as is patent, therefore they are melancholics.

Item, they are pallid, therefore they are of melancholic complexion. Item they are naturally timid, and these three are the contingent properties of melancholics, as Hippocrates says.“413 Neben den beiden bereits im Omnes homines-Traktat vertretenen Symptomen, der Zurückgezogenheit und der Angst, kommt nun noch die Blässe hinzu. Die strikte Trennung der gesellschaftlichen Sphären, die den Juden und Christen im Mittelalter durch entsprechende Verbote auferlegt wurde, wie im Kapitel 2.2 Das mittelalterliche Verbot jüdischer Ammen beschrieben, wird den Juden körperlich ein- und

zugeschrie-ben. Das Leben im gesellschaftlichen Abseits gilt nicht als vorgeschriebene Norm, sondern wird zur jüdischen „Natur“. Das Attribut naturaliter verdeutlicht dies ein-drucksvoll. Der Körper in der Diaspora wird zu einem „natürlicherweise“ melan-cholischen Körper deklariert. Die Betonung der Natürlichkeit hängt an dieser Stelle elementar mit dem Versuch einer Abgrenzung zur theologischen Sphäre zusammen.

Bemerkenswerterweise wird in der quodlibet-Diskussion zum jüdischen Blutfluss nicht auf theologische Erklärungen verwiesen, sondern ausschließlich naturphilo-sophisch und medizinisch argumentiert. Damit grenzte sich die Fakultät der Künste von der Theologischen Fakultät an der Pariser Sorbonne klar ab und definierte ihren Zuständigkeitsbereich. Die Zuschreibung „naturaliter“ muss also im Zusammen-hang und vor dem Hintergrund des Vorwurfs des jüdischen Blutflusses als göttliche Strafe betrachtet werden. „Natürlich“ wird hier also als Ausschlusskriterium für die metaphysische Erklärung genutzt. Dies findet sich bereits im Omnes homines-Traktat, das nach der Zitierung der Bibelstellen darauf verweist, sich nun den natürlicheren Erklärungen – aliter respondetur et magis naturaliter – widmen zu wollen. Peter Bil-ler kommt übrigens beim Vergleich der beiden Textpassagen zu folgendem Schluss:

„Though the precise interrelationship of these texts may remain unclear, one aspect of their authors’ view is clear: sharp awareness of seeing Jews ,according to nature‘. While the Parisian master does this by excluding theology and insisting on explanations ,according

413 Übersetzung und Kommentare stammen von Biller. Ebenda, 192; Original: „Quia melancolicus fugit cohabitacionem et congregacionem et diligit loca secretaria vel solitaria; sed iudei naturali-ter retrahunt se a societate et coniuncti [possibly recte coniungi PB] cum aliis ut patet, ergo sunt melancolici. Item, pallidi sunt, ergo sunt melancolice complexionis. Item, timidi sunt naturaliter et hec tria sunt [supra ? MS PB] accidencia propria melancolicorum, ut dicit Ipocras.“ Ebenda, 206.

to nature‘, the author of Omnes homines proceeds differently, including theology, but sta-ting that one must answer both, and separately, ,theologically’ and ,according to nature‘.“414 Trotz aller Betonung der Natur ist hiermit jedoch keine unabänderliche Situation

beschrieben. Dass die Eigenschaften – Isolation, Angst und Blässe –, die dem jüdi-schen Körper durch die Natur eingeschrieben seien, tatsächlich eher als relative Zuschreibungen wahrgenommen wurden, zeigt sich daran, dass der Text diese drei als Akzidentien, accidencia, bezeichnet, die der Melancholie zu eigen seien. Damit verweist der Autor auf das philosophische Gegensatzpaar Substanz und Akzidenz.415 Während die Substanz das definiert, was dem Wesen unabänderlich zugehörig ist

bzw. was sein Sein essentiell ausmacht, charakterisiert die Akzidenz das zufällig Hinzukommende. Somit sind Isolation, Angst und Blässe als Akzidentien bloß hin-zukommende Eigenschaften und folglich veränderbar.

Den naturphilosophisch und medizinisch orientierten Texten ist somit gemein-sam, dass auch sie einen jüdischen Blutfluss annehmen, diesen allerdings zum einen als Hämorrhoidenleiden diagnostizieren und ihn folglich zum anderen der Melan-cholie zuordnen. Dadurch rücken auch die Symptome der MelanMelan-cholie stärker in den Vordergrund, da nur sie die Diagnose einer natürlichen Ursache, nämlich eines melancholischen Grundzustands der Juden, bestätigen können. Dass diese Argumen-tation in der Frühen Neuzeit auch von Befürwortern der limpieza de sangre-Ideologie genutzt wurde, zeigt sich an der Schrift Lilium medicinae des Mediziners Bernhard von Gordon († ca. 1320), der um 1300 an der Universität von Montpellier lehrte. Eine spanischsprachige Ausgabe des medizinischen Traktats kam bereits 1495 auf den Markt, und die Autoren der Apologien zur limpieza de sangre nannten ihn gerne als Referenz, wenn sie das Argument der „jüdisch-männlichen“ Menstruation mit Blick auf die Conversos ins Feld führten. Die Passage aus dem medizinischen Überblicks-werk Bernhards von Gordon liefert keine neuen Argumente, aber durchaus eine neue Perspektive. Da sie für die Apologeten der limpieza de sangre eine wichtige Grundlage darstellte, soll sie hier in ihrer Gänze und in der spanischen Version zitiert werden:

„Sechstens, die Juden leiden im Allgemeinen wegen drei Ursachen an Hämorrhoiden: ers-tens, weil sie sich immer in einem Zustand des Müßiggangs befinden und dies in ihnen melancholisches Blut verursacht; zweitens, weil sie sich fortwährend in Furcht und Angst

„Sechstens, die Juden leiden im Allgemeinen wegen drei Ursachen an Hämorrhoiden: ers-tens, weil sie sich immer in einem Zustand des Müßiggangs befinden und dies in ihnen melancholisches Blut verursacht; zweitens, weil sie sich fortwährend in Furcht und Angst

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