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Erziehungshelfer Ritalin ® ? Zur Problematik einer Diagnose

Michael Götze-Ohlrich

1. Wir kennen sie alle, die Kinder, die stören, weil sie rumzappeln, weil sie nicht richtig zuhö-ren, weil sie immer wieder Streit anfangen. Vor unserem geistigenAuge tauchen Gesichter auf und Erinnerungen verzweifelter, auch ergeb-nisloser Versuche, dieser Störenfriede Herr zu werden. Früher nannte man sie Flegel oder Rüpel, dann nannte man sie verhaltensgestört, psychisch labil, Problemschüler usw.

Ohne Zweifel, es gibt sie, die „schwierigen Kin-der“. Kinder, bei denen häufig, besser gesagt, immer häufiger die Diagnose ADS samkeitsdefizitsyndrom) oder ADHS (Aufmerk-samkeitsdefizit – Hyperaktivität – Syndrom) gestellt wird, Kinder, denen nach dieser Diag-nose Ritalin®1verordnet wird. Zurzeit sind es in Deutschland etwa 400.000 Patienten, vor allem Jungen. Das ist etwa die zehnfache Anzahl im Vergleich zu vor zehn Jahren. Der Verbrauch von Ritalin®ist allein zwischen 1997 und 2000 um 270 Prozent gestiegen. Schät-zungen sprechen von einer Prävalenzrate (Erkrankungshäufigkeit) von 2 bis 6 Prozent der 6- bis 18-jährigen Kinder. Langzeitstudien lassen Schlimmes befürchten: Kinder mit hyperkinetischem Syndrom würden in ihrer

Entwicklung erheblich gefährdet sein, bei einem Drittel käme es zum Schulabbruch, bei fast der Hälfte zu antisozialen Aktivitäten, drei Viertel zeigten als Erwachsene ungenügende Leistungen am Arbeitsplatz.

Kinderpsychiater beklagen indes, dass die Diagnose ADS bzw. ADHS vorschnell bei allen möglichen kindlichen Schwierigkeiten im Vor-und GrVor-undschulalter gestellt wird. Schauen wir uns die Diagnose etwas genauer an. Die ist nämlich so einfach nicht zu stellen. Das liegt zum einen daran, dass über die Ursachen keine Klarheit besteht. Es gibt keinen „Erreger“, wie zum Beispiel bei der Tuberkulose, der, im Körper nachgewiesen, zu der eindeutigen Diagnose führt. Und zum anderen liegt es daran, dass es keine eindeutigen Kriterien gibt, wann ein Verhalten normal, wann es auffällig, wann es krankhaft ist. Das ist auch bei anderen Krankheitsbildern so, denken wir an Bluthoch-druck oder Adipositas (Fettsucht), auch hier bestehen nur Konventionen, also Verabredun-gen zwischen den Fachleuten, die z.B. saVerabredun-gen, bei einem Bodymaßindex (BMI) von über 25 handele es sich um Fettsucht. Genau genom-men ist das ein willkürliches Kriterium. Und zum dritten gibt es zwei unterschiedliche Krite-rienkataloge, das ICD – 10 und DSM – IV.

In dem letztgenannten Kriterienkatalog2, der

1 Dem allgemeinen Sprachgebrauch folgend wird von Ritalin® gesprochen, wohl wissend, dass eine Vielzahl von Methylphenidat-Präparaten bei der Behandlung von ADHS eingesetzt wird.

2 Diagnostic and Statistical Manual of the American Psychiatric Association, 1994

hier zitiert werden soll, gibt es sechs Diagnose-bereiche. In den Bereichen A1 und A2 müssen jeweils sechs (oder mehr) der aufgeführten Symptome während der letzten sechs Monate in einem mit dem Entwicklungsstand des Kin-des nicht zu vereinbarenden und unangemes-senen Ausmaß vorhanden gewesen sein.

A1Kriterien Unaufmerksamkeit nach DSM - IV:

• beachtet häufig Einzelheiten nicht oder macht Flüchtigkeitsfehler bei den Schular-beiten, bei der Arbeit oder bei anderen Tätigkeiten

• hat oft Schwierigkeiten, längere Zeit die Aufmerksamkeit bei Aufgaben oder beim Spielen aufrechtzuerhalten

• scheint häufig nicht zuzuhören, wenn andere sie/ihn ansprechen

• führt häufig Anweisungen anderer nicht vollständig durch und kann Schularbeiten, andere Arbeiten oder Pflichten am Arbeits-platz nicht zu Ende bringen (nicht aufgrund oppositionellen Verhaltens oder Verständi-gungsschwierigkeiten)

• hat häufig Schwierigkeiten, Aufgaben und Aktivitäten zu organisieren

• vermeidet häufig, hat eine Abneigung gegen oder beschäftigt sich häufig nur widerwillig mit Aufgaben, die länger dau-ernde geistige Anstrengungen erfordern (wie Mitarbeit im Unterricht oder Hausauf-gaben)

• verliert häufig Gegenstände, die für Aufga-ben oder Aktivitäten Aufga-benötigt werden (z.B.

Spielsachen, Hausaufgabenhefte, Stifte,

Bücher oder Werkzeug)

• lässt sich oft durch äußere Reize leicht ablenken

• ist bei Alltagstätigkeiten häufig vergesslich.

A2Kriterien Hyperaktivität / Impulsivität nach DSM-IV:

• zappelt häufig mit Händen oder Füßen oder rutscht auf dem Stuhl herum

• steht in der Klasse oder in anderen Situa-tionen, in denen Sitzenbleiben erwartet wird, häufig auf

• läuft herum oder klettert exzessiv in Situa-tionen, in denen dies unpassend ist (bei Jugendlichen oder Erwachsenen kann dies auf ein subjektives Unruhegefühl beschränkt bleiben)

• hat häufig Schwierigkeiten, ruhig zu spielen oder sich mit Freizeitaktivitäten ruhig zu beschäftigen

• ist häufig auf „Achse” oder handelt oftmals, als wäre sie/er “getrieben”

• redet häufig übermäßig viel

• platzt häufig mit den Antworten heraus, bevor die Frage zu Ende gestellt ist

• kann nur schwer warten, bis sie/er an der Reihe ist

• unterbricht und stört andere häufig (Dazwi-schen-Reden).

BEinige Symptome der Hyperaktivität-Impulsivi-tät oder Unaufmerksamkeit, die Beeinträchti-gungen verursachen, treten bereits vor dem Alter von sieben Jahren auf.

72 ERZIEHUNGSHELFER RITALIN®?

CBeeinträchtigungen durch diese Symptome zeigen sich in zwei oder mehr Bereichen (z.B.

in der Schule bzw. am Arbeitsplatz und zu Hause).

DEs müssen deutliche Hinweise auf klinisch bedeutsame Beeinträchtigungen in sozialen, schulischen oder beruflichen Funktionsberei-chen vorhanden sein.

EDie Symptome treten nicht ausschließlich im Verlauf einer so genannten tief greifenden Ent-wicklungsstörung, einer Schizophrenie oder einer anderen psychotischen Störung auf und können auch nicht durch eine andere psy-chische Störung besser erklärt werden (z.B.

Affektive Störung, Angststörung, Dissoziative Störung oder eine Persönlichkeitsstörung).

Für eine Diagnose ADS /ADHS nach DSM - IV müssen entwederA1 und/oderA2 sowie B,C,D und E zutreffen.

Schaut man sich die Diagnosekriterien an, scheint das Hauptproblem der Kinder darin zu bestehen, nicht in der Lage zu sein, Grundvo-raussetzungen erfüllen zu können, um den schulischen oder anderen institutionalisierten Anforderungen zu genügen. Anders gesagt, die Anforderungen der Institutionen (also von Kita und Schule) definieren, wie ein „normales“

Kind zu sein hat, das sich durch optimale Steuerung auszeichnet. Verändern wir unsere Anforderungen als Gesellschaft, haben wir plötzlich mehr gesunde oder mehr kranke Kin-der. Diagnosen sind immer gesellschaftlich

determiniert und von unserem Menschenbild geprägt.

Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass die Aufmerksamkeitsstörungen erst zu dem Zeitpunkt in den Fokus der Forscher geriet als mit dem Industriezeitalter fremdbe-stimmte Rhythmen das Leben normierten.

Nehmen wir doch statt der Pathologisierung des Verhaltens die epidemische Zunahme kindlicher Störungen als Signal kindlicher Nöte in der modernen Gesellschaft ernst!

Drehen wir einmal als Gedankenexperiment die Diagnosekriterien um: Ist ein Kind tatsäch-lich krank, wenn es Anweisungen anderer häu-fig nicht vollständig durchführt, wenn es sich oft nur widerwillig mit Aufgaben beschäftigt, die länger dauernde geistige Aktivitäten erfordern?

Beispielhaft sind weitere Kriterien der Gruppen A1 und A2 umformuliert:

Ein Kind ist gesund, wenn es

• fast immer Einzelheiten beachtet und sel-ten Flüchtigkeitsfehler bei den Schularbei-ten macht

• fast immer zuhört, wenn andere es

anspre-• sich selten durch äußere Reize ablenkenchen lässt

• leicht warten kann, bis es an der Reihe ist

• selten andere durch Dazwischenreden unterbricht

• selten übermäßig viel redet.

Schlussfolgerung:

Wenn ein Kind mit sechs Jahren diese Kompe-tenzen hat, ist es normal. Stimmt das?

Vielleicht kommt der Einwand: Das muss das Kind doch erst alles lernen! Viele Erwachsene können das auch nicht! Hoffentlich kommt die-ser Einwand.

Einwand Nummer 1:

Wenn Kinder etwas noch nicht können, sind sie nicht krank, sondern sie benötigen einen begleiteten Lernprozess, der von dem sozialen Umfeld jahrelange Geduld und Verantwor-tungsübernahme verlangt.

2. Der Diagnose ADS/ADHS liegt der Ge-danke zugrunde, abweichendes Sozialverhal-ten sei durch hirnorganische oder neurophysio-logische Abweichungen verursacht. Diese Idee ist nicht so neu, im Grunde wurde nur das Eti-kett für ein altbekanntes Phänomen gewech-selt. In den achtziger Jahren wurde sehr gern von „minimaler cerebraler Dysfunktion“ (MCD) gesprochen. In der DDR gab es das „hirnorga-nisch – psychische Achsensyndrom“ (GÖLL-NITZ). Später sprach man vom „frühkindlichen psychoorganischem Syndrom“, von „Teilleis-tungsstörungen“ bzw. Teilleistungsschwächen.

Die Diagnosen verloren jeweils nach ein paar Jahren an Bedeutung, zum einen weil der Nachweis einheitlicher Ursachen für die zu Syndromen zusammengefassten Symptome misslang und zum anderen weil empirische Belege zu biologischen Auffälligkeiten nicht erbracht werden konnten. Zwar haben sich die Bezeichnungen für die Krankheit „abweichen-des Sozialverhalten“ immer wieder geändert, geblieben ist aber die Sehnsucht, biologische Ursachen für problematisches soziales Den-ken, Handeln und Fühlen zu finden. Es ist

wirk-lich frappierend, wie sich bis in einzelne Formu-lierungen die Diagnosekriterien gehalten haben, auch wenn heute nicht mehr vom Ach-sensyndrom, sondern von ADHS gesprochen wird.

Andererseits wird in der Fachliteratur immer wieder auf die biografischen und kulturellen Besonderheiten verwiesen und somit die Multi-kausalität menschlichen Verhaltens anerkannt, wohl auch deswegen, weil es bislang kein wis-senschaftliches Verfahren gibt, mit dem ADHS verursachende Hirnstoffwechselstörungen zweifelsfrei erkannt, geschweige denn diese organischen Störungen spezifischen Verhal-tensabweichungen zugeordnet werden kön-nen.„Aufmerksamkeitsdefizite“ und „Hyperaktivität“

sind für sich genommen keine Krankheiten, sondern Symptome, wobei die Grenze, wie bereits gesagt, sehr fließend ist zwischen nor-maler und gestörterAktivität bzw.Aufmerksam-keit. Auch Kinder, denen eine Störung der Auf-merksamkeit attestiert wird, können sich sehr wohl konzentrieren, zum Beispiel bei einem Fußballspiel oder beim Budenbauen. Die kon-zentrative Aufmerksamkeit ist generell von der Attraktivität der jeweiligen Situation, von den eigenen Befindlichkeiten, z.B. Müdigkeit, oder anderen Rahmenbedingungen (z. B. Sorgen) abhängig.

Die Kinder laufen Gefahr, ein Etikett verpasst zu bekommen, mit dem unzulässig komplexe psychische und soziale Probleme vereinfacht werden. Während in den letzten Jahrzehnten in fast allen medizinischen Fachrichtungen beim Verständnis von Krankheitsentstehung und -entwicklung ein biopsychosoziales

Erklärungs-74 ERZIEHUNGSHELFER RITALIN®?

modell angewendet wird, wird bei Kindern mit Aufmerksamkeits- und Aktivitätsbesonderhei-ten ein im Grunde biologistischer Ansatz ver-folgt. Natürlich ist es denkbar, dass die Symp-tome des ADHS mit durch Psychopharmaka auszugleichenden hirnorganischen Störungen zusammenhängen, wir müssen jedoch immer auch die familiären und sozialen Ressourcen und kritischen Bereiche betrachten.

Die meisten Forscher des biologischen Erklä-rungsmodells nehmen an, dass es den betrof-fenen Kindern in bestimmten Hirnregionen an Dopamin mangele, einem Botenstoff im Ner-vengewebe, der an der Steuerung von Motiva-tion, Aufmerksamkeit und Bewegung beteiligt ist. Weiterhin wird vermutet, dass Ritalin®die Dopamin-Konzentration im Raum zwischen den Nervenzellen, also den Synapsen erhöht und damit die Signalübertragung verbessert.

Andere Forscher wiederum behaupten, dass nicht ein Dopaminmangel, sondern genau im Gegenteil ein Überangebot die Übererregbar-keit bei Kindern verursacht. HÜTHER z.B.

meint, dass eine zu gut funktionierende Sig-nalübertragung mittels Dopamin die Überer-regbarkeit der Kinder verursache. Die Störung des Dopamin-Haushalts wird durch die Wirk-samkeit der verabreichten Medikamente begründet. Diese Argumentation ist an Schlichtheit kaum zu überbieten. Sagen wir auch, dass ein Patient mit Schlafstörungen einen Valiummangel habe, weil dieses Medika-ment helfe? Bei einer Diabetikerbehandlung sagt man, die Insulingaben helfen, einen

Man-gel auszugleichen. Ähnlich sei es bei ADHS-Kindern, die Ritalin®benötigen.Allerdings hinkt der Vergleich, denn beim Diabetiker können wir labortechnisch Insulin- und Zuckerwerte bestimmen, während bei ADHS Hirnstoffwech-selstörungen lediglich vermutet, aber objektiv nicht nachgewiesen werden können.

Bei den Ursachen wird sowohl auf den geneti-schen Einfluss (60 bis 80 %) verwiesen als auch auf erworbene biologische Faktoren (durch Alkohol, Nikotin oder Schwanger-schaftskomplikationen). Allerdings wird der genetische Einfluss ausschließlich durch fami-liäre Häufungen und durch den hohen Anteil hyperkinetischer Jungen begründet.3Vielleicht werden Jungen lediglich häufiger einem Arzt vorgestellt, weil sie auffälliger stören und Mäd-chen auf Stress möglicherweise eher mitAktivi-tätseinschränkungen reagieren („braves Mäd-chen“)?

Genetisch bedingte Erkrankungen sind in ihrer Häufigkeit relativ stabil. Bei geringeren Gebur-tenraten müsste also die absolute Häufigkeit sinken. Fakt ist aber, dass die Ritalin®- Gaben explosionsartig steigen, was bedeutet, dass entweder eine genetische Disposition nicht infrage kommt oder in großem Umfang Kinder symptombezogen, ohne gesicherte Diagnose medikamentiert werden, um erwünschtes Ver-halten herzustellen.

Wenn in einer menschheitsgeschichtlich außerordentlich kurzen Zeitspanne Störungen plötzlich massenweise auftreten, die vorher 3 Familiäre Häufungen sind auch bei Vorlieben für Fernsehsendungen festzustellen oder bei der Intensität der Zahnpflege, d.h., in Familien werden immer auch Verhaltensstrukturen und Problemlösungsstrategien tra-diert, die nicht genetisch begründet werden können.

selten waren, spricht das vor allem für eine Ver-änderung der Umweltbedingungen. ADHS ist in einer Zeitspanne von nur 10 bis 15 Jahren um ein oder zwei Zehnerpotenzen häufiger diagnostiziert worden. Das kann nur als Hin-weis auf den Einfluss von Umweltbedingungen auf die Entwicklung von Kindern oder als Indiz für massenhafte Fehldiagnosen gewertet wer-den.

Ohne über mögliche Folgeerkrankungen zu spekulieren4, müssen wir uns dem Problem stellen, dass wir nichts bzw. sehr wenig darü-ber wissen, wie sich ein kindliches Gehirn, das durch Umweltreize und Erfahrungen in beson-derer Weise formbar ist, entwickeln kann und welche Auswirkungen die Langzeitgabe von Psychopharmaka hat.

Halten wir fest:

1. Es gibt keine wissenschaftlichen Belege für eine genetische Verursachung der Symptomatik.

2. Es gibt keine mit naturwissenschaftlichen Methoden erbrachte objektive Unterschei-dung zwischen einem hirnstoffwechselge-störten und einem nicht hirnstoffwechsel-gestörten Kind. Eine biochemische Stö-rung konnte bisher nicht nachgewiesen werden.

Einwand Nummer 2:

Das biologistische Krankheitsverständnis der Verhaltensbesonderheit ADHS ist wissen-schaftshistorisch ein Rückschritt, weil Verhal-ten und damit menschliches Fühlen, Denken

und Handeln auf eine hirnorganische Funktion reduziert werden. Das „Hauptvergehen“ der betroffenen Kinder scheint darin zu bestehen, nicht in der Lage zu sein, die Grundbedingun-gen zur adäquaten Aneignung institutionell geforderten Lehrstoffs zu erfüllen.

Psychisches Geschehen (Aufmerksamkeit, Hyperaktivität) lässt sich nicht durch physika-lisch-chemische Funktionsabläufe be-schreiben. Die einseitige somatische Sicht-und Erklärungsweise verdrängen andere wis-senschaftliche Erklärungsansätze (entwick-lungspsychologische, bindungstheoretische, psychodynamische). Wenn wir von einer kom-plexen sich entwickelnden emotionalen Innen-welt des Kindes ausgehen, wissen wir, dass daraus nicht zwangsläufig linear ein genormtes Verhalten entstehen muss. Kinder haben sowohl ein Anrecht darauf, Fehler in der Ent-wicklung zu machen, als auch ein Anrecht auf ein emotional fürsorgliches, Rahmen setzen-des Umfeld, das Korrekturen ermöglicht.

3. Möglicherweise hängt dieser Wunsch, biolo-gische Ursachen zu finden, mit dem Wunsch zusammen, so genannte schwierige Kinder schnell, effizient und kostengünstig an die Erfordernisse unserer Gesellschaft anzupas-sen. Das ist ein problematisches Anliegen. Als Psychopharmaka vor 50 Jahren die Psychiatrie revolutionierten, sprach man von „chemischen Zwangsjacken“; nicht völlig zu Unrecht, werden doch Verhaltensimpulse ausgebremst und wird das Verhaltensrepertoire der Kranken redu-ziert. Immer, wenn Dritte, in dem Fall der

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4 Sollte Ritalin® hemmende Effekte auf das Dopaminsystem haben, begünstigt es möglicherweise die Entste-hung von Parkinson.

der sind das normalerweise die Eltern, darüber entscheiden, ob jemand mit Medikamenten behandelt wird, wird Macht ausgeübt. Bei ADHS wird Ritalin®als Instrument genutzt, Ver-halten zu verändern. Ich nehme an, dass wir bald darüber diskutieren werden, wie Kinder vor psychopharmakologischer Gewalt geschützt werden können.

Die Wirkung der eingesetzten Psychophar-maka sind für das Kindesalter ungenügend untersucht. Da die meisten Stimulanzien nicht die Psychiater, sondern Haus- und Kinderärzte verschreiben, besteht die Sorge, dass die Diagnostik nicht mit der gebotenen Sorgfalt und Fachkenntnis ausgeführt wird. Manchmal entsteht der Eindruck, als würde die Diagnose ADHS zum Synonym für alle kindlichen Stö-rungen im Vorschul- und Grundschulalter.

Die Wirksamkeitsstudien wurden zum großen Teil durch die Industrie gesponsert. Ob dadurch die Darstellung der Ergebnisse und damit letztlich die Verschreibepraxis beeinflusst wurden, sei dahingestellt.

Die Rahmenbedingungen für Kinder haben sich in den letzten zwanzig, dreißig Jahren enorm verändert, erinnert sei an die steigende Anzahl der Familien, in denen die reale Erzie-hungsverantwortung von den leiblichen Eltern an andere Personen abgetreten wird, an die steigende Anzahl der Einzelkinder, auf denen dann die ungeteilten Erwartungen der Familien lasten, an sinkende Möglichkeiten, durch Gleichaltrige Erfahrungen vermittelt zu bekom-men (Pädagogen weisen jedoch immer wieder auf die Bedeutung von Peergroups in den Lernbiografien hin.) Wir müssen an die verän-derte Bedeutung der Erwerbsarbeit in den

Familien erinnern, an die höhere Mobilität, die immer wieder zu sozialen Brüchen führt, an die Einflüsse von Werbung und Medien, daran, dass die Schule nach wie vor ein Entwicklungs-risiko darstellt, da sie schulgerechte Kinder for-dert, statt eine kindgerechte Schule anzubie-ten, oder wir müssen an Migration und Reiz-überflutung erinnern. Kurzum, Kinder leben in einer Welt, in der ihre Entwicklung von mehr und stärkeren Risiken bedroht ist als vor weni-gen Jahrzehnten. Gleichzeitig ist die Toleranz der Gesellschaft gesunken, Reaktionen auf diese Risiken auszubalancieren. Die Toleranz der Gesellschaft bei abweichendem Verhalten sinkt allein schon dadurch, dass die strukturier-ten Angebote der Umwelt zunehmend unifor-mer werden. Welches Kind im Vorschulalter hat noch die Möglichkeit, ohne Kontrolle der Erwachsenen Erfahrungen zu sammeln. Die Lebensbereiche haben sich auf Kita, Wohnung und Spielplatz reduziert, wo eben auch immer Einordnung und Rücksicht erwartet werden.

Demgegenüber hat die Diskussion in der Pädagogik der letzten zwanzig Jahre dazu geführt, Selbstbildungsprozesse zu stärken, allerdings um den Preis, dass Kinder, die Strukturen benötigen, tendenziell benachteiligt werden.

Unsere gesellschaftlichen Verhaltensnormen sind nicht mehr so sehr auf Schuld und Diszip-lin gegründet wie zwei Generationen zuvor, sondern auf Verantwortung und Initiative. Das Leitbild bzw. der Anspruch auf Selbstverwirkli-chung begünstigt robustes Durchsetzungsver-mögen. Störungen der kindlichen Entwicklung, das sehen wir an dieser kurzen Aufzählung, müssen nicht mit besonderen individuellen

bio-grafischen Entwicklungsbedingungen zusam-menhängen, denn bereits die „normalen“

Lebensbedingungen können schon so ungüns-tig sein, dass Störungen entstehen.

Wird also mithilfe von Tabletten ein soziales Problem der Gesellschaft entsorgt? Werden die Kinder, die besonders sensibel wie Seismo-grafen auf Mängel unserer Gesellschaft hin-weisen, pathologisiert? Sollen Erziehungsmaß-nahmen partiell durch Pillen ersetzt werden?

Wir müssen uns bei der Medikamentierung auch mit möglichen Risiken auseinanderset-zen. Die Reizaufnahme durch Medikamente wird über Monate und Jahre gefiltert. Wie wir-ken sich diese Eingriffe auf die Entwicklungs-prozesse insgesamt aus? Werden möglicher-weise zwar Lernbedingungen durch Ritalin® verbessert, aber wird der Erwerb individueller Bewältigungsstrategien für belastende Situa-tionen behindert?

Darüber hinaus müssen wir mit einem schlei-chenden Einstellungswandel rechnen. Als ers-ter Schritt ist jetzt schon zu beobachten, dass die Hemmschwelle, Kindern Psychopharmaka zu geben, fast völlig gefallen ist. Es wird bereits als Behandlungsfehler angesehen, ADHS-Kin-dern Ritalin®zu verweigern, als wären Psycho-pharmaka notwendig für eine gelingende soziale Anpassung. Wird demnächst die Hal-tung „Erst wenn du Drogen nimmst, bist du nor-mal“ gesellschaftsfähig? Motor jeglicher Bil-dungs- und Bindungsbemühungen bleibt aber der Abgleich emotionaler Befindlichkeiten zwi-schen Pädagogen und Kind, das kann kein Medikament ersetzen.

Pharmakotherapie dient der Behandlung von Krankheiten, nicht der Erzeugung von Wohlbe-finden und Glück. Aber auch „normale“ Kinder haben unter Ritalin® Leistungssteigerungen, was Aufmerksamkeit und Konzentration angeht. Die Verführung ist folglich groß, dem steigenden Anspruch der Gesellschaft auf Ausdauer und Konzentration durch die Gabe von Psychostimulanzien zu entsprechen. Das wäre Doping auf Rezept.

Und wir müssen uns mit einem weiteren gesell-schaftlichen Phänomen auseinandersetzen:

• Kinder haben aus drei Gründen Anspruch

• Kinder haben aus drei Gründen Anspruch